Der Kassel Marathon zählt zur Spitze der beliebtesten Laufveranstaltungen in Deutschland. Beim letztjährigen M4Y-Voting zum Marathon des Jahres 2016 gab es für das Laufevent in der Regionalwertung Hessen zum zehnten Mal in Folge die Silbermedaille. Grund für diese tolle Platzierung mag vielleicht zum einen daran gelegen haben, das die Vorjahres-Veranstaltung erstmals im Herbst und nicht mehr wie sonst im Frühjahr ausgetragen wurde. Oder lag es an der trefflichen Entscheidung der Veranstalter, den Zieleinlauf ins Auestadion zu verlegen?
Ein wesentlicher Faktor bildet in jedem Falle die ungebrochene Begeisterungsfähigkeit der Zuschauer sowie das unermüdliche Engagement der Helfer Rund um Orga-Teamchef Winfried Aufenanger. Mit mittlerweile 19 Trainings-Stützpunkten, in denen jedes Jahr nicht nur neue Läuferinnen und Läufer heranwachsen, sondern auch Lauftrainer ausgebildet werden, beweist die Großstadt Nordhessen vor allem eines: sie ist und bleibt Sportstadt.
Da sich die Stadt in Nordhessen nahe der Grenze zu Niedersachsen befindet, habe ich es als Hannoveraner nun wirklich nicht weit: nach nur einstündiger Zugfahrt spaziere ich bereits am Samstagvormittag von Bhf Kassel-Wilhelmshöhe in den Stadtteil Vorderer Westen. Kurz muss ich schmunzeln, da ich so bereits zwei attraktive Streckenabschnitte kennenlerne: die Wilhelmshöher Allee mit weithin sichtbarem Blick auf Bergpark, Oktogon und Herkules, dem Wahrzeichen der Stadt, und das prachtvolle Gebäude der Friedenskirche in der Friedrich-Ebert-Straße, direkt gegenüber von meinem Hotel gelegen.
Wie an jedem Marathonvortag entscheide ich mich für ein wenig Sightseeing. Schnell reift der Plan, zunächst bis hinauf zum Herkules zu schlendern und am späten Nachmittag dann entspannt die Startunterlagen im Auestadion abzuholen. Pustekuchen, denn ich habe am Marathonvortag Europas größten Bergpark gründlichst unterschätzt: nach einer ausgedehnten Wanderung kenne ich nun Schloss, Gewächshaus, Herkules (in diesem Jahr satte 300 Jahre alt geworden), Löwenburg, Aquädukt und Steinhöfer Wasserfall. Da es bald dunkel wird, entscheide Ich mich bloß noch fürs Hotel, gönne mir eine heiße Dusche und bin wenige Minuten später auch schon tief und fest eingeschlafen.
Nun, normalerweise ist es der Frühling, der neue Ideen, neue Anfänge und Ankündigungen bringt. Das neue Profil des EAM Kassel Marathon macht in diesem Jahr nicht nur alles richtig, sondern Bewährtes noch besser. Allein der Name macht den ersten Unterschied. Zum elften Mal insgesamt, zum zweiten Mal im Herbst und zum ersten Mal in den Farben Grün und Lila des neuen Titelsponsors EAM. Dementsprechend neu sind Marathon-Logo und die „Covermotive“ der beiden Topathleten des PSV Grün-Weiss Kassel, Melat Yisak sowie Jens Nerkampdas. Und dann ist da noch „Winnie“ - so heißt das neue Maskottchen. Der Emu tritt die Nachfolge von Laufschuh „Marakass“ an. Und ich nehme es gleich mal vorneweg: die aus meiner Sicht so ziemlich schönste Medaille Deutschlands wartet in diesem Jahr auf alle Finisher.
Mit der Tram erreiche ich zwei Stunden vor dem Marathon-Startschuss die Haltestelle Auestadion. In der gleichnamigen Halle sind Startunterlagenabholung, Nachmeldung sowie MarathonExpo untergebracht. Die Großsporthalle Auepark bleibt trotz Expo mit seinen Ausstellern, den vielen Aktionen sowie buntem Rahmenprogramm überschaubar. Ich erhalte einen hochwertigen und stabilen „Winnie“-Startersack in den offiziellen Farben lila, grün und weiß. Ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher, dass mir dieser hübsche Beutel von meiner jüngsten Tochter abgeluchst und künftig als Turnbeutel zweckentfremdet wird!
Die Freude auf die unmittelbar bevorstehenden Halbmarathon-Disziplinen (u.a. auch Handbiker und Power-Walking) als auch Marathon (Staffel) ist den vielen Gesichtern anzusehen. Viele Spendenläufer werden auch heute wieder für die „German Doctors“ am Start sein, ebenso sind zahlreiche Ärzte in den einzelnen Wettbewerben dabei und liefern sich ein „Spenden-Fernduell“ mit dem Köln-Marathon am gleichen Tag. Und sowohl eine beachtliche Anzahl an Unternehmen, Lauftreffs, Familien und Teams als auch Sponsoren, Partner und Förderer des Marathons trudeln nach und nach ein. Generationen treffen aufeinander. Hier wird herzlich begrüßt, gelacht, umarmt. So schließt sich der Kreis.
Schräg gegenüber der Halle stehen die Kleiderabgabe-Container Spalier. Bei meiner Gepäckabgabe treffe ich unter anderem den 20 Jahre alten Leonardo Ortolano, bloß in einem kurzen Kleidchen bekleidet. Er sei derzeit nicht in Halbmarathon-Bestform, will den Lauf daher locker-flockig angehen. Die coole Idee, kostümiert zu laufen, fiel, nachdem er einige Bierchen mit einer Freundin gezischt haben soll. Die Rakete finisht jedenfalls später mit 01:18. Im schwarzen Fummel soll‘s obenrum gescheuert haben.
Anschließend werfe ich noch einen kurzen Blick ins Auestadion, dem größten Stadion in Nordhessen. Dort versammeln sich gerade die BuZL – die Brems- und Zugläufer. Bei meinen bisherigen Läufen hatte ich mit Pacemakern stets lustige Begegnungen. Das wird heute sicherlich nicht anders. Kurz kommt mir der Gedanke, selbst mal zu Buzl'n...das wär' doch mal was?
So, wird Zeit, dass ich mich auf dem Weg zum Startraum auf der Damaschkestraße mache, unweit vom Stadion entfernt. Die lässige Stimmung gefällt mir hier schon mal sehr gut. Kurz vor dem Start kommt unter anderem noch Oberbürgermeister der Stadt Kassel und Schirmherr Christian Geselle zu Wort, wünscht allen Teilnehmenden Sportlerinnen und Sportlern eine gute Kondition und die Verwirklichung persönlich gesteckter Ziele. Sympathischer Mensch, wie ich finde.
Es folgt ein längerer Countdown. „...und wir zählen zusammen zurück! 10...9...8...“. Hat meine Laufuhr GPS-Signal gefunden? Na endlich. Laufschuhe fest geschnürt? Check! „ 5...4...3...“. Kamera-Akku voll aufgeladen? Drei Balken - sieht gut aus. „...2...1...UND LOS!“.
Kaum vom Stapel gelassen, geht es auch schon über die Fulda. Nach den gestrigen Regenschauern und Sturmböen, welche sogar für umgestürzte Werbebauten im Stadion gesorgt haben sollen, überrascht das heutige Wetter mit allerbestem Sonnenschein und angenehmen Temperaturen. Auf den ersten Kilometern umrunde ich zunächst die Kassel-Messe und laufe dann am Buga-See vorbei. „Laufen, schauen und berichten? Guck Dir das an, Lars. Der macht sogar noch Fotos!“. Ich gucke lachend über die Schulter. Zwei Buzl grinsen frech zurück, ziehen dabei Ihre „04.30“ - Ballons hinterher. Andreas mit der 183, Lars hat die 481. „Hast Dir 'ne bestimmte Zeit vorgenommen?“, fragt Andreas neugierig. „Bloß einmal um Kassel herum, gegen den Uhrzeigersinn“, entgegne ich. „Viel Glück, vielleicht sehen wir uns noch mal!“, ruft er mir scherzend hinterher. Leider wird er Recht behalten.
Die ersten Kilometer verfliegen wie immer im Nu, der noch dichtgedrängte Strom aus Läufern passiert die ersten Ortschaften. Ein wenig chaotisch stolpern die Räuber aus den Bremer Stadtmusikanten in Waldau los, während die Staffel-Läufer Hänsel und Gretel in Forstfeld nicht zu bremsen sind. Richtig gelesen: schnell fallen die jeweiligen Stadtteilschilder mit Ihren märchenhaften Motiven ins Auge. Bereits beim Kasseler Jubiläums-Marathon im Vorjahr begrüßten 13 Stadtteilschilder mit unterschiedlichen Motiven aus der Grimm‘schen Märchenwelt die Läufer jeweils in den verschiedenen Stadtteilen entlang der Strecke.
Plötzlich ein kurzer Freudenschrei vor mir. „SIEBEN!“, jubeln Maximilian und Michael aus heiterem Himmel, dicht gefolgt von einem kurzen Abklatscher. Dieses Ritual ziehen die witzigen Jungs konsequent durch, jeder Kilometer wird auf diese Weise gefeiert. Mal befinde ich mich vor den beiden, mal überholen sie mich, immer gut gelaunt und mit einen lockeren Spruch auf den Lippen.
In den Wohnvierteln warten in diesen frühen Morgenstunden bereits viele Zuschauergruppen auf die Läufer. Hierbei wird mir wieder einmal bewusst, welch ein tolles Gefühl das ist, wenn man in die Gesichter des Publikums schaut und ehrliche Begeisterung verspürt. Wirklich liebenswürdig, die Kasseler. Am VP bei km 10 schnappe ich mir einen Wasserbecher, blicke kurz zurück, staune nicht schlecht. Es wird zwar immer von den „Kasseler Bergen“ gesprochen, doch entgegen landläufiger Befürchtungen empfinde ich den Stadtkurs bislang als hervorragend zu laufen und vor allem eines: schnell! Na sowas?
Wer zieht denn da gerade mit ausdrucksloser Miene an mir vorbei? Ein Buzl mit wallender Mähne und pinkem Stirnband. Na warte, Lars, so nicht. Dann gebe ich mal wieder Gas. Kurz vor dem östlichen Stadtteil Bettenhausen dann der erste Staffelwechselpunkt, hier naht bereits Frau Holle mit ihrem Kissen.
Über die Staffel finden viele Hobbyläufer ihren Einstieg in die Langdistanzen. Vier Starter teilen sich die Königsdisziplin auf einer Streckenlänge zwischen neun und zwölf Kilometern auf, darunter Familien oder Vereine. Ich muss laut lachen, denn beinahe wäre ich in die Wechselzone gerannt. Ein Schelm, wer Böses denkt.
Auf den nächsten Kilometern laufe ich an alten Industrieanlagen vorbei und nähere mich Stück für Stück Unterneustadt. Hier liegt die Wiege des Stadtgebiets östlich der Fulda. Nördlich und südlich davon bestehen Wohnviertel mit Bauten aus dem 19. und früheren 20. Jahrhundert, durchsetzt mit Nachkriegsbauten. Über die 2011 fertiggestellte, sechsspurige Hafenbrücke geht es weiter zu den nächsten beiden Stadtteilen.
Die Bremer Stadtmusikanten versuchen sich am Wesertor gerade als Staffel, kurz danach erreichen wir schon VP 20. Max und Michael sind weiterhin gut gelaunt, verschlingen gerade einige Bananen. Haut rein, Jungs! Auf der Fuldatalstraße folgt der erste, lange Begegnungspunkt zwischen Einzelkämpfern und Staffelläufern. Respekt, denn die Entgegenkommenden haben einige Kilometerchen mehr in den Gliedern.
Der Wolf ist in Wolfsanger gerade satt und unbeweglich. Kein Wunder, denn hier steppt der Bär! Die Stimmung unter den Zuschauern will nicht abebben, ist fröhlich und ausgelassen. Gerade renne ich durch ein Cheerleader-Spalier, begleitet von fetten Beats. Gänsehautmoment, am liebsten will ich noch mal umkehren und erneut da durch!
In einer Terassensiedlung dann der Wendepunkt, wir rennen zurück Richtung Stadtmitte. Solche Passagen begeistern mich normalerweise nicht, aber gerade muss ich lachen. Hinter mir höre ich nämlich, wie sich die Buzl'er Andreas und Lars lautstark nähern. „Kassel, hier kommen wir, die 04:30er! Wir wollen Euch jubeln hören!“. Buzl mir doch einer 'nen Storch: Freudenschreie aus dem Publikum, es wird gejauchzt und gejohlt. Ich staune nicht schlecht, bin jedenfalls motiviert, vergrößere den Abstand. Muss doch machbar sein, die Boygroup im Nacken zu lassen.
An der großen Kreuzung Weserstraße/Kurt-Wolters-Straße Richtung Nord Holland werde ich plötzlich abgebremst. „Wie cool, der läuft und macht Fotos! Lass zusammen 'eins machen! Ich heiße übrigens Fabio!“. Dann spricht er einen Passanten an, ob er von uns mal „eben schnell“ ein Foto machen könne. Derweil nähern sich erneut die Ballonträger. Kaum ist das Foto im Kasten, renne Ich weiter. „Denk dran, Fabio war's!“, ruft er noch begeistert hinterher.
Das Läuferfeld hat sich derweil weiter auseinandergezogen. Nordwärts geht es die Fiedlerstraße hoch, neben der schönen Ahne entlang, einem knapp 21 km langen Zufluss der Fulda. Ich ahne es schon: auf der Bunsenstraße führt der sternförmige Stadtkurs nach mehreren Kilometern wieder Richtung Innenstadt. Dieser Streckenabschnitt markiert den längsten Begegnungspunkt. Wer will, kann hier übrigens „Kasseler Meeressand“ sammeln: fossile Muscheln, Fischwirbel und Haifischzähne. Die Hänge der Ahne bestehen nämlich aus Muschelkalk und tertiärem Sand. Eigentlich sollte ich besser die Marathoni vor mir einsammeln, bleibe aber für so manche Aufnahme gerne stehen. „Da ist er ja wieder, unser Laufreporter!“. Oh Nein...
Auf den letzten zehn Kilometern gebe ich nochmals Gas, nehme jeden Becher Iso mit, den ich kriegen kann. Es folgen die Stadtteile Rothenberg und Kirchdirmold, aber das registriere ich nur am Rande, denn ich will nun ehrgeizig unter 04:30 finishen. Als ich schließlich den Vorderen Westen erreiche und die Friedenskirche mit Ihren Kupferbeschlagenen Türmen erblicke, nehme ich mir fest vor, mein Lauftempo beizubehalten. Eine ältere Passantin gibt mir recht. „Nun ist es nicht mehr weit ins Ziel, toll macht Ihr das!“. Solche Sätze gehen auf den letzten Kilometern runter wie Öl.
Das tapfere Schneiderlein ist derweil in Kassel Mitte noch im Rennen, doch auch der Froschkönig hüpft in Wehlheiden dem Ziel entgegen. Märchenhaft reiht sich Stadtteil an Stadtteil. Auf der Wilhelmshöher Allee heizen Trommler nochmals ein, während der griechische Halbgott Herkules von weitem ein letztes Mal anerkennend auf all jene Läufer hinunter blickt, die es bis hierhin geschafft haben. Nach wenigen hundert Metern verlassen wir diesen Abschnitt auch schon wieder, erneut wird abgebogen.
Vorbei an bunten Ballons fliege ich die Gräfestrasse hinunter, werde von den dortigen Anwohnern aufs herzlichste angefeuert. Vor dem Auestadion stehen viele Staffeln Spalier, warten auf die Schlussläufer. Ich renne an allen vorbei, denn ich freue mich jetzt auf den Schlusssprint. Es folgt der Einlauf ins Stadion, ich genieße mit jeder Faser dieses Marathon-Highlight, umrunde die zentrale Rasenfläche. Während ich so über die Tartanbahn schwebe, versuche ich meine Familie auf der Zuschauertribüne ausfindig zu machen, kann meine Lieben aber nirgends entdecken. Das Publikum winkt, ruft, klatscht! Zieleinlauftor voraus! Ich hechte hindurch, nehme dankend die sehenswerte Maskottchen-Medaille in Empfang.
Ausgelassene Stimmung unter den unzähligen Finishern. Ich treffe noch auf Maximilian, frage ihn, wo er Micha gelassen hat. „Der kommt noch nach, ich will ihm jetzt entgegenlaufen. Hat Spaß gemacht!“, ruft er mir noch winkend zu und verschwindet wieder in der Menge. Meine Rede, lieber Max. Hoffe, ihr habt an diesem Tag noch ordentlich gefeiert? Und wen treffe ich nach dem Duschen an? Frau und Tochter. Dicke Umarmung! Sie hatten mich leider um wenige Minuten verpasst, standen im Stau. Absolut nicht schlimm, denn was gibt es schöneres, als nach einem Marathon seine Liebsten zu Busseln?
Auf dem Rückweg nach Hannover wurde ich durch die Portale vieler großer Medien auf die Marathon-Panne aufmerksam. Die Spitzengruppe wurde bei Kilometer 19 falsch geleitet - dadurch war für sie das Rennen vorbei. Was auch immer zu dem Fehler führte, der Veranstalter hat sofort reagiert und die ausgelobten Prämien auch ohne Finish ausbezahlt. Und die betroffenen Sportler haben spontan zugesagt, im nächsten Jahr wieder in Kassel an den Start zu gehen.
Das gesamte übrige Läuferfeld war übrigens nicht betroffen. Keiner hat, wie ich auch, etwas davon mitbekommen. So überwiegen ganz klar die vielen Highlights des diesjährigen EAM Kassel Marathon. Diese habe ich mit jeder Faser an diesem Wochenende genossen.
Männer
1 Miereczko, Maciek VFB Erfstadt 02:27:39
2 Unewisse, Frederik LG Region Karlsruhe 02:31:03
3 Hoffmann, Oliver TSV Kirchhain 02:33:37
Frauen
1 Langat, Daisy 02:39:31
2 Kiprono, Prisca Kenia 02:47:29
3 Altmann, Silke LC Marathon Rotenburg 03:23:18