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Laufberichte

Tuond umb Gottzwillen etwas Dapfers!

17.04.11

Von der erneuten Passage beim Start bis zum Zürichhorn wird die Strecke von zahlreichen Zuschauern flankiert. Mein Eindruck ist, dass die Staffeln einen durchaus positiven Einfluss darauf haben. 

Nun folgt der Kurs der Seestraße der Goldküste entlang bis nach Meilen. Woher der Name Goldküste stammt? Wenn man die spöttische Bezeichnung der gegenüberliegenden, linken Seeseite im Volksmund nimmt, nämlich „Pfnüselküste“, was Schnupfenküste heißt, dann muss er von der Sonne kommen, welche diese Seeseite auch noch am Abend mit ihrem Strahlengold überzieht. Wer hier wohnhaft ist, dem scheint die Sonne auch in pekuniärer Hinsicht, viele behaupten deshalb, der Name rühre von der überdurchschnittlichen Kaufkraft der Ansässigen her. Weder das eine noch das andere ist von der Hand zu weisen.

Edle Residenzen säumen den Weg und Gebrauchtwagen mit sechsstelligem Preisschild stehen mit aller Selbstverständlichkeit am Straßenrand. Klischees wie die Mär vom reichen Schweizer werden hier gefestigt, dabei wurde in jüngerer Vergangenheit jede vierte Immobilie von einem Zugezogenen erworben, bevorzugt von Leuten aus der EU.

Ich bin zwar vergleichsweise ein armer Schlucker, aber kein Hungerleider. In regelmäßigen Abständen werden wir an Verpflegungsposten mit Iso, Wasser, Riegeln und Bananen versorgt. Zudem sind der Blick auf die blütenbehangenen Sträucher und Bäume, sowie die schöne Aussicht auf den See kostenlos, und verschiedene Musikformationen sorgen für rhythmischen Antrieb.

Wie würde sich Zwingli wohl zu der Kombination von Musik und Marathon äußern? Er, der virtuose Musiker, der als Musikverächter in die Geschichte einging, weil er Orgelmusik und Kirchengesang aus dem Gottesdienst verbannte? Dabei ging es gar nicht gegen die Musik an sich. Er wollte einfach das Bibelwort unverfälscht und ohne störende Nebengeräusche verkünden.

Ich für mich komme zum Schluss, dass er, der auch nach diesen Vorgängen weiter geistliche Chorlieder komponierte und 1528, ein Jahr nach der Entfernung der Kirchenorgel aus dem Großmünster, die erste Musikschule Zürich gründete, nichts dagegen hätte, vielleicht aber nicht selbst am Wegrand stehen würde. Denn es ist nicht auszuschließen, dass er auch heute – wie damals als junger Feldprediger – von Gegnern und Neidern als "luthenschlager und evangelischer pfyffer" verspottet würde.

Schon wieder kommt das Spitzenfahrzeug, dahinter allerdings ein neuer Führender, John Kyalo Kyui, ein – wen wundert‘s? – Kenianer. So ist halt Marathon.

Die Begegnungsstrecke sorgt für Abwechslung. Das Beobachten der Entgegenkommenden macht die Kilometer bis zum Wendepunkt in Meilen kurzweilig, und auch dort ist auf der kleinen Schlaufe wieder mächtig Stimmung. An gewohnter Stelle wird wieder guter, ehrlicher Rock gespielt und die erwartungsvolle Hektik, welche aus dem Pulk der wartenden Staffelläufer ausstrahlt, sorgt für ein Kribbeln. Ein Kribbeln, das bei Kilometer 25 gut tut, denn noch liegt ein ordentliches Stück Weg vor uns, und jeder Zentimeter davon ist uns mittlerweile bekannt.

Zwischendurch kommen unverbrauchte Teamläufer vorbeigeflogen, was insofern für keinerlei Frustration sorgt, als dass das sie auf dem Rücken als solche gekennzeichnet sind. Im Gegenteil, mir sind sie sogar eine Hilfe, mein Tempo zu halten. Zwischendurch muss ich mich aber auch zurückfallen lassen und etwas Substantielleres als nur Iso und Wasser zu mir nehmen. Ich werde davon nicht satt.

Mir geht es wie dem Drucker Christoph Froschauer, dem Verleger von Zwinglis Schriften, der auch einen Bedarf an substantieller Nahrung verspürte.
 Am ersten Sonntag der vorösterlichen Fastenzeit im Jahre 1522 wurde in seinem Haus Wurst gegessen und damit demonstrativ das geltende Fastengebot gebrochen. Rein zufällig war Zwingli  - zwar nicht als Teilnehmer - anwesend. Die faule Ausrede für das Fastenbrechen war, dass Froschauer und seine Mitarbeiter so beansprucht gewesen seien, um ein Buch für Erasmus von Rotterdam bis Ostern noch ganz dringend nach Frankfurt zu liefern, dass sie vom "Mus" allein nicht satt geworden seien.

Auch ohne Facebook und Twitter schlug damals dieser Ungehorsam flächendeckend ein und schlug Wellen. Das Wurstessen bei Froschauer wurde ein wesentlicher Baustein der Reformbemühungen Zwinglis. Die städtische Obrigkeit übernahm nach erster Empörung die Sicht Zwinglis, dass die "evangelische Freiheit des Christenmenschen" ("Kein Christ ist zu den Werken, die Gott nicht geboten hat, verpflichtet. Er darf also zu jeder Zeit jegliche Speise essen.") höher zu gewichten sei als die kirchlichen Verbote und Traditionen.

Beim nächsten Verpflegungsposten habe ich doppeltes Pech. Ich stelle mich an die Bordsteinkante, um ohne Hektik zu trinken, da spüre ich, wie sich in der Wade ein Muskel zu verkrampfen beginnt. Zu dumm, dass ich vorgestern nicht zuhause war, als der Paketdienst mir die neuen Leichtgewicht-Straßenschuhe meiner Marke zustellen wollte. Deshalb bin ich mit Ersatzschuhen unterwegs, die sich für mich fast anfühlen wie klobige High Heels und allenfalls für launiges Traben geeignet sind, für meinen Laufstil, der mittlerweile flach bauenden Schuhen angepasst ist, aber ein Hindernis sind.

Die zweite Portion Pech trinke ich. Da hat sich jemand in der Dosierung vertan und für das Iso-Getränk ein Konzentrat angemischt, gegen welches mein Magen in der Folge sofort rebelliert. So viel Wasser, wie zur ordentlichen Verdünnung notwendig wäre, kann ich gar nicht hinterherschütten.

Während sich die Wade halbwegs ruhig hält, begehrt der Magen auf. Ich leide wie ein Hund und lasse vier Kilometer vor dem Ziel die Schrittmacher für 3:45 wieder an mir vorbeiziehen. Zum Leiden ist mir nicht zumute, also lege ich ein paar Fotostopps ein und gehe ein Weilchen. Das bisschen Magengrummeln werde ich wohl überleben, der Zwingli hat immerhin eine Pesterkrankung überlebt.

Bevor mich einen Kilometer später Klaus wieder vor die Linse bekommt, habe ich mich wieder aufgerappelt. Nochmals die in der Zwischenzeit belebtere Bahnhofstraße hoch, am Paradeplatz vorbei, dem Sitz der beiden Großbanken und in der Schweizer Ausgabe von Monopoly die teuerste Meile.

Mit der Vier vorne auf dem Kilometerschild kommen die Kräfte wieder zurück und ich kann nochmals zulegen. Die Teamläufer, welche sich hier zum gemeinsamen Zieleinlauf zusammenrotten, machen meinen Endspurt zwar zu einem Slalomlauf, doch ich schaffe es, trotz der Krise einen Negativsplit zu laufen. Genau genommen. Über den Daumen gepeilt sind es zwei gleich schnelle Hälften, denn auf der zweiten war ich nur 3,8 Sekunden schneller…

Nach der Verleihung der Medaille und der Entgegennahme des hochwertigen, leider grell ausgefallenen Finisher-Shirts gibt es die Zielverpflegung. Die Zeiten der kontigentierten Wasserabgabe sind zum Glück vorbei, nebst Wasser wird auch Rivella ausgeschenkt. Ich schütte mir gleich einen Liter davon in das ausgetrocknete System und mache mich auf den Heimweg. Dass die Duschen im Strandbad warm sind, weiß ich mittlerweile.

Dass die Schweiz allgemein, Zürich im Besonderen und beim jetzigen Wechselkurs erst recht kein günstiges Pflaster ist, stimmt. Die fünfzehn Euronen Unterschied zu Berlin sind sicher an der oberen Grenze, in Anbetracht der örtlichen Verhältnisse und gebotenen Leistungen aber vertretbar.  Was ich den Organisatoren aber zurufen möchte: „Tuond umb Gottzwille etwas Dapfers und ringt euch dazu durch, zusammen mit der Bestätigungsmail einen Gutschein für die Benutzung des Öffentlichen Verkehrs zukommen zu lassen, der zusammen mit einem Ausweispapier auch schon eine kostenlose Anreise ermöglicht.“  Sonst müsste ich Peter Vollmer im kommenden Jahr auf der Strecke doch noch mit diesem Anliegen belästigen. Schließlich ist er dafür prädestiniert. Wobei, die Prädestination ist das Thema beim Genfer Reformator Calvin, nicht bei  Zwingli.

P.S. 1
Subjektiv habe ich den Eindruck, dass unter den Teilnehmenden  viele Frauen sind. Ich vermute, dass der Teamrun diesbezüglich einen Einfluss hat. Ich schaffe es nun aber beim besten Willen nicht, das Thema Frauen und Zwinglis Meinung zum Zölibat ineinander überzuführen. Ich lasse es bei dem bewenden, was Matthias Bachmann im Zwingli-Lexikon der Reformierten Kirche Zürich dazu schreibt: „An dieser Front wendet sich Zwingli gegen eine kirchlich-theologische Tradition, die sich weigert, die philosophische und theologische Trivialität zur Kenntnis zu nehmen, dass auch Priester Menschen / Männer sind.

 P.S. 2
Besonders Tapferes habe ich heute nicht geleistet. Ein paar Kilometer gelaufen, ein paar Bildimpressionen gesammelt und ein paar Hinweise zur lokalen Reformationsgeschichte geliefert. Also ich „tuon hüt noch etwas Dapfers“ und begleite meine Frau am Abend auf der Laufrunde mit den Hunden – die Beine sind nämlich ziemlich schwer…

 

Siegerliste

 

Marathon gesamt

Männer

1. Kyui John Kyalo,  KEN             2:09.59,6
2. Sokolov Aleksey V.,  RUS          2:10.22,2
3. Tandoi Abraham, KEN               2:10.59,9

Frauen

1. Stanko Svitlana, UKR              2:33.24,5
2. Morceli Patricia, Cham            2:37.28,0
3. Biwott Salome, KEN                2:39.01,9

Schweizer Meisterschaften

Männer

1. Ançay Tarcis Lens CS 13 étoiles Sion 2:20.02,9
2. Kreienbühl Christian  Rüti ZH TV Oerlikon 2:21.47,6
3. Menzi Christoph Esslingen TG Hütten 2:27.26,4

Frauen

1. Morceli Patricia TV Cham 2:37.28,0
2. Di Marco Magali  Troistorrents 2:42.56,3
3. Meneghin-Pliska Maja  Vermes 2:46.07,6

 

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Informationen: Zürich Marathon
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