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Laufberichte

Leidenschaft, die Leiden schafft

 

 

Aarberg – Gemeinsam geht es leichter

 

Aarberg, einer der Laufabschnitte, die du nicht vergessen wirst. Die 60 Meter lange überdeckte Holzbrücke wurde 1567/1568 erbaut. Fichtenstämme bilden die tragenden Elemente, während viel Eichenholz für den Rest verbaut wurde. Und unten ziehen die Wasser der Alte Aare still und ruhig ihre Bahn. Ich kann mich noch erinnern, als man für die Läufer einen blauen Teppich hingelegt hat. Schon immer liegen hier die Fotografen auf der Lauer, um einen der typischen Schnappschüsse vom Bieler Hunderter zu machen.

Ein paar Meter weiter entfernt werden in Kürze die Staffeln ihren zweiten Mann und Frau auf den weiteren Weg schicken. Noch ist von der Spitze nichts zu sehen, aber die werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Nach zwei, drei Minuten können wir erneut verpflegen. Für die ersten 20 Kilometer zeigt mir die Uhr zwei Stunden und sieben Minuten an. Das passt. Ich fühle mich gut. Auch wenn mich die warme Nacht schwitzen lässt.

In Lyss (etwa Kilometer 23) stoßen die Radbegleiter auf ihre Läufer. Entsprechend laut geht es zu, damit sich die Pärchen auch finden. Mit gegenseitiger Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit kann ich ohne Behinderung weiter laufen. Ich versuche Norbert, Birgits Begleitung, ausfindig machen kann, aber ohne Erfolg.

Dafür kommt einer von hinten, den ich eigentlich viel weiter vorne vermutet hatte, Stefan Heckl. Er hat meinen Ratschlag angenommen und ist sehr langsam gestartet. Wir beschließen, ein Stückchen beieinander zu bleiben. Gemeinsames Leid ist halbes Leid, sagt man ja. Tatsächlich vergeht die Zeit schneller. Auffällig sind nun ein paar Sachsen, deren Radbegleiter mit Schlagermusik aufwartet. Auf mein. „Da musst du etwas Schnelleres spielen, sonst schlafen die noch ein,“ sage ich. Die härtere Musik würde er für später aufheben, meint er.

Bis Grossaffoltern (Kilometer 32) steigt die Strecke gleichmäßig um 70 Höhenmeter nach oben. Gerade in den kleinen Orten wir Ammerzwil, Vorimholz und Scheunenberg ist die Jugend noch nicht müde. Jungs und Mädels hocken gesellig am Rand der Strecke und feuern uns an. Manche haben gleich Kisten mit Getränken (für den Eigengebrauch) mitgebracht.

Ein wenig zermürbend ist das Limpachtal. Du läufst sechs, sieben Kilometer immer geradeaus auf einer Landstraße. Keine Kurve, keine Hügel, immer straight on. Für eine Unterbrechung sorgen die Helfer, die eine Kreuzung mit Lampen beleuchten, damit wir gefahrlos die bevorrechtigte Hauptstraße nach Schnottwil überqueren können. Und die Helfer machen ihren Job gut. Lieber halten sie ein Auto mehr an, als dass ein Läufer behindert wird. Danke.

Bereits bei Kilometer 35 sehen wir das Ziel der Marathonis in Oberramsern. Dort haben die fertig. Nur wenige Läufer haben unsere 30 Minuten Vorsprung  aufholen können und sind jetzt am Überholen. Schade, dass nur rund 150 Sportler sich an den 42,195 Kilometern versuchen. Es ist doch eine Gelegenheit gerade für die langsameren Läufer, die mit einer knappen Sollzeit woanders Probleme bekommen, einen Marathon ohne Zeitdruck zu finishen. Auch für Ultraläufer und Trailrunner ist dieser Marathon ein ideales Nachtlauftraining in toller Atmosphäre. Aber wer nicht will …

Wir laufen in Oberramsern ein, die Marathonis werden nach links ins Ziel geleitet, wir rechts daran vorbei. Wer Probleme kann es hier bei der Teilstrecke 1 belassen und mit 38 gelaufenen Kilometern aussteigen. Rund 80 Sportler werden davon Gebrauch machen. Hinter dem Marathonziel können wir an der großen V-Stelle ausgiebig verpflegen. Während ich nur spartanische Kost, zwei Becher Getränke, ein Stückchen Brot oder eine Banane, zu mir nehme, ist mein Begleiter verfressen. Er braucht deutlich länger als ich. Beim Wien Marathon hat er es noch bunter getrieben, auf den letzten zwölf Kilometer zog es sich drei Halbe Bier rein.

Unser Kurs dreht nun nach Südosten. Wir müssen das Limpachtal verlassen, es warten rund 100 Höhenmeter auf den nächsten acht Kilometern. Irgendwo auf dem Streckenteil überlaufen wir die Marathonlinie. Kurz vor Buechhof werden wir im Wald kontrolliert. Schon seit jeher sind auf dem Hunderter ein oder zwei nicht bekannte Check Points eingerichtet, wo du einen Stempel auf die Startnummer bekommst. Sonst könnte man ja zwischen den Teiletappen abkürzen oder sich fahren lassen. Partystimmung ist in Buechhof. Ich bleibe stehen und sofort winkt mich ein Jugendlicher heran. „Hast ein Bier?“, frage ich. Er hat nur Whiskey-Cola im Angebot …

In Jegensdorf, ein paar Kilometer weiter, bin ich erfolgreicher. Ein Helfer holt aus seinem Haus eine Flasche Bier und meint, ich soll die Bottle gleich mitnehmen. Mittlerweile hat mich an der V-Stelle die Fotografin Anita Vozza vom Bieler Tagblatt in ihr Fotostudio an der Stirnwand eines Stadels zum Fotoshooting abgeschleppt. So komme ich vielleicht als Biergenießer in die Zeitung.

Um 03.24 Uhr bleibe ich vor dem 50 Kilometer-Schild stehen, Halbzeit. Knapp 5.30 Stunden bin ich unterwegs. Wie lange werde ich für die zweite Hälfte benötigen? Und wird es mir weiterhin gut gehen? Fragen über Fragen. Stefan drückt seit geraumer Zeit aufs Tempo. Zwar braucht er an den Tankstellen länger als ich, aber dazwischen ist er einen Tick schneller. Ich werde ihn demnächst ziehen lassen müssen.

Kurz nach 04.00 Uhr sind wir in Kirchberg, wo die Teiletappe 2 endet. Auch hier werden gut 80 Läufer aussteigen. Die Bieler Regel heißt: Wenn du es bis Kirchberg schaffst und weiterläufst, dann wirst du die 100 Kilometer erfolgreich finishen. Tatsächlich, in Bibern,  gut 20 Kilometer weiter, steigt kaum mehr einer aus. Ich verpflege gut, schnorre noch einen Schluck Bier von den Zuschauern und mache mich weiter auf den Weg. Stefan ist mir inzwischen weggelaufen.

 

Auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad

 

In ein paar Minuten werden die Radbegleiter von unserer Laufstrecke ausgeleitet, denn es geht auf den Emmendamm. Ein hartes Stück Arbeit ist diese etwa neun Kilometer lange Etappe, denn meist ist der Untergrund ruppig. Im langen Gras kannst du Zecken einsammeln oder die Wurzeln und groben Steine könnten dir zum Abflug und zur unsanften Landung verhelfen. Der wichtigste Gegenstand kommt jetzt zum Tragen, die Hirabira, wie Greppi zur Stirnlampe sagt. Ohne Licht siehst du hier nichts, denn der Pfad ist nach oben zugewachsen.

Ich bin nur einige Augenblicke unterwegs, da kommt von hinten ein Mädel heran und fragt artig, ob sie sich anschließen darf. Sie hat keine Lampe. So habe ich jetzt noch eine Führungsaufgabe. Später wird der Untergrund rustikal und ich höre von hinten Stolpergeräusche. Damit auch nichts passiert, warne ich meine Verfolger mit einem „Stein, Wurzel oder Vertiefung“ vor den Gefahrstellen.

Nach einer halben Stunde mehr oder weniger Stolperei kommt die Verpflegungsstelle bei Utzensdorf. Jetzt sehe ich erst, dass sich mir auf dem Weg durch den „Urwald“ mehr als zehn Läufer angeschlossen haben. Ich erbettele mir wieder einen Becher Bier von den Besuchern des Streckenfestes und mache mich dann allein auf den letzten Teil des Pfades, der nun nicht mehr so gefährlich ist. Aber vom rechten Weg abkommen darfst du nicht, denn dann kannst du in Dornenhecken oder Brennnesseln landen, oder auf Wackersteinen aufschlagen und im Morast eintauchen. Keine schöne Aussicht, wenn es hinunter geht. Etwa bei Kilometer 66 warten die Radbegleiter auf ihre Läufer. Recht schweigsam sind die. Nicht mal ein lautes „Guata Morga“ wird erwidert.

 

Die Nacht geht, der Tag kommt

 

In Gerlafingen konnte ich vor Jahren einen Läufer sehen, der ermüdet auf einer Betongartenmauer geschlafen hat. So langsam wird es jetzt hell. Es graut der Morgen. Vielleicht graut es auch dem Morgen, wenn man die Gestalten sieht, die dahinschleichen? Nein. Wir sind zwar alle langsamer geworden, aber unser Ziel ist klar definiert: Das Bieler Kongresshaus.

Lüterkofen, keine 30 Kilometer mehr zum Ziel, eigentlich bei der Marathonvorbereitung eine übliche Streckenlänge. Aber jetzt? Nur unwesentlich bin ich langsamer geworden, kann aber kaum jemanden überholen. Habe ich eine Krise? Irgendwann trifft es auf den Hunderter jeden. Manchmal könnte man schon am Anfang aufhören, manchmal wird es der späten Nacht schwer und manchmal scheinen die letzten Kilometer unüberwindbar.

Bis Bibern müssen wir etwa 50 Höhenmeter gewinnen. Zwar nicht steil, aber die einsehbare Landstraße geht mir aufs Gemüt. Ich kann gerade noch Gehpausen vermeiden. Bei meinem letzten Start in Biel hat es mir hier erwischt, als ich an der Trinkstelle Ichertswil zwei Becher zu schnell getrunken habe. Fürchterlich schlecht war mir danach. Ein wenig fängt es jetzt zu regnen an, das aber nicht stört. Es ist überhaupt nicht kalt, obwohl ich immer noch mein kurzes Shirt anhabe.

Bibern im Biberental, die vorletzte Etappe für die Staffeln beginnt hier. Und von uns werden nur mehr sehr wenige in den Bus einsteigen müssen, weil es nicht mehr weiter geht. Der halbe Ort ist mittlerweile auf den Beinen und hat sich an der Wechselstelle und am Verpflegungsstand versammelt. Jeder erhält seine persönliche Ansprache. „Guat“ und „suprr“ ist das Mindeste.

Ich greife bei Getränken und Obst zu und mache mich an den letzten Anstieg, den wohl außer den Eliteläufern jeder marschieren muss. Mit 15 Prozent Steigung schraubt sich die Straße auf die Anhöhe hinauf. Vor mir laufen, nein, marschieren zwei mit einem identischen Shirt, das das Wappen des Kantons Wallis zeigt. Fredy Zimmermann und Alexander Juon werden nun länger in meinem Umkreis laufen, denn mal sind die beiden vorne, dann wieder ich. Nach fünf bis zehn Minuten strammen Gehens habe ich die Steigung überwunden, ich kann wieder joggen.

Später blicken wir jenseits des Höhenzuges hinunter in das Aaretal. In der nächsten Ortschaft Arch können wir wieder verpflegen. Ein Thermometer zeigt 18 Grad. Entweder läuft es wieder ab hier oder du bist im Arsch. Die 80er-Marke befindet sich am Ortseingang. Noch 20 Kilometer, keine drei Stunden mehr, dann könnte ich den Hunderter in sub zwölf Stunden schaffen. Mittlerweile kommen immer wieder Staffelläufer von hinten.

Wir unterqueren die Bahnlinie nach Solothurn und schon sind wir an der Aare, die der wasserreichste Zufluss des Rheins ist, noch vor Mosel und Main. Die Aare und der Nidau-Büren-Kanal werden uns bis zum Ziel begleiten. Wenigstens warten keine Berge mehr. Aber mir geht es nicht gut, ich kann nur mehr wechselnd joggen und marschieren.

 

Steigerungslauf zum Schluss

 

Kilometer 85. 2.20 Stunden für eine sub 12 Stunden, ich bin mittlerweile skeptisch, ob ich das noch schaffe. Das Kopfrechnen geht auch nicht mehr. Immer wieder Gehpausen, ich bin schon am Fluchen. Frühzeitig sehe ich die gedeckte Holzbrücke von Büren und die Stadtkirche. Wenige Fans haben sich zum Frühstück an der dortigen Verpflegungsstelle eingefunden.

Auf der folgenden Teerstraße brauche ich wieder eine Gehpause. Meine Walliser Freunde joggen heran und fallen wieder in den Wanderschritt, als ich zum Joggen anfange. So kann es nicht weitergehen. Ich muss etwas ausprobieren. Ich habe noch ein Gel in der Tasche, habe aber die Befürchtung, dass mir davon schlecht werden könnte. Trotzdem futtere ich das Zeug im Zeitlupentempo und brauche dafür fast zwei Kilometer lang. Die Kamera verlangt dann auch noch frischen Saft. Lieber jetzt als bei Kilometer 98.

Doch dann zündet das Gel meine Energie, ich kann wieder laufen und muss nur noch bei Kilometer 95 stehen bleiben, da ich dort noch einen Schluck Cola nehme. Selbst zwei, drei Staffelläufer kann ich überholen. Der 97. Kilometer bringt uns schließlich in ein Industriegebiet, das bereits zu Biel gehört. Die letzten Schilder kommen in schöner Regelmäßigkeit. Da bringen mich auch nicht mehr die zwei Überführungen über eine Straße aus der Ruhe. Die zwölf Stunden sind längst im Sack. Vielleicht geht noch eine Zeit unter 11.30 Stunden, ich will mich überraschen lassen und checke die Zeit nicht mehr.

Dann das letzte Kilometerschild: 99, gleich hat die Schinderei ein Ende. Noch ein paar Mal um eine Ecke, dann höre ich bereits Moderation. Eine super Idee, die Gänsehaut verschafft, ist das Durchlaufen des Verpflegungszeltes, die Leute klatschen. Nochmal links herum und dann wird ein weiterer Finisher angekündigt: Ich, der Anton. Der sechste Hunderter ist im Sack. Die vielen Zuschauer machen Stimmung. Mir hängt man eine Medaille um.

 

Zielimpressionen

 

An der Treppe zum Kongresshaus hockt Stefan. Das erste, was er sagt (zu seiner Frau): „Hol drei Bier! Die haben wir uns jetzt hart verdient.“ Er landet als Neuling auf dieser Distanz auf Gesamtrang 148 und kommt mit einer 10.42 Stunden ins Ziel. „So was mach ich nimmer,“ ist sein Kommentar.  Bei mir zeigt die Uhr 11.26 Stunden (Gesamtrang 236). Ich bin hochzufrieden.

Fazit: Wer einen Hunderter probieren will, ist in Biel an der richtigen Adresse. Orga, Verpflegung und Strecke passen. Die Helfer sind aufmerksam und machen alles für die Läufer, Zuschauernester gibt es immer wieder. 743 Männer und 183 Frauen haben die Hunderterprüfung erfolgreich bestanden. 216 sind auf einer der drei Teilstrecken klassiert.

Die Bedingungen waren perfekt. „Boss“ Jakob Etter hat wohl in einer Kirche eine Kerze angezündet und damit die Gewitterfront vertrieben. Ihre eigene Geschichte hat Birgit geschrieben, sie musste lange gegen die Müdigkeit ankämpfen, hat es aber auch geschafft. Ihr und allen Finishern ein Chapeau. 100 Kilometer sind eine Leidenschaft, die manchmal Leiden schafft!

 

Siegerliste

 

100 km

Männer

1. Eggenschwiler Bernhard, Büsserach         7:02.42,7
2. Boch Michael, F-Saverne                   7:14.22,8
3. Thallinger Rolf,  Burgdorf                 7:26.07,5

Frauen

1. Zimmermann Denise, Mels                   8:38.31,8
2. Ahrendts-Konold Silke, D-Herbrechtingen   8:43.14,8
3. Kern Karin, D-Wäschenbeuren               8:57.59,0

926 Finisher

Marathon

Männer

1. Kläusli Manuel, Nidau                     2:52.17,3
2. Rubusch Lothar, Dierikon                  3:05.26,4
3. Muller Pascal, F-Seltz                    3:07.20,4

Frauen

1. Tuch Carolin, D-Schmölln                  3:08.15,2
2. Sobrino Karen, St. Gallen                 3:15.06,3
3. Göldi Elena, Höchstetten                  3:26.14,0

159 Finisher

12
 
 

Informationen: Bieler Lauftage
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