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Laufberichte

Alles, nur keine 50 Kilometer

28.01.06
Autor: Klaus Duwe

Oder: Kreis-Lauf-Beschwerden

 

Schon wieder ein Runden-Rennen. Kaum habe ich in Kevelaer daran gerochen, lassen meine Kumpels nicht locker und schildern mir den Ultramarathon in Rodgau in den schillernsten Farben. Sie haben leichtes Spiel. Es sind „nur“ 187 Kilometer (eine Strecke) zu fahren und Lust auf Laufen habe ich immer.

 

Die Autofahrt am Samstag in der Früh ist problemlos. Nach gut 1 ½ Stunden verlasse ich die A 3 bei der Abfahrt Rodgau und bin nach knapp 10 Kilometern in Dudenhofen, wo mir sofort Markierungen des Veranstalters den Weg zum Sportzentrum weisen. Es ist bitter kalt. 10 Grad minus zeigt mein Außenthermometer an. Die Übernachtungsgäste sind noch beim Frühstück, sonst ist noch nicht viel los.

 

Das ändert sich, denn der RLT Rodgau meldet mal wieder Rekordzahlen. Über 700 Voranmeldungen liegen vor. Weil aber erst am Start bezahlt wird, ist der „Schwund“ besonders groß. Immerhin 542 (aus 18 Nationen) treten zum Rennen an, auch noch Rekord. Schnell füllt sich die Halle und gegen 9 Uhr wird es zeitweise recht eng. An den Toiletten bilden sich Schlangen und die Damen bei der Startnummernausgabe können trotz allen Bemühungen nicht verhindern, dass dem einen oder anderen Läufer der Angstschweiß auf die Stirn tritt. Angstschweiß, weil sie befürchten, den Start nicht zu schaffen. Es sind nämlich vom Sportzentrum noch ein paar Schritte über die Brücke der B 45 zum Rodgauer Naherholungsgebiet „Gänsbrüh“ zu gehen, wo um 10.00 Uhr der Start ist.

 

Meine Kumpels hatten recht. Hier ist alles vertreten, was in der Ultra- und Marathon-Szene so Rang und Namen hat. Neben der Prominenz (Carmen Hildebrand, Robert Wimmer, um nur zwei zu nennen) treffen sich hier die Deutschlandläufer, Biel-, Spartathlon- und Comrades-Finisher. Viele starten hier mit einem Ultra ins Wettkampfjahr, andere habe ich bereits in Kevelaer und beim Vollmond-Marathon getroffen. Die marathon4you-Autoren sind fast vollzählig am Start, dazu viele liebe Lauffreundinnen und Lauffreunde, die ich lange vermisst habe und jetzt endlich wieder sehe.

 

Kein einziger Rodgauer ist hier raus gekommen, um sich das Laufspektakel anzusehen. Die paar Zuschauer sind Angehörige und Begleitpersonen der Teilnehmer. Ich kann das verstehen. Ich würde bei der Kälte auch nicht vor Mittag das Haus verlassen, wenn ich nicht laufen wollte.

 

Wie schon bei vielen Ultraläufen vorher stelle ich eine gewisse Gelassenheit bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern fest. Während sich vorne im Feld die Spitzenläufer eine gute Startposition suchen, wird weiter hinten diskutiert, erzählt und gelacht und dabei der Startschuß fast überhört. Als das Feld dann in Bewegung gerät, fängt man langsam an zu traben, ohne aber die Erzählung abzubrechen.

 

Es ist noch immer eisig kalt. Viel wird sich temperaturmäßig nicht geändert haben, vor allem nicht auf den ersten Kilometern, wo es durch schattigen Wald geht. Der pulvrige Schnee liegt locker auf dem knochenhart gefrorenen Boden und bei fast jedem Auftreten rutsche ich etwas weg. Das kann ja heiter werden. Die letzten Trainingseinheiten auf ähnlichem Geläuf habe ich immer etwas gekürzt, weil das Laufen doch spürbar anstrengender und zeitraubender ist. Den ganzen Winter über laufe ich schon in Trailschuhen. Warum habe ich sie heute zu Hause gelassen? Ich komme mir vor, wie ein Langläufer mit verwachsten Skiern.

 

Wir kommen am Wanderheim „Edelweiss“ vorbei, links ist ein großer Waldfestplatz,  biegen dann links ab und laufen einem hohen Zaun entlang. Dahinter soll sich ein Versuchsgelände von Opel verbergen. Kurz vor km  2 geht es ein  kurzes Stück über freies Feld, dann wird wieder ein Waldstück erreicht. Wir biegen links ab und kurz nach einer Schutzhütte bei km 3,2 haben wir freies Feld und in der Ferner Rodgau vor uns. Der asphaltierte Weg ist schneefrei und entsprechend gut zu laufen. Bei einer alten Scheuer geht es links ab, schneebedeckte Felder links und rechts. Bei genau 4,385 Kilometer erreichen wir wieder den Waldrand und gleich darauf die Verpflegungsstellen, die rechts und links des Weges aufgebaut sind. Dann kommt der Wendepunkt.

 

Nach der  ersten Runde (31 Minuten) bin ich  warm gelaufen. Die Handschuhe habe ich wieder weg gesteckt. Nur auf den nächsten zwei Kilometern durch den schattigen Wald spüre ich die Kälte. Ich bin gerade gut 2 Kilometer auf der zweiten Runde gelaufen, als mich die Spitzengruppe zum ersten Mal überholt. Ein Radfahrer mit lautem Geklingel sorgt für freie Bahn.

 

Ich schaue den Läufern auf die Füße und staune, wie leichfüßig sie auf dem rutschigen Schneeboden laufen. Keiner trägt die von mir so vermissten Trailschuhe, alle haben sie leichte Renner an. Mir hilft das nicht. Ich habe nach wie vor meine Probleme. Für die zweite Runde stoppe ich 31:40 und für die dritte 33 Minuten.

 

Fünfzehn Kilometer bin ich jetzt gelaufen, so weit wie noch nie auf solchem Boden. Und ich spüre meine Beine so sehr, dass ich mir nicht vorstellen kann, noch 35 Kilometer zu laufen. Ich arbeite gedanklich ein Alternativ-Programm aus. Bei 20 oder bei 30 Kilometer aussteigen, oder erst bei 40? Nein, ein Marathon soll es schon sein, also bei 45. Alles, nur keine 50. Ich weiß, dass viele hierher kommen, um in guter Gesellschaft einen kurzweiligen Trainingslauf zu absolvieren. Warum nicht auch ich? Alibis habe ich genug.

 

Nach 32:20 Minuten wieder die Wende. An der Verpflegungsstelle bevorzuge ich ab jetzt Cola. Es gibt auch Wasser, warmen Tee und Iso. Außerdem Bananen, Riegel, Nüsse und Rosinen. Einen Kilometer weiter dann die Halbmarathondistanz. Wieder die Gedanken: nur keine 50 Kilometer, heute nicht. An machen Stellen ist es jetzt matschig. Bemühte Helfer sind mit Schneeschiebern zu Gange. Das macht es mir auch nicht leichter. Ich will heute nicht. Ich merke deutlich, dass die Strecke im Bereich des Zaunes ansteigt. Wie ein richtiger Berg kommt mir der kaum sichtbare Anstieg vor. Und dann das Überholen. Dauernd laufen sie an mir vorbei, scheinbar leicht und ohne Probleme. Nur ich tu mich schwer. Ich bin der Ärmste, aber bald ich ja Schluß. Wieviel laufe ich? 50 nicht, aber 30 oder doch die 45?

 

Ich stoppe 33:27 Minuten für die 5., 33:15 für die 6. und knapp 34 Minuten für die 7 Runde. Die Schmerzen in meinen Oberschenkeln lassen nicht nach. Warum auch, so lange ich laufe, werden sie da sein. Sie werden aber auch nicht schlimmer. Hey, sie werden nicht schlimmer! Der erste positive Gedanke. Ich bin hellwach und erkenne jetzt den Absender der zuvor empfangenen Botschaften. Ich sende zurück: „Nichts da, alter Schweinehund. Ich laufe 50 Kilometer.“ Außerdem erinnere ich mich an den Rat, den ich Wankelmütigen unterwegs gerne gebe: „Hebe Dir das Aufgeben für wirklich schlechte Tage auf, heute ist ein guter Tag.“

 

Alex kommt mir auf der kurzen Begegnungspassage in gewohnt lockeren, aber langen Schritten entgegen. Gleich hat er mich eingeholt. Meine 8. Runde ist für ihn die 9. „Lass uns quatschen“, sagt er und schaltet einen Gang zurück. Auch ihn strengt die Strecke an. Ihm glaube ich das. Ich bin also nicht der Einzige. Alex ist Redakteur und Reporter beim SWR 3. Unaufhörlich redet er auf mich ein, erzählt mir von seinen Winter-Reportagen in Mainz und seinen Laufplänen. Wenn er merkt, dass ich schwächle, macht er langsamer. Ich rede nicht viel, ich brauche die Luft für etwas Anderes.

 

Am Ende der Runde nach 33:20 Minuten sagt Alex „tschüss“ und legt auf seiner letzten Runde einen Zahn zu. Ich kann nicht mehr danke sagen, im Nu ist er aus meinem Blickfeld verschwunden. Noch 10 Kilometer, das ist überschaubar. Ich laufe heute 50 Kilometer, was denn sonst? Obwohl ich es ruhiger angehen lasse, überhole ich sogar zwei oder drei Läufer. Aber vielleicht haben sie ja eine Runde Vorsprung.

 

Wieder erreiche ich die Schutzhütte am Ende des Waldes. Warum ist hier keine Verpflegungsstelle? Nicht dass ich alle 3 Kilometer etwas trinken muss. Ich muss sowieso zu oft an einen Baum. Nein, so ein Becher Tee wäre jetzt ein ideales Alibi für eine kurze Gehpause. Dafür mach ich ein paar Fotos. Dazu muss ich auch stehen bleiben und die Beine haben eine halbe Minute Pause. 36 Minuten brauche ich für die 9. Runde und verschwende bei der Wende natürlich keinen Gedanken daran, hier auszusteigen.

 

Jetzt ist es ruhig auf der Strecke. Es sind mehr Spaziergänger unterwegs als Läufer. Keiner wird mich mehr überholen. Jetzt bin ich an der Reihe. Drei lasse ich hinter mir, sechs weitere habe ich vor mir im Blickfeld. Nach gut 3 Kilometern will ich wissen, was sich hinter mir tut. Umdrehen kann ich mich nicht, das Kreuz tut weh. Also warte ich bis zur Linkskurve und sehe mit einem kurzen Seitenblick 5 Läufer hinter mir. Ich beschließe, die Vorderen in Ruhe zu lassen, mich aber von den Hinteren nicht überholen zu lassen.

 

Das freie Feld in der Sonne liegt hinter mir, ich erreiche den Waldrand und spüre die Kälte im Schatten. Gleich ist es geschafft. Noch ein Schluck Cola an der Verpflegungsstelle, dann noch hundert Meter, ich bin ich im Ziel. Ein hartes Stück Arbeit liegt hinter mir. Aber ich habe gewonnen, den Schweinehund besiegt. Ich habe die 50 Kilometer geschafft unter Bedingungen, vor denen ich bei jedem Trainingslauf bisher gekniffen habe. Mir geht es gut, sehr gut sogar. Freundliche Helfer bieten warme Decken an.

 

Ich halte mich nicht lange auf und gehe zur Halle. Sie ist brechend voll. Eintopf und hausgemachter Kuchen sind sehr gefragt. Meine Kumpels beglückwünschen mich und erzählen mir von ihrem Kampf und ihren Gedanken, und alles kommt mir sehr bekannt vor.

 

Streckenbeschreibung

5 Kilometer-Rundkurs durch Wald und Flur. Fast eben, Wege teilweise asphaltiert.

 

Auszeichnung

Urkunde aus dem Internet, die ersten 400 Angemeldeten erhalten ein Funktions-Shirt.

 

Logistik

Kein Problem, Parkplatz in der Nähe der Sporthalle, ebenso Duschen.
Zum Start sind es etwa 300 Meter.

 

Verpflegung

Eine Verpflegungsstelle in der Nähe der Wende. Es gibt Tee, Iso, Wasser, Cola, Bananen, Riegel, Nüsse, Salzgebäck und Rosinen.

 

Informationen: Ultramarathon Rodgau
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