Wie gerne säße ich jetzt im Biergarten des Wirtshauses Löbel, um den LäuferInnen zuzuschauen. Ferienstimmung kommt auf bei der Wende in einer Wohnanlage am Bergweg. Hier sieht es fast so aus wie in der Urbanización Romantica I und II auf Teneriffa bei Puerto de la Cruz, durch die wir bei einem Urlaub oft unsere Trainingsrunden gedreht haben. Nur das Meer fehlt. Ein Bronze-Hund bewacht die Straße. Auf dem Rückweg dann die Wechselstelle. O.k., wieder ein markanter Kirchturm im tibetischen Stil am Wegesrand.
Hier gibt’s einige breite Straßen mit viel Stau auf der Gegenrichtung. Bei Kilometer 26 sind wir nördlich des Zentrums im Uni-Viertel. Große alte Häuser aus der Gründerzeit. Ein jugendlicher Che-Guevara-Verschnitt mit seiner blonden Holden schaut in Nato-Unterwäsche auf die Straße. Als er feststellt, dass ich sie beobachte, wird sofort der Vorhang zugezogen. Da bietet sich die Bemerkung an, dass viele Informationen am Straßenrand auf den e.on-Kassel-Marathon Bezug nehmen und dass einige davon Aufkleber mit Hinweisen zum Atomausstieg von e.on tragen. Also gewissermaßen auch ein politischer Lauf.
In den Kneipen am Schlachthof sitzt man beim Frühstück oder Frühschoppen und spart nicht mit Anfeuerungen. Wenn wir noch etwas länger in Kassel bleiben würden, wäre das ein Ziel für mich.
Im Moment wird es jetzt erst mal idyllisch. Am kleinen Bächlein Ahne entlang geht es weiter gen Norden. Holland heißt das Viertel hier. Eine Blasmusik hat sich strategisch günstig auf einer Brücke postiert. Wir werden sie in ein paar Kilometern auf dem Rückweg wiedersehen. Ein kurzes Stückchen laufen wir auf einem Fuß- und Radweg durchs Grüne. Rechts Geschnatter aus einem Enten- oder Gänsezuchtbetrieb mit Bodenhaltung. Die mitlaufenden Landwirte – erkennbar an ihrem Hemdaufdruck - würden die Tierart sicher am Ton erkennen, ein Städter wie ich natürlich nicht. Waren die Höhenunterschiede bachauf- und -abwärts noch sehr unscheinbar, geht es jetzt ab Kilometer 30 (Achtung: Kirchturm) deutlicher zur Sache. Am Scheitelpunkt der letzte Staffelwechsel. Das „frische Blut“ (das hat jetzt nichts mit dem Radsport zu tun) wird uns auf den nächsten Kilometern mit ins Ziel ziehen. Oder auch nicht: Oft überholen wir auch Staffelläufer. Die kann man nicht nur an den andersfarbigen Startnummern, sondern auch an ihren Stäben mit integriertem Chip gut erkennen.
Rothenditmold begrüßt uns. So bei Kilometer 33 ist wohl der höchste Punkt der Strecke erreicht. Schon vor einiger Zeit musste ich feststellen, dass Judith und ich heute einen wunderbaren Lauf haben. Wir fliegen so dahin, um nun auf einmal schnellen Schrittes von den Vier-Stunden-Pacern samt Gefolge überholt zu werden. Judith an meiner Seite kann es nicht glauben. Ich vertraue eher auf meine Uhr und gehe mal davon aus, dass die Herren den Vierer brutto laufen wollen. Wir versuchen trotzdem mitzuhalten. Viele Tunnel unter der Eisenbahnmagistrale Richtung Norden sind zu durchqueren. Ein Trompeter spielt „Muss i denn zum Städtele hinaus“. Am Clubhaus des Spielvereins 06 laute Punk-Musik. Aber was für Texte muss ich da hören? Nicht wirklich jugendfrei und keinesfalls druckbar. Hey, entweder auf Englisch oder was Harmloseres.
Wir kommen in den vorderen Westen. Mein Vater hatte eine Schellackplatte mit dem „Mädchen aus dem goldenen Westen“, deswegen finde ich das hier auch gut. Eindrucksvolle Jugendstilgebäude säumen den Weg. Die Elfbuchenstraße wird zu einem Erlebnis: Schon von oben sieht man die vielen Zuschauer an der großen Kreuzung in der Senke. Deshalb bereitet der kleine Anstieg danach keine Probleme. In der Friedrich-Ebert-Straße mal wieder Begegnung mit einer Trambahn. Da freut sich der Hobby-Trambahner in mir. Einige Cafés und Kneipen bieten hier viel Action. Es geht an Joe's Garage vorbei, die sich als Musiklokal entpuppt. Die Straße wird hier gerade in einen Boulevard umgestaltet.
Von nun an (km 38) geht's bergab, hoffentlich nur mit der Laufstrecke. Es folgt mein persönliches Highlight: Irgendwo habe ich mal eine Aufnahme der schnurgeraden, langen Wilhelmshöher Allee gesehen. In weiter Ferne war das Oktogon mit der Herkules-Statue auf dem Berg erkennbar. Sicher einer der Hauptanziehungspunkte Kassels. Oben gibt es Wasserkaskaden, die sich nach unten ergießen. Die einzelnen Kaskaden werden per Hand geöffnet. Im Rahmen einer Wasserwanderung kann man dabei mitgehen. 300 Meter bleiben uns für diese Allee. Das am Ende des 18. Jahrhunderts erbaute Schloss Wilhelmshöhe am Fuße der Anlage ist auch recht imposant. Mit Wilhelm ist übrigens Kurfürst Wilhelm I gemeint. Die Familie des letzten gleichnamigen Kaisers von Deutschland nutzte das Schloss als Sommerresidenz.
Schlagartig sind wir in einem Dörfchen mit Fachwerkhäusern, bevor es städtischer weitergeht. Wir unterqueren die Frankfurter Straße. Oben liegt die Haltestelle am Weinberg. Heute werden hier aber keine Reben mehr angebaut. Gleich in der Nähe soll dieses Jahr die neue „Grimm-Welt Kassel“ eröffnet werden. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm haben nach ihrer Jugend in Hanau ihre Schulzeit in Kassel verbracht und ihre Märchensammlung abgeschlossen sowie auch einige Bücher zur deutschen Grammatik herausgegeben.
Das interessiert jetzt aber nur noch am Rande. Durchbeißen ist angesagt. Viele Staffeln warten auf ihren Schlussläufer. Wir Marathonis werden da kaum wahrgenommen. Dann endlich das Aue-Stadion. Neben dem Fußball der Regionalliga dominiert hier die Leichtathletik, besonders der Mittel- und Langstreckenlauf, der durch den ehemaligen Marathon-Bundestrainer und jetzigen Orga-Leiter des Kassel-Marathons, Winfried Aufenanger, gefördert wird. So ein Zieleinlauf in ein gut besetztes Stadion hat schon was. Stimmung ohne Ende. Ich suche mich auf der Videowand. Vergeblich. Dann halt doch ein Schlussspurt. Von der Staffel hinter mir lasse ich mich jetzt nicht mehr überholen. Judith erwartet mich im Ziel. Sie hat mir wieder mal eine Minute abgenommen.
Auf uns wartet jetzt eine schöne Medaille. Das Hütt-Weißbier alkoholfrei, „gebraut für Nordhessen“, schmeckt mir sehr gut. Nicht so herb. Lidl spendiert an seinem Stand außer Obst auch allerlei Fruchtgummis. Da greift man gerne zu. Einige nehmen die Süßigkeiten gleich schälchenweise mit. Viele Duschen befinden sich in der nahen Großsporthalle. Einige einheimische Marathonis zeigten sich mit der Zuschauermenge nicht so zufrieden. Natürlich gibt es Läufe mit noch mehr Stimmung, aber Judith und ich fanden es hier in Kassel wirklich super. Die beiden Gesamtsieger kommen uns nach der Pressekonferenz beim Stadion entgegen. Sie schwenken ihre Blumensträuße und freuen sich genauso wie wir.
Ein schöner Stadtmarathon mit allem, was dazugehört. Leider führte der Weg nicht direkt durchs Zentrum, das noch einige zusätzliche Highlights geboten hätte.
Trotz einer Verflachung der Strecke erwarten die Läufer im letzte Drittel einige Wellen. Wer Bestzeiten sucht, sollte sich das Höhenprofil genauer ansehen und vielleicht ein Zeitpolster im vorderen Teil „herausarbeiten“. Ansonsten einfach den Lauf genießen.
Viele Zuschauer und Musikgruppen, auch in langweiligeren Passagen - Perfekte Organisation mit sehr freundlichen Helfern, schönes Infoheft - Günstige Preise - Nachmeldemöglichkeit auch noch am Lauftag - Verlegung im nächsten Jahr auf den 18. September, um parallele Marathons in der Region zu umgehen.
Männer
1 Kiprotich Kirui Kenia 02:14:13
2 Hosea Kiplagat Tuei Kenia 02:15:27
3 Wubishet Zewde Äthiopien 0 02:17:15
Frauen
1 Simret Restle PSV Grün-Weiß Kassel 02:37:49
2 Edinah Kwambai Kenia 02:39:55
3 Wudnesh Debele Äthiopien 02:51:06
442 Finisher