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Laufberichte

In den Tälern des Todes

 

Biel. Einmal im Leben... Ihr wisst schon, einmal ... und dann immer wieder. Also stehe ich heute zum dritten Mal in Folge am Start. Leider kommen wir erst 15 Minuten vor dem Startschuss am Kongresshaus an - wir sind unter Strom, können keine Taschen mehr abgeben und ich kann keine Fotos machen. Die Kamera über 100 km mitzutragen ist illusorisch - in Biel geht es für mich ums blanke Überleben und das duldet keine Nebenkriegsschauplätze. Marianne läuft den Nachtmarathon und sie hat mir ein paar Bilder versprochen. Unterwegs bitte ich noch etliche Hobbyfotografen um Material. Mal sehen, ob sie Wort halten.

Das Wetter ist perfekt, 25 Grad und kein Wölkchen am Himmel, in der Nacht wird es also auch nicht zu kalt werden. Die Ausstattung vieler Läufer gibt jedoch Rätsel auf. Vor allem: Was befindet sich in den zum Teil riesigen Rucksäcken? Ich spekuliere, dass dies heute für einige ein Trainingslauf mit Gepäck sein könnte. Bunt sind sie, die Bieler Starter, ein Querschnitt durch alle Läuferschichten und durch sämtliche Finisher-Kleiderschränke. Werden sie alle im Ziel ankommen? Die Nacht hat ihre eigenen Gesetze.

Am Start dominiert Gelassenheit. Kein nervöses Hufescharren, kein aufgeregtes Einlaufen. Der Startschuß fällt pünktlich und der Tross setzt sich sehr bedächtig in Bewegung. Viele laufen in kleinen Grüppchen oder mit einem Partner. Mit dem 100-km-Lauf startet auch der Partnerlauf: eine Staffel aus 2 Personen, die sich die Laufstrecke (56 und 44 km) teilen. Die Militärpatrouille dagegen besteht aus 2 Personen, die den Lauf gemeinsam komplett absolvieren, und sowohl Kontrollstellen als auch Ziel miteinander passieren müssen. Militärpatrouillen dürfen Zivilkleidung tragen und sind deshalb nicht immer zu erkennen. Bei der Militärstaffette und der klassischen Staffette dagegen bilden 5 Läufer eine Staffel. Die Militärstaffetten laufen in Tarn-Dienstkleidung. Alle Staffetten starten eine Stunde hinter dem Hauptlauf.

Nachtmarathon und Halbmarathon starten 15 Minuten nach dem 100-km-Lauf und absolvieren innerorts noch eine zusätzliche Schleife von ca 4 Kilometern, bevor sie unsere Verfolgung aufnehmen. Das Ziel des HM befindet sich daher bei km 17 des 100-km-Laufs, das des Marathons bei km 38. Zudem gibt es noch ein Inliner-Rennen und Kinderläufe. Mit jährlich 1.500 und mehr Startern allein auf der 100-km-Strecke erfordert die Veranstaltung eine hohe Logistik und eine perfekte Planung. Es klappt alles wie am Schnürchen.

Unter den Anfeuerungen und dem Jubel der Zuschauer laufen wir ein paar Schleifen in der Innenstadt und dann hinaus in die Nacht. Es ist hell heute, die Stirnlampe wäre kein absolutes Muss gewesen. Schnell ist die zweite VP bei km 10 erreicht. Das rhythmische Tapp-Tapp-Tapp-Tapp auf den betonierten Feldwegen ist lange Zeit das einzige Geräusch. Schon seit dem Verlassen der Stadt wird kaum mehr gesprochen und jeder versucht, in seinen Lauf zu finden. Der Führende des Halbmarathons wird von seinem Radler lautstark angekündigt. Er läuft unglaublich schnell, findet aber so gut wie keine Beachtung. Es soll 5 km dauern, bis der Zweit- und Drittplatzierte an uns vorbeiziehen.

Kappellen bei km 15, und dann sind wir auch schon in Aarberg und laufen im Blitzlichtgewitter über die historische Holzbrücke. Hier steppt wie in jedem Jahr der Bär. Nur wenige Meter dahinter lassen wir das Halbmarathonziel links liegen und laufen über den großen und festlich erleuchteten Dorfplatz. Zuschauermassen säumen unseren Weg. Viele Staffettenläufer warten hier auf ihren Einsatz.

Dann tauchen wir wieder ein in die Nacht: Über Lyss, Ammerzwil, Grossaffoltern und Vorinholz erreichen wir Scheunenberg bei km 30. Die Anwohner nutzen den Lauf für private und organisierte Feste. Zum Teil frenetisch werden wir in den Orten von vielen Zuschauern bejubelt und mit Musik und Moderation empfangen. Die Anwohner stehen in ihren Hofeinfahrten und auf der Straße. Alles ist hell erleuchtet. Die Stimmung ist gut. Die VPs sind in der üblichen Biel-Qualität und  -Vielfalt ausgestattet und groß genug. Hier muss man sich wirklich nichts für unterwegs mitnehmen. Dann geht es wieder hinaus in die Stille.

Die Begleitradler sind seit km 20 mit uns auf der Strecke. Das ist auch so ein Thema. Manche machen ihre Sache gut und fahren umsichtig, andere sind damit schlicht überfordert. Ich möchte auch mal wissen, was die so alles in ihren riesigen Gepäcktaschen und Rucksäcken dabei haben? Sind Begleitradler generell sinnvoll? Vor allem auf so belebten Strecken wie in Biel? Für mich sind sie eher hinderlich. Vor allem später, in den letzten Stunden des Laufs, wenn sie vor Müdigkeit oft fast selbst vom Rad fallen.

Schon nach wenigen Kilometern habe ich gemerkt, dass heute nicht mein bester Tag ist. Ich laufe schwerfällig und unrund und jeder Kilometer kostet viel Kraft und Konzentration. Schon bei km 20 fühle ich mich deshalb wie sonst nach dem Marathon. Das kann ja noch lustig werden. Mühsam errechne ich bei km 30 die noch zu laufenden Restkilometer - ein klassischer Anfängerfehler. Es liegt ganz klar auf der Hand, dass ich das nicht schaffen kann. Da hilft nur Verdrängen. Bei km 38 in Oberramsern ist das Marathonziel, jetzt erst mal bis dorthin kommen und am besten an nichts mehr denken.

Die Nacht ist lau und es duftet nach Heu. Aber es ist auch 1 Uhr durch und mich lähmt eine erste Welle der Müdigkeit. Die folgenden 8 Kilometer führen mehr oder weniger schnurgerade durch Felder und durch die Einöde. Ein Tal des Todes, das kein Ende nehmen will. Die einzige Unterhaltung ist das Piepsen der Uhr bei jedem absolvierten Kilometer. Das Läuferfeld hat sich schon sehr entzerrt, aber immer noch spricht keiner. Ich überhole einen erschöpften Schweizer, der mich per Handzeichen darum bittet, sich bei mir anhängen zu dürfen. Kein Problem. Das Tapp-Tapp-Tapp-Tapp wird schon deutlich langsamer.

Inzwischen überholen uns immer mehr Marathonläufer, unter ihnen aber nur die ersten beiden Damen. Schnelle Staffetten haben uns auch schon erreicht. Schon fast haben wir die Hoffnung aufgegeben, da taucht das Marathonziel mit großer Infrastruktur vor uns auf. "100-km-Lauf, erstes Teilstück, Oberramsern" lese ich auf einem Schild. Ich fühle mich bereits wie nach 27 Teilstücken. Noch 62 km, immer noch mehr als die Hälfte... Normalerweise müsste man hier noch locker laufen können.

Doch wenigstens ist der Widerstand gebrochen und ich rebelliere nicht mehr innerlich gegen die noch zu laufenden Kilometer - ich schalte geistig total ab. Schlurf-schlurf-schlurf-schlurf, aber den anderen geht es auch nicht besser. Diese nicht mehr vorhandenen Emotionen wirken sich jetzt auch auf meinen Bericht aus, denn die Wahrnehmung ist selektiv und beschränkt sich im wesentlichen nur noch auf die Cola an der VP. Man muss Prioritäten setzen. Wahrscheinlich deswegen sind die letzten 60 km von Biel genauso schnell erzählt wie die ersten 10. Wanderer, siehst Du nicht das Blümelein am Wegesrand? Weder das, noch Kühe. Ich glaube, es gibt gar keine Kühe in der Schweiz, das ist alles nur Marketing. Ich kann die Augen nicht mehr offen halten.

Die Anwohner schnarchen längst in ihren Betten und so ist jetzt in den Dörfern nicht mehr viel geboten. Die, die jetzt noch ausharren, sind zum Teil mit Vorsicht zu genießen. Einmal laufe ich an einer lärmenden Horde Jugendlicher vorbei, da höre ich es rufen:  „Alder, gugg Dir die Mudder an!" - und alles lacht. Ja, so ist das halt.

Die Kilometrierung ist in 5er-Schritten ausgegeben und ich bin glücklich, als ich mitten im Feld einsam und verlassen das km-50-Schild finde. Ab jetzt gehts direkt nach Hause, der Lauf ist so gut wie in der Tasche. Man kann sich alles einreden. Jetzt läuft es auch mal gerade richtig gut, und in Emil hab ich den perfekten Begleiter gefunden. Nach ein paar Kilometern trennen sich unsere Wege aber wieder.

Ich schaffe es tatsächlich bis nach Kirchberg bei km 56. Nach der kurzen Pause - ich will schlafen !!! - fällt das Anlaufen jetzt schon besonders schwer und ich watschle mühsam einer Dame hinterher, die unverdrossen lockeren Schritts Richtung Emmendamm zieht. Es wird schon langsam hell, ich bin etwas hinter meinem groben Zeitplan. Den Ho-Chi-Minh-Pfad nicht im Dunkeln laufen zu müssen, ist aber auch ok. Man muss die Füße heben und sich konzentrieren, was mir beides nicht mehr so ganz leicht fällt.

Das nächste Tal des Todes erwartet mich gleich dahinter in Form eines endlos langen schmalen Weges, der an einem Mäuerchen entlang führt. Ich wusste nicht mehr, wie lange das ist und durchlebe tausend Foltern. Bitte lasst mich hier raus!!! Meine Fußsohlen brennen, ich will zurück auf den Asphalt... Bevor wir den Fluss queren, der sonst eher ein Bächlein ist, sehe ich rechts schon die Sonne am Himmel stehen. Es verspricht ein wunderschöner Tag zu werden, und sicher wird es auch gleich richtig schön warm. Ich habe noch über 30 Kilometer.

Inzwischen sind die Mitläufer aus ihrer Nachtstarre erwacht und in ihrer Verzweiflung gesprächsbereit. Es sind immer dieselben, wir überholen uns ständig. Das ist nett. Ein bißchen zwischenmenschlicher Kontakt tut jetzt gut.
Durch verschlafene Dörfer führt unser Weg, bis wir die Straße queren und bei der VP kurz hinter km 70 ankommen. Ich frage nach dem Dixiklo und die besorgte Helferin sagt mir, dass ich doch besser bis zur nächsten Station bei km 76 weiterlaufe, und dann ab dort den Bus nehme. Sehe ich so schlimm aus? Keinen Kilometer weiter bietet mir eine fremde Begleitradlerin Traubenzucker und Isogetränk an. Ich scheine also wirklich ein jämmerliches Bild abzugeben, wie ich da so vor Demut gebeugt dahinschlurfe. Es ist aber nicht so, dass die anderen sehr viel anders aussehen.

Die letzte Kontrollmatte in Bibern ist erreicht und ich bin nur noch 6 Minuten hinter der Zeit vom Vorjahr, habe auf dem letzten Teilstück gut was rausgelaufen. Meine Zielzeit allerdings wird fast 50 Minuten langsamer sein als 2012. Nein, ich nehme nicht den Bus, ich denk nicht dran. Der Musikant, der sonst oben am Berg spielt, hat wohl schon Feierabend gemacht, schade. Hinauf, ein Stück flach, und hinten ein wundervolles Bergab-Stück. Die Oberschenkel brennen. Jetzt sind es nur noch 23 Kilometer an der Aare entlang. Das Ziel ist 21 Stunden offen, also herrscht kein Zeitdruck.

Durch das Hochwasser erscheint mir die Aare doppelt so breit als sonst. Die Strömung ist richtig stark, an vielen Stellen bilden sich große Strudel und Strömungswellen. Wir laufen entgegen der Fließrichtung, also wäre Hineinfallen kontraproduktiv. An einigen Uferstücken fehlen noch 5 cm Wasserhöhe, dann wäre unser Weg überflutet. Das hat der Orga die letzten Tage sicher ein paar Sorgen bereitet. Manche Stellen sind mit Flatterband gesichert.

Ja, es zieht sich hier am Flusstal - um im Bild zu bleiben - tödlich. Die Sonne brennt herunter, und ich werde langsamer und langsamer. Die letzten 10 km sind besonders schlimm und ich erwäge ernsthaft Gehpausen einzulegen, , traue mich dann aber doch nicht, schließlich heißt es nicht 100-km-Walk. Mir fällt auch auf, dass viele Männer gehen, die Frauen aber ausnahmslos laufen.

Wie lange doch so ein einziger Kilometer sein kann. Ich will nur noch nach Hause. Bei km 95 holt mich Axel ein, auf dessen Gesellschaft ich schon seit km 70 hoffe. Er ist aber richtig gut drauf  und so muss er nicht seine Zeit mit mir vertrödeln. Nie war ich so glücklich, ein Kilometerschild zu sehen wie jetzt bei km 99. Gelegentlich habe schon mal über die entrückten Läufer-Fotos an diesem Schild gelästert, doch heute muss ich unbedingt auch eins haben.

In der Stadt werden wir beglückwünscht und beklatscht. Wenige Meter vor dem Ziel dürfen wir das Festzelt durchlaufen, das direkt über die Strecke gebaut ist. Jeder Läufer wird bejubelt als wäre er der Sieger oder jedenfalls der Größte. Ich genieße es. Die Stimmung ist authentisch und ausgelassen. Nur noch schnell um die Ecke, und ich bin im Ziel. Da ist ein Bierstand... himmlisch...

 

Informationen: Bieler Lauftage
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