Nach meinen Bieler Zeiten von 9:25 (2009), 8:36 (2011), 8:49 (2012) und 8:30 (2013) lief ich dieses Jahr mit 8:46 meine drittbeste und gleichzeitig drittschlechteste Zeit. Damit wurde ich zwar gesamtzweite Frau, Kategorienerste und zum 3. Mal Vize-Schweizermeisterin im 100km-Lauf – aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich eine neue persönliche Bestzeit einem Podestplatz vorziehen.
Ich definiere meine sportliche Leistung über eine mess- und vergleichbare Zeit und nicht über irgendeinen Rang, da Ränge weniger etwas über die Leistung als vielmehr etwas über die Leistungsdichte aussagen, welche bei den Frauen oftmals gering ist. Aber ein Wettkampf ist nun mal kein Wunschkonzert und ich will nicht undankbar sein. Sicher ist: Jeder Bieler verläuft anders und auf einer so langen Distanz kann sich vieles und Unerwartetes ereignen: Die hundert Kilometer müssen einfach immer zuerst wieder erlaufen werden, was dieses Mal in meinem Fall an einem ganz besonders dünnen Faden hing...
Der Start verlief gut und ich schaffte es, die Strecke nach Aarberg hochkonzentriert 'verhalten' im 4.45-Paceschnitt zu laufen. Meine persönliche Vorgabe lautete 4.45-4.55-Schnitt; immerhin träumte ich von einem Schnitt von <5er-Pace über die ganze Distanz.
Nach 10km wurde mir zugerufen, dass ich als Hundertste und 4. Frau vorbeilaufe, was sich gut anhörte. Kurz vor Aarberg schloss ich auf Denise Zimmermann (Bieler Siegerin 2012 und allgemein eine erfolgreiche und sympathische Ultra-/Trail-Läuferin) auf und wir besprachen bis Lyss ausgiebig unser Liebesleben. Um uns hängte ein Mann nach dem andern ab. Ob wegen unseres Tempos oder unseres Themas sei dahingestellt...
In Lyss gesellten sich unsere Velocoaches zu uns und wir liefen fröhlich schwatzend im Gleichschritt weiter. Nach ¼ der Strecke lagen wir bei den Frauen zuvorderst und wurden von zwei offiziellen Kontroll-Velofahrern begleitet. Beim Anstieg nach Mülchi, also km40, lief die Bergziege Denise im selben Tempo weiter und ich nahm die Steigung langsamer. Da mir klar war, dass Denise die stärkere Läuferin ist, versuchte ich gar nicht erst dranzubleiben und konzentrierte mich auf mich, da ich zunehmend erschöpfter wurde. Ich wäre die letzten 23km ohne Denise nicht langsamer gelaufen und war selber überrascht, als ich mir schon nach 45km die Sinnfrage zu stellen begann. Dies wohl, weil es mir immer schwerer fiel, die <5er-Pace zu halten und auch, weil ich nach 4 Bielern inzwischen ganz genau wusste, was noch alles kommen wird und wie sehr ich auf dem letzten Drittel schon gelitten hatte...
Ich war mir schon im Voraus bewusst, dass es für mich kein einfacher Lauf werden würde: Nach dem letztjährigen Sieg in der für mich sehr guten Zeit von 8:30h hatte ich irgendwie in Biel 'alles erreicht' und konnte nur noch 'verlieren'. Trotzdem und obwohl ich weder mehr noch gezielter/härter (im Gegenteil!) trainiert hatte, wollte ich versuchen, unter 5er-Pace zu laufen; einfach als persönliche sportliche Herausforderung.
Auf der Startliste standen erstaunlich viele starke Läuferinnen und ich rechnete für den diesjährigen Bieler wirklich mit keinem Podestplatz. Es wäre ja auch toll für den Veranstalter und diesen 'Kultlauf', wenn die Leistungsdichte bei den Frauen zunähme und wieder einmal richtig schnelle Zeiten <8h gelaufen würden! Doch zwei der Favoritinnen starteten dann offenbar doch nicht, die letztjährige starke Siegerin des Rennsteiglaufes litt an Magenproblemen (wir überholten sie vor Lyss), eine schnelle Marathonläuferin startete wohl zu schnell (wir überholten sie nach Lyss) und die Vielstarterin Denise lief schon am Morgen 20km zur Arbeit und den Bieler nur als Training für ihren 330km-Lauf durch das Aostatal in 3 Monaten und war nicht auf Bestzeit-Kurs...
Nachdem sie, als meine Chance, es in ihrer Begleitung/Ablenkung zu einer neuen PB zu schaffen, davongezogen war und ich mich schon viel zu früh ausgelaugt fühlte, sank meine Stimmung auf den Nullpunkt: Gerademal die Hälfte der Strecke und schon Mühe, die Pace zu halten??!
Es war zwar wie erhofft eine wunderschöne Vollmondnacht, doch irgendwie schien mir der Mond 'ins Gehirn geschissen' zu haben (ist doch immer praktisch, dem Mond die Schuld zuzuschieben...): Ich hatte von einem Kilometer auf den andern absolut keine Lust mehr, diesen Lauf zu beenden. Was ich bisher noch nie auch nur im Entferntesten als Hauch einer Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, stand plötzlich felsenfest: Ich steige in Kirchberg bei km56 aus!
Viele gute Läufer/innen sind hier schon ausgestiegen, wenn absehbar wurde, dass sie ihre angestrebten Ziele nicht schaffen. Der schöne Teil des Bielers ist gelaufen und was soll ich mich auf der noch folgenden endlos öden Strecke nach Biel abmühen, um danach tagelang einen müden und schmerzenden Körper rumzuschleppen - und das 'nur' für eine langsamere Zeit, als ich sie schon gelaufen bin!? Nein: Ich mag nicht mehr, ich will nicht mehr und ich muss nicht mehr! Soll mir bloß niemand einen Vorwurf machen – ich bin niemandem was schuldig und soll jede/r erst einmal selber 3 Jahre nacheinander meine Bieler Zeiten (und mit dem WM-Finish in 8:46 im Jahr 2011 sogar 4 x 100km deutlich <9h) laufen!!
Auch der 2. Frauenrang ist mir die noch folgenden Strapazen nicht wert: Ich lief in Biel schon auf alle Ränge von 1-4, das haut mich nicht mehr aus den Socken – es darf sich gerne eine andere Frau über einen Podestplatz freuen, meine Nacht ist es dieses Jahr halt mal NICHT! Es war mir viel zu warm, mein Trägershirt rieb mich wund unter den Armen, ich hatte Kopfschmerzen, seit gut zwanzig Kilometer 'krämpfelte' es immer irgendwo in den Zehen und Beinen und außerdem verblutete ich fast und hatte von der Binde den 'Wolf', ich kann ja nicht 9h lang denselben Tampon tragen! Das ist jetzt vielleicht too much information – aber Männer haben keine Ahnung, womit sich Frauen manchmal auch noch rumschlagen müssen.
Nachdem mein Pace-Schnitt just in Kirchberg auf 5.0 fiel (die letzten drei Jahre passierte dies erst etwa 20km später!), blieb ich am Verpflegungsposten stehen, trank ausgiebig Cola und teilte meinen beiden Velobegleitern mit, dass ich hier und jetzt aussteige. Kees versuchte gar nicht erst, mich umzustimmen: Nach sechs Beziehungsjahren weiß er, dass dies zwecklos ist und wir rechneten beide damit, dass es am Bieler nicht immer so erfolgreich weitergehen konnte und erwarteten mal einen Rückschlag.
Doch der offizielle Kontroll-Fahrer war - wie alle Anwesenden - fassungslos: Da lief ich so 'stark', lag an 2. Position bei den Frauen und Männer waren auch nicht viele vor mir – und ich will einfach alles kampflos hinwerfen??! Er beschwor mich, dass Aufgeben mindestens so hart werden würde wie Weiterlaufen, dass er diese bittere Erfahrung selber schon bei einem Bike-Rennen durchmachen musste und setzte alles daran, dass ich wieder aufstehe. Ich wusste, dass er nicht unrecht hatte, aber ich hatte schlicht keinen Bock mehr. Wo ich nun angehalten hatte und abgesessen bin, erst recht nicht. Jetzt war sowieso alles verloren!
Von ihm weiter derart zugetextet, blieb ich aber zunächst noch unschlüssig sitzen und staunte immer mehr, dass keine 3. Frau kam. Als stattdessen nach 8 Minuten mein letztjähriges Finisher-Gspännli lachend angelaufen kam, schnellte ich wie von der Tarantel gestochen hoch: Ich glaubte Lukas längst über alle Berge, weit vor mir! Ich rief ihm zu, dass ich hier aussteige. Meine Stimme zitterte, ich war plötzlich den Tränen nahe und merkte, dass ich wohl doch nicht so gelassen über dieser Entscheidung stand, wie ich glaubte.
Da blieb mir gar nichts anderes übrig: Ich MUSSTE weiterlaufen!!! Und weil der schnelle Lukas (Marathon in 2:43!) ja auch 'erst jetzt' hier war, fand ich den Zeitverlust gar nicht mehr so schlimm. Ich lief unter dem Applaus der Anwesenden erleichtert mit ihm auf den Ho Chi Minh-Pfad, der Kontrollfahrer mindestens ebenso erleichtert hinter mir her, leuchtete mir den Weg einmal mehr wunderbar aus (in der Eile vergaß ich die Stirnlampe bei Kees) und ich flog regelrecht über den Emmendamm!
Die Pause bewirkte Wunder, plötzlich lief es sich wieder leicht, außerdem war ich sooooo glücklich, wieder im Rennen zu sein und auf einmal sah meine kleine Welt wieder hell und schön aus! Wir überholten einige Männer, die auf dem Ho Chi Minh gingen; einer humpelte und mein Kontroll-Begleiter sagte, dass wir frühestens wieder über einen Ausstieg sprechen könnten, wenn ich SO unterwegs sei... Ich stimmte ihm zu und war ihm und Lukas unendlich dankbar.
In Biberist stand wie versprochen tatsächlich Lothar mit Cola, in Lohn-Ammannsegg wieder. Er begleitete uns eine Weile auf dem Velo, stand noch mehrmals an der Strecke und wartete in Biel im Ziel auf mich – er hatte die in Dänemark weilenden LGDler würdig vertreten und ich freute mich riesig über seine intensive Präsenz auf dem letzten Drittel, wie auch über meine Arbeitskolleginnen beim Start in Biel, Lyss, irgendwo im Buechibärg und in Orpund. Danke, Beatrice und Doris!! Steffi und Annelies waren unterwegs auf ihrer Bieler Premiere, was auch ein schöner Gedanke war, und Ricarda betreute einen Laufkollegen aus unserer Ultralauf- & Facebookszene als Velocoach; er hatte sich für eine neue PB unter 8:08h vorbereitet und schaffte wegen starker Krämpfe 8:32h – so lief es auch bei anderen nicht rund in dieser Nacht.
Ich überholte noch einige Männer auf dem Weg nach Biel. Doch auch ich musste nach flotten 30km auf den letzten 14km nochmals so richtig beißen. Die waren wie befürchtet ENDLOS, laaangweiligst und einfach nur hart – man denkt: Nur noch 8km und rechnet. Shiiiiit, das sind ja noch ganze ZWEIUNDVIERZIG MINUTEN!!!
Doch jeder lange Weg hat ein Ende und nach dem obligaten Föteli beim Schönsten aller Schilder dieser Welt (km99.0) ging's endlich auf die Zielgerade und ich finishte überglücklich nach 8:46.03,6 (5.15-Pace) als 2. Frau von 168 Finisherinnen und nach 21 Männern als 22. von allen 1'014 männlichen und weiblichen Finishern des Bieler Hunderters 2014.
Die Erkenntnis aus meinem 5. Bieler Finish: Manchmal muss man nur ein bisschen kürzer treten und die Erwartungen an die Realität anpassen, damit es wieder läuft! Ob ich meinen Traum von 40 Bielern wirklich umsetzen werde, lasse ich mal noch offen; gemäss Jakob Etter sei die Veranstaltung dank mehr Teilnehmenden auf den 100km und den anderen Distanzen sowie mehr Sponsoren jedenfalls für die nächsten Jahre gesichert; daran sollte es also nicht scheitern.
Auch Steffi und Annelies meisterten ihre Bieler Premieren hervorragend: Steffi lief nach 12:27.29,3 als 59. und Annelies wenig später nach 12:34.43,2 als 62. der 168 Frauen ebenfalls überglücklich ins Ziel! Jessica lief beim Partnerlauf ihren ersten (Ultra-)Marathon und mit ihrem Partner in einer Zeit von 9:06.08,6 auf den 3. Rang von 11 Mixed Teams.
Kees erledigte seinen stressigen Job als mein Velocoach wie immer super und ich war ihm sehr dankbar, dass er mich trotz unserer Trennung wieder am Bieler begleitete, denn: Never change a winning team!! So waren wir alle äußerst zufrieden und die Läufergruppe Derendingen trotz der Vereinsferien in Dänemark auch in Biel gut vertreten.
100 km
Männer
1. Boch Michael, F-Saverne 7:20.23,0
2. Kaufmann Michael, Dürnten 7:46.28,2
3. Eggenschwiler Bernhard, Büsserach 7:48.08,8
Frauen
1. Zimmermann Denise, Mels 8:30.58,1
2. Werthmüller Gabriele, Zuchwil 8:46.03,6
3. Delpedro Lucilia, Payerne 9:01.17,6
1015 Finisher
Marathon
Männer
1. Eggenschwiler Denis, Solothurn 3:01.57,0
2. Beifuss Johannes, Winterthur 3:05.42,2
3. Eschler Philipp, Thun 3:07.36,8
Frauen
1. Pohl Veronica Clio, D-Heilbronn 3:08.13,3
2. Göldi Elena, Höchstetten 3:31.15,1
3. Hänzi Andrea, Täuffelen 3:54.43,8
153 Finisher