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Laufberichte

Ein kleines Opfer

 

Im Herzen des geografischen Europa gelegen, verkehrstechnisch bestens erschlossen mit einem Flughafen von Weltruf, mit Anbindung an Autobahnen in alle Richtungen und über ein hervorragend ausgebautes und zuverlässig funktionierendes Netz öffentlicher Verkehrsmittel verfügend, das ist Zürich. Letztes Jahr fanden in der Limmatstadt die Europameisterschaften der Leichtathleten statt, wobei die Stadt das schlafende Sonntagsgesicht in der Innenstadt für einmal aufgab und die Marathonläufer auf ihrem Rundkurs durch die Stadt frenetisch feierte. Bei schönstem Wetter nota bene.

Das gleiche Wetterglück wünschte ich damals schon den Teilnehmern des Zürich Marathons in diesem Frühjahr, nicht ahnend, dass ich mir damit selbst etwas Gutes wünsche. Meine läuferischen Pläne für diesen April sahen ursprünglich anders, länger, aus. Die Anpassung an gewisse Realitäten führte dazu, dass der 19. April in der Agenda frei blieb und ich dem Chef einen Laufeinsatz anbieten konnte. Zürich war noch zu haben. Keine Ahnung weshalb. Könnte es sein, dass ein Zusammenhang mit dem Wechselkurs besteht? Die Schweiz war bei Läufern noch nie dafür berühmt,  Marathons zu Schnäppchenpreisen anbieten zu können. Jetzt, da sich der Franken wieder gefährlich nah der Parität zum Euro nähert, hat sich die Situation noch verschärft. Also biete ich mich als Euro-Opferlamm an, von Zürich zu berichten, wo immerhin über 3000 Startende die volle Distanz unter die Füße nehmen. Mit den Teilnehmern des Cityruns (10km) und den 950 Mannschaften des Teamruns (Vier Teilnehmer teilen sich die Marathonstrecke auf in ~9,5/11,5/4/17km) sind an diesem frühen Sonntagmorgen fast 10000 Leute unterwegs zum Strandbad Mythenquai.

Auf meinem Morgenspaziergang vom Bahnhof Stadelhofen  her – ein Entwurf von Santiago Calatrava – ums Seebecken herum  genieße ich schon ein erstes Mal diesen Prachtstag und den Ausblick auf die verschneiten Berge. Die zeitliche Optimierung meiner mit der Startnummer unentgeltlichen Anreise (Die Startunterlagen habe ich am Freitag schon abgeholt, weil ich gerade in der Gegend weilte.) innerhalb des weitläufigen ZVV-Netzes bedingt ein strammes Gehen und verhilft mir zu einem ungewohnten Warm Up. Trotzdem sticht mir am Denkmal für Gottfried Keller der Titel seines Werkes „Der Schmied seines Glückes“ ins Auge. Mein Lauf wird kein Hammerschlag, folglich kein Meisterschlag, aber auch keiner ins Leere.

Auf dem Weg zum Startsektor kann ich mir wiederum das Schmunzeln nicht verkneifen. Bei dem mit großen Lettern mit „Wasserschutzpolizei“ angeschriebenen Haus stehen die Leute Schlange. Weiter vorne gibt es aber auch noch zahlreiche, dezentral aufgestellte Kabäuschen und Bermuda-Dreiecke für die Herren. In Anbetracht der Menschenmenge hält sich die Wartezeit in Grenzen.

Ich verkrümle mich gleich in den hintersten Starterblock und halte Ausschau nach Leuten, welche eindeutig von außerhalb Zürich kommen, um herauszufinden, warum sie ausgerechnet da laufen wollen.  Eine große Gruppe von Läufern und mitgereisten Angehörigen und Supportern kommt aus Taiwan. Ihre Ferienreise beinhaltete den Paris Marathon vor einer Woche, nun ist Zürich an der Reihe. Einer von ihnen läuft in Getränkekarton-Verkleidung eines beliebten Sportsdrinks aus Taiwan. Uno kommt aus Schweden. Er ist erfahrener Langläufer und 16-facher Finisher des traditionellen Vasaloppet. Was er auf den schmalen Latten über 90km geschafft hat, will er heute auf knapp der Hälfte der Distanz erstmals mit Laufschuhen schaffen. Zürich hat er gewählt, weil er es mit einem Besuch bei seinem Sohn verbinden kann, der hier arbeitet.

Ich drehe mich nach rechts und sehe einen Landesnachbarn von Uno aus Norwegen. Er ist hier, weil er nicht mehr länger auf einen Frühlingsmarathon warten mag, der diesen Namen vom Stand der Vegetation her auch verdient.

Fredi, Organisator des 24/12-Stundenlaufs in Brugg ist trotz seines Handicaps auch am Start. Dabeisein und den Versuch wagen ist alles.

Dann geht es vorne auch schon los. Wie bei anderen großen Läufen sind immer schnelle Läufer verpflichtet, in deren virtuellem Windschatten viele ambitionierte Schweizer in Erscheinung treten. Damit wir uns richtig verstehen: ich meine damit läuferische Ambitionen, also nicht mich.

Keine drei Minuten nach der Elite überquere ich die Startlinie und kann mich von Beginn weg frei bewegen. Etwas weiter vorne stockt es wie angekündigt. Vor wenigen Tagen wurde mit der Sanierung der Quaibrücke begonnen, wodurch ein Engpass zum Bellevueplatz entstand. Wirklich tapfer müssen nicht wir sein, sondern die Automobilisten, welche in den nächsten Monaten mit Umwegen, Fahrverboten und Staus zu rechnen haben.

Neben mir tönt es wieder nordisch. Amela und Mikaela zeigen mir dann auch die schwedische Flagge auf ihren Handrücken. Warum ausgerechnet der Zürich Marathon? „Mein Freund wohnt hier“, lautet die Antwort von Amela. In diesem Fall – nehme ich mal an – ist der Besuch beim Freund nicht vorgeschoben.

Den jungen Deutschen, der mit ins Bild kommt, bemerke ich erst gar nicht. Erst etwas später werde ich auf ihn aufmerksam, und zwar wegen der Aufschrift auf seinem T-Shirt. Er kämpft 42195 Meter für seine Schwester. Darauf angesprochen deutet Tobias auf die Vorderseite mit dem Aufdruck in klarer Finger- und sonstiger Sprache. Er kämpft nicht nur heute, sondern die Vorbereitung auf diesen, seinen ersten Marathon dauerte so lang wie der Kampf seiner Schwester gegen Krebs. Auf dem Weg dazu hat er nebenbei noch 30 Kilos auf der Strecke gelassen. Bei dieser Unterhaltung verpassen wir keine Sehenswürdigkeiten, denn es geht schlichtweg geradeaus auf der Bellerivestraße. Das „Bellerive“, das schöne Ufer, bleibt uns verborgen, doch je weiter wir uns dem Zürichhorn nähern, umso mehr kann man erahnen, dass diese Gestade den Namen zu recht tragen.

Eine sanfte Wende führt auf der Parallelstraße zurück zum Zentrum. Vereinzelt klatschen sonntägliche Frühaufsteher von ihren Balkons herunter auf die im Schatten Laufenden. Weiter vorne sticht der von der hellen Morgensonne angestrahlte obere Teil des Opernhauses ins Auge. Dort biegen wir wieder auf die Straße zurück zum Bellevueplatz ein. Die „Bellevue“, die schöne Sicht, ist bereits entlang des Sechseläuteplatzes durch die neu errichteten Bauabschrankungen getrübt, dafür habe ich eine gute Aussicht auf die auf der Quaibrücke entgegenkommende Spitze. Ich halte mich an den Rand, um das Vorbeifliegen fotografisch festzuhalten. Statt im Fotostudio wähne ich mich aber umgehend auf dem Eishockeyfeld, mit dem Unterschied, dass man dort bei einem Bodycheck von der Bande gestoppt wird, ich hingegen ins Absperrgitter knalle und mit diesem zusammen auf die Tramschienen. Ja, es gibt auch unter Läufern absolute Idioten. Dabei hat dieser Teilnehmer des City- oder Teamruns zu diesem Zeitpunkt keinerlei Aussicht auf einen Podestplatz, denn den nachmaligen Zweiten auf der 10km-Strecke habe ich schon einen Kilometer zuvor an mir vorbeiflitzen sehen. Zwei Streckenposten sind umgehend bei mir, doch mein Abflug vom Streckenrand muss schlimmer ausgesehen haben als er war, die Sache geht glimpflich aus. Abgesehen von leichten Schürfungen ist mir nichts passiert und Tattoos sind in…

Bei der Abzweigung in die Bahnhofstrasse hinein treffe ich wieder auf Tobias, der dort von seiner Schwester mit Anhang angefeuert wird. Leider verwackle ich die Aufnahme der Beiden. Ich bin wohl noch etwas zittrig nach meinem Sturz.

Die Bahnhofstraße ist am Sonntag das pure Gegenteil von dem, was sie unter der Woche darstellt. Dornröschen lässt grüßen. Da sind die Alphornbläser und die beiden weiteren Combos willkommene Abwechslung.

Nach sieben Kilometern gibt es das zweite Mal Wasser, ganz praktisch in kleinen Flaschen mit Trinkverschluss. Damit laufe ich weiter auf der Talstraße, der Sonne und dem Seebecken entgegen. Für die Zuschauer ist es dort am interessantesten, bekommen sie doch das Marathonfeld sechsmal zu Gesicht. Auf der Gegenseite sehe ich die Gruppe um die Pacemaker für 3:30 entgegenkommen. Das waren noch Zeiten, als ich dort mithalten und gleichzeitig noch fotografieren konnte…

Einen Block hinter dem Seeufer geht es auf einer Schlaufe in Richtung Strandbad. Auf diesem Abschnitt findet der erste Wechsel bei den Teamrunners statt, was gleichbedeutend ist mit einem unnötigen Engpass für alle anderen Läufer. Das könnte noch besser organisiert werden. Gut, von der Laufzeit her hat das keinen Einfluss auf meinen Marathon, ich möchte bloß nicht nochmals zur Seite gerempelt werden.

Kurz vor dem Strandbad dann die neuerliche Wende und zurück bei Start und Ziel vorbei auf die nächsten Dreiviertel der Strecke. Noch ist kein Kilometer vorbei, da treffe ich schon auf mein nächstes „Opfer“. Der niederländische Clubaufdruck auf den T-Shirts verrät, dass ich es bei dem Paar vor mir mit holländischen Lauffreunden zu tun habe. Zumindest teilweise. Sie kommt ursprünglich aus dem Glarnerland und verbindet Verwandtenbesuch und Marathon. Ein guter Vorwand und eine gerne angewandte Kombination zugleich.

Auf dem Weg zum Bellevueplatz ist mein Kopf fast nur nach rechts gedreht. Ich lasse den Blick über den See hinauf zu den Bergen schweifen. Bis jetzt hatte ich noch immer Wetterglück in Zürich, und in einem solchen Fall ist es einfach traumhaft, hier zu laufen.

Eindeutig ein Einheimischer, zumindest Schweizer, ist Martin, vielmehr sind sie. Er und Giachen (die eine Hälfe des Steinbock-Duos aus der Werbung für Graubünden) bilden eine enge Läufergemeinschaft und trainieren für den Marathon du Médoc, bekanntlich der längste Marathon der Welt, Degustation und Karneval zugleich. Mit ihm zusammen finde ich mich plötzlich bei den Zugläuferinnen für 4:15 wieder. Eindeutig zu weit vorne.

Die Wasserstelle beim China Garten ist wieder passiert und nun geht es auf die Pendelstrecke dem See entlang nach Meilen. Es gibt einen wunderschönen Ausblick über den See, hinüber zum Zürcher Hausberg, dem Üetliberg. Dazu gibt es Rockiges, bald darauf Guggenklänge. Sabrina und Gabriele sind locker drauf und geben mir Auskunft, obwohl sie sich intensiv unterhalten, warum sie aus Österreich nach Zürich kommen um zu laufen. „In Wien kenne ich weite Strecken des Marathons von meinen Trainingsläufen her, da möchte ich mal etwas Anderes, Neues erleben.“

Etwas weiter vorne fehlen nur zwei Flügel und die engelhafte Erscheinung wäre komplett. Weiß gewandet und mit langem Haar läuft Charlotte, die Amerikanerin und Weltreisende in Sachen Marathon ihren 64-sten. Sie steht auf flache Strecken und hat Zürich auch deshalb gewählt.So auch die Spitzenläufer, welche bereits auf dem Rückweg nach Zürich angebraust kommen.

Ich bin wieder auf dem Punkt, dass ich laufe, genieße und mir kaum Gedanken über zurückgelegte oder noch zu bewältigende Kilometer mache. Sonne, frische Luft, üppige Blütenpracht an Bäumen und in Vorgärten, dazwischen Aufmunterung von Zuschauern mit Herz für Langsamere und musikalische Unterstützung. Es gelingt mir gar nicht, mir sie und ihre Standorte zu merken, ich bin im Flow.

Eine Aussage in Form einer Startnummer am Rücken angebracht, weckt meine Neugierde: „If I survived a marathon of bullshit from a man, this ain’t nothing.“ Zu Deutsch: „Wenn ich einen Marathon von Sch… eines Mannes überlebt habe, dann ist dies gar nichts.“  Alayna aus Boston und ich unterhalten uns über mehrere Kilometer und ich wünsche ihr viel Glück zu ihrer Neupositionierung im Leben, zu welchem auch dieser erste Marathon gehört.

Mittlerweile liegt der Wendepunkt in Meilen mit Staffelwechsel, Volksfeststimmung, gutem Sound und damit Km25 hinter mir und ich kann den einen oder anderen entgegenkommenden Bekannten grüßen. Durch die Gemeinden der Goldküste geht es wieder zurück nach Zürich. Abgesehen von einer kleinen Steigung sind es nur minime Wellen im Streckenprofil. Die schon etwas ermüdeten Muskeln spüren diese aber mit ungeheurem Zehenspitzengefühl. Wie immer in Zürich fällt mir auf, dass bei einigermaßen gleichmäßiger Pace auf dem dritten Drittel das Einsammeln beginnt. Für den Sammelnden ermutigend, für die Eingesammelten nicht unbedingt frustrierend, da es sich bei den Überholenden sonst meist um Teilnehmer des Teamruns handelt.

Craig ist auf seinem zweiten von 52 Marathons in 52 Wochen. In gut britischer Tradition dient es einem guten Zweck. Gibt es eine andere Sportart, bei welcher so viel für wohltätige Zwecke getan wird?

Wenig später treffe ich auf John aus Irland. Klischee behaftet empfehle ich ihm fürs Entspannen eine der neuen Bierbars in Zürich, natürlich die von Lauffreund Christian, wo es ganz international zugeht.

Jan und Andrea sind ursprünglich auch keine Einheimischen, haben sich aber hier eingenistet und Andrea versucht sich nach Trails auf sogar längeren Strecken nun auch mal auf einem  flachen Marathon.

Irgendwie schafft es mein Körper nicht, die reichlich vorhandenen Reserven anzuzapfen, womit ich dankbar auf die voll ausgestatteten Verpflegungsposten zurückgreife. Ich weiß, dass mein Magen mit allen Produkten des Verpflegungssponsors klarkommt und greife bei Iso, Gel und Riegel zu. Um das gefühlte Loch zu stopfen, nehme ich auch Banane. Zum Spülen habe ich die Wasserflasche und habe dazu bis zum nächsten Posten alle Zeit der Welt. Die Wirkung bleibt nicht aus und ich kann auf dem letzten Viertel meine Leistung beibehalten. Einzige Nebenwirkung ist, dass ich so gut hydriert bin, dass ich in die Büsche muss. Wenn ich bedenke, dass ich heute als Opferlamm an den Start ging, dann geht es mir wirklich blendend. Die Schlachtbank ist nicht in Sicht.

Der Countdown der letzten vier Kilometer vergeht recht schnell. Richtig eingetaucht in die Bahnhofstraße sind es nur noch drei. Am berühmt-berüchtigten Paradeplatz (teuerstes Feld im Schweizer Monopoly und Ausgangspunkt umstrittener Bankaktivitäten) sind immer noch nicht viel Zuschauer, um die Marathonparade abzunehmen, dafür habe ich die Möglichkeit, die Bahnhofstraße im Sonnenschein aus einem sonst nicht ungestört zugänglichen Blickwinkel, nämlich von der  Straßenbahntrassee aus, zu bestaunen.

Wenn mal die 40 auf dem Schild steht, dann ist die Sache gegessen, so auch heute, zumal der letzte Kilometer beim Seebecken ist und dank der Teamrunners und Angehörigen der Weg zum Ziel kurzweilig und abwechslungsreich ist.

Nach dem Zieleinlauf ist genügend Stauraum, um in Ruhe Medaille, Finisher-Shirt, Rivella, Apfel und Wasser entgegenzunehmen. Fürs Bleifreie muss man sich bis zum Ausgang aus der Zielzone bewegen.

Auf dem kurzen Weg zum Strandbad Mythenquai kommt man übrigens an der Sukkulentensammlung vorbei, welche mit 6500 Arten zur umfangreichsten der Welt gehört. Der Eintritt kostet (und das in Zürich!): nichts.

Dass der Zürich Marathon besonders bei schönem Wetter auch für die mitreisenden Angehörigen ein tolles Feriengefühl bietet, versuche ich nach der (sehr heißen) Dusche auf dem Duschwagen noch in Bildern einzufangen. Wenn ich mir die Bilder ansehe, dann glaube ich, muss ich keine weiteren Erläuterungen abgeben. Was mich betrifft, so biete ich mich wieder einmal als „Europferlamm“ an.

 

Marathonsieger

 

Männer

1. Kiyeng Edwin Kemboi, Kenia                2:11.34,5
2. Kawauchi Yuki, Japan                      2:12.12,9
3. Gebre Mekuant Ayenew, Äthiopien           2:12.16,2

Frauen

1. Sakamoto Yoshiko, Japan                   2:37.46,1
2. Spirig Nicola, Bachenbülach               2:46.08,4
3. Fardell Mary, AUS-Dubbo                   2:46.38,5

2694 Finisher

 

Informationen: Zürich Marathon
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