10 Fußminuten südlich der Flughafentür gelange ich zum westlichsten Punkt der Marathonstrecke, der ich flussaufwärts, 12 Kilometer bis zur Startnummernausgabe folge. Die soll irgendwie bei Sara Calamai zu finden sein, die Suche im Internet ergibt eindeutige Angebote. Sara Calamai braucht also auch ein Gesundheitszeugnis, wie ich für den Marathon. Ich probiere es also lieber mit “Luigi Ridolfi”, so wird die Halle nach einem wichtigen Musiker einer wichtigen Familie genannt. Fehlanzeige. „Viale Malta 10“ und „ Fanti Stadio Ridolfi“ bringen mich weiter.
Ich bin auf der Uferpromenade, die am Flughafen, zwischen Arno und dem riesigen Parco delle Cascine beginnt. Der Park ist ein beliebtes Trainingsgebiet, viele Läufer sind schon mit den Shirts von morgen unterwegs. Die Laufstrecke ist mit einer dünnen grünen, durchgehenden Linie markiert, jedoch wechselt sie permanent die autofreien Wege im Park. Hier also werden die Kilometer gemacht, die andere Städte in Industrievierteln abwickeln. Die Wege sind breit und eben, direkt am Fluss gibt es einen 4 Kilometer langen Trail bis zu den ersten Häusern, dann sehe ich schon den Ponte Vecchio. Morgen werden wir schon nach 18 Kilometern hier herüber laufen.
Nach meiner artgerechter Anreise bin ich vor dem Ridolfi-Stadion, wo Busse diejenigen Läufer ausspucken, die sich nicht artgerecht zur Startnummernausgabe trauen. Man muss die ganze Laufmesse abklappern, um am Ende das gute, langärmlige, hellgelbe Eventshirt zu erhalten.
Das Hotel bietet morgen einen Shuttlservice um 6:30 zum Start um 8:30 Uhr an. Mein abendlicher Testgang zum Startgelände dauert 15 Minuten, also kann ich morgen wieder artgerecht zum Start laufen. Florenz ist nicht so groß wie gedacht. Der Dom aber, unter dessen Schatten wir starten und finishen werden, ist riesig: Die Cattedrale di Santa Maria del Fiore ( 1296–1436), ist auch für einen Bierliebhaber ein Hingucker! Grandios! Die Fresken in der Kuppel darf ich nicht fotografieren, es ist gerade Messe. Ich erkenne aber, dass die Menschen in der Hölle nackt sind. Ich entscheide mich, morgen keinen Kleiderbeutel abzugeben.
Sonntag:
Eine Gruppe Chinesen-Touris muss alles fotografieren, weswegen ich mir den Rucksack mit der Eigenverpflegung vor meine, für diese Temperaturen zu kurze Hose halte. Ich bin froh, nicht zur Beutelabgabe zu müssen, denn die Menschenmassen erdrücken mich. „Getarntes“ Militär steht mit getarntem Panzerwagen und Hand am Abzug der automatischen Waffe vor dem Dom.
Die vielen Absperrgitter machen mir Angst. Die gibt es immer bei großen Läufen in Italien, weil italienische Läufer von Natur aus drängeln. Es wird aber auch hier die Nettozeit gemessen, Chip in der Startnummer. Viele versuchen trotzdem in die vorderen Startblöcke zu kommen. Das unterbinden nicht nur Ordner, sondern auch Polizeibeamte. Kaum wird der Block hinter mir geöffnet, stürmen von hinten die Läufer durch meinen Block, drängeln sich nach vorne und rammen mir ihre nassen Oberarme in die Seite. Dazu dieses dauernde Rufen nach irgendwelchen geliebten Zuschauer. Aber Mamas haben keinen Platz zwischen den Absperrgittern und den Wänden der hohen, historischen Häuser, die jedes Licht schlucken.
Ich schlucke in der Dunkelheit meine Platzangst runter, reiße mich zusammen, konzentriere mich auf die aufpeitschende Musik, die von den dichten Häuserwänden verstärkt werden, und sehe zu, dass die Horde mich nicht umwirft. Nach 7 Minuten an der Startlinie, kurzer Blick auf den Dom. Dann muss auf das unebene Pflaster achten und auch noch fotografieren. Heftiger Regen setzt ein. Ich kann aber nicht an den Rand, um meine Jacke aus dem Rucksack zu holen, zu undiszipliniert wird gelaufen. Jetzt stehen auch noch Zuschauer am Rand, blockieren den Bürgersteig. Wenn ein Läufer einen Bekannten am Streckenrand entdeckt, dann läuft der lautstark quer zur Laufstrecke dorthin. Handbiker werden von Radfahrern begleitet, das nervt zusätzlich. Geduldsprobe für einen Genussläufer.
Die meisten Läufer laufen mit dem blauen Plastiküberhang, den es vorsorglich mit der Startnummer gab. Die Toskana stellt man sich anders vor.
In Italien benennt man Straßen natürlich auch nach Menschen, die die Welt bereicherten. Senator Martelli hat die Welt mit der Heirat seiner Cousine bereichert. Nächste Straße: Camillo Cavour. Nicht Don Camillo, dieser Camillo war der erste Ministerpräsident des neu ausgerufenen Königreiches (1861). Der Piazza San Marco ist nach dem Evangelisten Markus benannt, der die Verbreitung des Christentums im römischen Reich aufschrieb. Das Hauptgebäude des Platzes ist das Kloster der Vallombrosaner. Klingt wie ein kräftiger Wein, sind aber kräftige Mönche. Das Fresco im Kloster von 1299 zeigt das Jüngste Gericht. Und da sind sie wieder alle nackt. Mir ist kalt, die Schuhe sind klatschnass. Überall sind Pfützen zwischen dem notdürftig ausgebessertem Kopfsteinpflaster.
Erst auf der Viale Matteotti bekomme ich freie Laufbahn. Auf der Gegenseite sind die schnelleren Läufer, die am Piazzale Donatello mit seinem verlockenden Friedhof gewendet haben. Diese Toteninsel von 1870 wurde nach einem Bildhauer benannt.
Der Triumphbogen an der Piazza della Liberta wurde 1738 zum Anlass des Einzugs der Habsburg-Lothringer in Florenz errichtet. Die Festung Fortessa da Basso wird von Marathonplakaten verdeckt. Die Festung aus dem 16. Jahrhundert diente bis 1967 als Zufluchtsstätte im Falle innerer Unruhen. Meine innere Unruhe hat sich gelegt, ich habe endlich Platz zum Laufen und kann den Regen genießen.
Passend zur Viale Strozzi (strozzale= Würgen) muss sich jemand übergeben, meine Laune bessert sich augenblicklich. Den Parco delle Cascine kenne ich seit gestern, hier geht es genial hin und her. Der Park wurde im 16. Jahrhundert, natürlich von einem Mitglied der Medici-Familie, angelegt.
Die Medici (= Apotheker), das wissen wir noch aus der Schule, waren über Jahrhunderte die Berlusconis. Das erste Geld verdienten sie sich als Tuchhändler (Wolle), dann nutzten sie die Kontakte von Marco Polo und importierten Seide. Bezahlt wurde der Verkäufer der Seide, der Großkhan, mit Öl aus der Grabkammer von Jesus. Da wurde der Papst in Rom hellhörig. Der war notorisch pleite, weil der Ablasshandel noch nicht richtig lief, und forderte Kredite. Also gaben die Medici dem Papst und dann auch noch dem französischen und dem englischen König Kohle. Damit die Florentiner sich nicht über diese Amigo-Affären aufregen, beruhigten die Medici die Städter mit schöner Kunst und Architektur. Das klappte über Jahrhunderte, mal mehr, mal weniger.
Der Regen dünnt das Läuferfeld aus. Zwei kenianische Tempomacher stehen schlotternd an der Strecke und warten auf den Krankenwagen. Jeder Abbrecher wird mit dem Krankenwagen abtransportiert, dementsprechend nervt das ständige, viel zu laute Signal der „Retter“.
Nach 18 Kilometern überqueren wir den wunderschönen Ponte Vecchio. Seit 1345 ist dieser geniale Brückenbau unverändert: Kleine Läden in mehreren Stockwerken hängen seitlich über dem Fluss, der Eingang befindet sich jeweils auf der Brücke. Das ist praktisch, denn einst waren hier die Schlachter und Gerber ansässig, die ihren stinkenden Abfall gleich im Arno versenken konnten. Jetzt sind hier ausshcließlich glitzernd-leuchtende Schmuck- und Andenkenläden. Bei Nacht unglaublich stimmungsvoll. Stimmung schlägt uns auch jetzt entgegen, wir sind klatschnasse Helden, lassen uns von Zuschauern bejubeln, die sich zwischen Absperrgittern und Andenkenläden quetschen müssen.
Unter den Arkaden de Uffizien ist mehr Platz für verregnete Zaungäste. Das grobe Kopfsteinpflaster erfordert meine volle Konzentration. Die Laufstrecke ist aber genial! Wir wechseln jetzt hinüber auf die südliche Uferseite und jetzt schlägt uns ein starker, kalter und regenreicher Wind entgegen. Für einen Großteil der Läufer zu heftig, sie greifen sich am nächsten VP die Goldfolien und lassen sich mit den Krankenwagen zur Kleiderbeutelabgabe fahren. Da ich dort nicht hin muss, denke ich ans Auszusteigen als ich an meinem Hotel vorbeilaufe. Da die Streckenführung in drei Kilometern wieder hier vorbeiführt, will ich noch ein paar Minuten leiden. An der Halbmarathonmarke stehen wieder Läufer unter den Dächern der Bushaltestelle und warten auf vorgewärmten Krankenwagen.
Vor der Basilica di Santa Croce klart es unerwartet auf. Die Basilika zum Heiligen Kreuz wurde im 13. Jahrhundert von Franz von Assisi gegründet. Der Bettelorden der Franziskaner betet immer noch hier, weswegen sich viele italienische Promis hier begraben ließen, um von ihren Sünden erlöst zu werden. Welche „Sünde“ Galileo Galilei begangen hat, wissen wir, aber Michelangelo, Rossini und Machiavelli? Wenn ich mehr Urlaub bekomme, dann werde ich die Fresken, Malereien und prachtvollen Grabmäler besichtigen, jetzt bleibt mir nur ein oberflächlicher Eindruck, und der wird immer eindrucksvoller. Der imposante Piazza San Croce ist sonst belebter, jetzt drücken sich nur einige Touristen unter schützenden Dächern rum.
Auf den folgenden Kilometern genieße ich die Ruhe, denke nicht über jedes Gebäude, jeden Turm und jedes Museum nach. Ich ahne nämlich schon, dass der Schlussakkord dieses Laufes überwältigend sein wird.
Freude kommt auf, als die Sonne einen Versöhnungsgruß schickt. Letzte unangenehme Hürde ist eine Riesenpfütze vor dem Fanti Stadio Ridolfi, was nicht der Name des Stadions ist, sondern eine Bushaltestelle bezeichnet. Ach so! Jedenfalls war in diesem Stadion, der Heimat des Ausrichters, die Marathonmesse. Dicke Schaumstoffballen sollen uns die Überquerung der Pfütze erleichtern, aber die sind vollgesogen und man bekommt nochmal nasse Socken. Egal jetzt, nur noch 10 Kilometer.
Mit der Umrundung der Markthalle (km 36), in der ich morgen vorzüglich frühstücken werde, beginnt der Schlussakkord:
Der Piazza Ghiberti ist der letzte touristenfrei Platz, auf dem man noch in der Abendsonne, auf den Stufen sitzend sein Bier trinken und dem Palaver der Florentiner zuhören kann. Michelangelo nannte die von Ghiberti geschaffene bronzene Eingangstür des Klosters den Eingang zum Paradies. Also, dann mal hinein!
Vom Piazza Salvemini sieht man schon die Kuppel vom Dom, unserem dem Ziel. Aber ruhig bleiben! Jedes Feuerwerk endet in einem Crescendo. Dafür muss ich zunächst durch die Massen der in dunklen Mäntel gekleideten Spaziergänger. Die zeigen kaum Interesse für meinen Lauf, außer den wenigen, die in meiner Hand die Bierdose sehen und lachend „Forza, forza“ rufen. Das ist nichts Unanständiges. Forza heißt Stärke.
Wir berühren nun schon die Zielgerade, die entgegengesetzt unserer Laufrichtung um den Dom führt. Über all dem sieht man den 110 Meter hohen, wunderschönen Turm, den Giotto im 14. Jahrhundert gebaut hat. Er stieg mit seiner Genialität bis zum Chefarchitekten auf. Noch höher gelangte nur die Raumsonde, die nach ihm benannt wurde und längst die Reise aus unserem Sonnensystem angetreten hat.
Unsere Reise führt durch die Gassen und gleich wieder zurück auf die ehemalige Startgerade am Dom, jetzt entgegengesetzt unserer Startrichtung. Welch kunstvolle Streckenführung, ich bin begeistert!
Weiter geht es Richtung Flussufer. Das Gucci-Museum interessiert mich nicht, aber der Palazzo Vecchio, das uns allen bekannte Wahrzeichen, das Stadtparlament, der Mittelpunkt der weltlichen Macht des 14. Jahrhunderts. Noch darf ich da noch nicht hin, es liegen noch wunderbare 4 Kilometer vor mir, die zunächst wieder durch die Gebäude der Uffizien ( = Büros) führen. Sie wurden im 16. Jahrhundert als Büros für die Minister der Medici gebaut, beherbergen nun die Gemäldesammlung der Renaissance. Bartolemeo Christofori entwickelte hier den Vorläufer des Kalviers, das Cembalo. Ganz hoch über uns nun die Brücke der Minister. Die letzte Vertreterin der Medici vermachte alles der Stadt Florenz, unter der Bedingung, dass es niemals als der Stadt entfernt werden dürfte.
Wir bleiben auch in der Stadt der Blüte und nehmen nach einem Abstecher ans Ufer den Wendepunkt an der Kirche der heiligen Dreieinigkeit nochmal einen Ansturm auf den Palazzo Vechhio, den alten Palast mit seinem markanten Turm. Wieder bitte ich eine Touristin, ein Foto von mir zu schießen.
Der Zieleinlauf zurück durch die engen Gassen und wieder auf den Domplatz verursacht noch einmal Gänsehaut. Keine andere Stadt bietet eine solche geniale Streckenführung. Dies ist der Hit aller Stadtmarathons! Ich bin begeistert!