Der Marathon in der Renaissancestadt Florenz traditionsgemäß am letzten Sonntag im November hat sich bezogen auf die Teilnehmeranzahl als zweitgrößter Laufsportevent Italiens hinter dem Frühjahrsklassiker in Rom etabliert. „Kunst, Geschichte und Kultur“ fast auf der ganzen Laufstrecke, besonders in der zum UNESCO-Kulturerbe gehörenden Altstadt mit ihren bedeutenden Plätzen, sakralen und profanen Bauten, Museen und dem besonderen Flair sind neben den tagsüber noch milden Temperaturen in der Region wohl ein Hauptgrund für die vielen internationalen Läuferinnen und Läufer, das erste Adventwochenende in der 380.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der Toskana zu verbringen und das Sportjahr so ausklingen zu lassen.
Ich bin den Florenz Marathon schon mehrmals gelaufen und erzielte im ersten Jahr nach meinem Debut beim VCM im Mai 2001 mit 4:05 auch eine gute Finisherzeit. Beim letzten Antritt 2013, schon als M4Y-Reporter im Einsatz, kam ich mit 4:32 ins Ziel. Für meinen mittlerweile 35. Marathon in diesem Kalenderjahr ist Florenz eine gute Wahl – der in den letzten Jahren unveränderte Kurs ist durchaus für eine schnelle Laufzeit geeignet.
Ich reise von Wien aus am Vortag an. Der Schnellzug Frecciargento benötigt für die 250 km von Venezia-Mestre nach Florenz knapp zwei Stunden. Im Hotel Delle Nazione in der via Luigi Alamanni, 200 m vom Bahnhof entfernt und trotzdem ruhig, sind fast nur Italiener einquartiert. Ich schließe mich einer kleinen Gruppe an, die wie ich zur Expo unweit des Bahnhofes Campo di Marte will. Wir nehmen statt Autobus Nr. 20 den Regionalzug und sind inklusive einem kurzen Fußweg über die Eisenbahnbrücke und weiter durch einen Park in 10 Minuten bei der Expo. Doch gegen 17 Uhr ist es draußen schon dunkel und die Beleuchtung rundum das Expo-Gelände ziemlich schwach.
Einige Tage vor dem Rennen erhielt ich eine Bestätigung per E-Mail, dass bei mir die Ampel sozusagen auf grün steht, d.h. das übermittelte ärztliche Zeugnis vom Milano-Marathon im April d.J. hat man angenommen – medizinische Atteste haben in Italien ein Jahr nach Ausstellung Gültigkeit.
Viele strömen in das Areal, um ihr Startpaket abzuholen. Es geht ruckzuck, zuerst erhalte ich die Startnummer mit befestigtem Leihchip, der nach dem Zieleinlauf abzugeben sein wird. Dann habe ich Gelegenheit, mich an verschiedenen Marathonständen über einige der im kommenden Jahr geplanten Rennen zu informieren. Wie vor zwei Wochen in Istanbul werden auch hier einige Läufe beworben, die mir als Ländersammler noch fehlen, so z.B. Belfast und Edinburgh (beide Destinationen werden im Country Club wie beim Fußball als eigenes Land gewertet). Das Flugblatt über den Salzburg-Marathon am 1. Mai 2016 drückt man mir im Vorbeigehen auch in die Hand – ich denke aber eher an Limerick in Irland und am nächsten Tag dann Belfast.
Bis man endlich das Startpaket mit einem inkludierten Langarmfunktionsshirt im traditionellen Italo-Blau mit dem Logo des Firenze-Marathons auf der Vorderseite und auf dem rechten Ärmel bekommt, muss man an allen Messeständen vorbeigehen. Doch man verweilt dann doch hie und da. Auffallend auch, dass heuer an den Ständen für Sportnahrung nur sporadisch Kostproben ausgegeben werden. Vielleicht ein Zeichen, dass überall gespart wird. Ich nehme diesmal ein Leibchen in Größe XL in der Hoffnung, dass das Shirt kleiner geschnitten sein möge. Ein Umtausch nach Erhalt ist ausgeschlossen, das steht schwarz auf weiß zu lesen.
Ich schmökere in der mit dem Startsackerl ausgehändigten Marathonbroschüre. Mich interessieren die Teilnehmerzahlen und die Herkunftsländer der registrierten Läuferinnen und Läufer. Mit 8015 Marathonis dominieren ganz klar die Italiener, gefolgt von den Franzosen (712), den Briten (alle Länder des Vereinigten Königreiches, 385), den Deutschen (238), den Spaniern (213) und uns Österreichern (immerhin auch 155).
Naturgemäß melden sich mehr an als dann am Rennen teilnehmen. 2012 hatten sich 9673 registriert, angekommen bzw. in der Ergebnisliste sind 7771; 2013 waren 11.332 gemeldet, aber nur 9296 Finisher. Im letzten Jahr wurden 10.854 potenzielle Marathonis gezählt, gefinisht haben dann 8716. Die Zahlen belegen auch, dass der heuer schon zum 32. Male stattfindende Florenzmarathon zwar ein gutes Image hat, aber die Teilnehmerzahlen nicht wirklich ansteigen, sondern sich die Organisatoren jedes Jahr neu anstrengen müssen, um das Niveau zu halten.
Was mich betrifft, so habe ich Florenz mit seinen immensen kulturhistorischen Schätzen in den Museen, den vom wohlhabenden Medici finanzierten Prachtbauten aus dem 15. und 16. Jahrhundert sowie die touristisch am häufigsten besuchte Piazze der Altstadt eigentlich nicht vor oder nach meinen bisherigen Marathons gesichtet, sondern bei bezahlten Tagesausflügen von Livorno aus, wo in der Regel die Kreuzfahrtschiffe anlegen. Diese Touren ab 120 Euro mit inkludiertem Mittagessen waren meist stressiger als ein ganzer Marathon, man war den ganzen Tag auf den Beinen. Ich bin also diesmal in Florenz nur wegen des Marathons, Sightseeing und Shoppen stehen nicht auf dem Programm.
Tagwache am Renntag ist für mich 6 Uhr, das Frühstücksbuffet steht im Hotel Delle Nazioni zur gleichen Zeit schon bereit. Die Italiener treten immer in Gruppen auf, die Aufnäher auf ihren Trainingsanzügen verweisen auf die Vereinszugehörigkeit. Die Stimmung ist gut, es ist laut, wie man es in Italien (in Hotels, Bars und am Strand) gewohnt ist.
Am Morgen hat es nur wenige Grade über Null. Ich entscheide mich für zwei Lagen, nehme aber im Kleiderbeutel, den man am Startbereich bei den LKWs abgeben kann, Ersatzshirts mit. Mit langer Trainingshose und Pullover bekleidet marschiere ich knapp vor 8 Uhr los. Zunächst runter zum Arno und an der Piazza Carlo Goldini vorbei nach Osten. Auf den für den Verkehr gesperrten Lugarni – Abschnitte, die edel klingende italienische Namen haben, sind viele unterwegs. Hie und da verirrt sich auch ein Autofahrer, doch keiner regt sich auf.
Ich nutze die Gelegenheit und knipse den Arno in seinem tieferliegenden Flussbett, gehe in die Mitte der Ponte Santa Trinita, um die weiter östlich befindliche, im 14. Jahrhundert gebaute Ponte Vecchio ins Bild zu bekommen. Der Marathon wird bei Kilometer 39 über sie führen. Im Panorama erkennt man gut, dass die Brücke in der Mitte auf beiden Seiten geöffnet ist und einen Blick auf den Arno zulässt.
Am Wege zum Start am Lugarno Pecori Giraldi befinden sich am linken, der Altstadt zugewandten Flussseite zahlreiche Bauwerke und Museen in fotografischer Reichweite. Mit einem guten Objektiv ließe sich auch der Piazzale Michelangelo auf der anderen Seite des Arno auf einem Hügel heranzoomen. Von hier aus hat man eine herrliche Aussicht auf Florenz. Bei meinem ersten Marathon im Jahr 2001 war der Start dort oben, ein paar Kilometer ging es so flott bergab. Jahre später hat man den Start dann näher an die Altstadt verschoben und dafür sportliche Gründe genannt.
Aufwärmen braucht man sich nach den gut drei Kilometern vom Hotel zum Start nicht mehr, doch mehr als ein Spaziergang mit Fotostopps ist es auch nicht. Ich schaue mich um, viele Franzosen und Deutsche erkenne ich, auch einige Österreicher mit Tiroler Dialekt hört man aus der Masse der vor den LKWs und Mobilklos wartenden Läufer. Andere machen es sich einfacher, indem sie die Mauer zum Flussbett überklettern und im Grünen ihr kleines Geschäft hinter sich bringen. Ich sehe, wie japanische Zuschauer eifrig das Geschehen fotografieren – als ich 1990 eine Woche in Tokio bei einer Tagung war, fiel mir auf, dass selbst die Sandler in Metrostationen in nummerierten, abgegrenzten Pappkarton-Kojen geordnet untergebracht waren.
Offensichtlich sind Ambitionen, einen Busch oder Baum als Ersatz-WC bei einem Marathon zu wählen, dort verpönt. Der Tokio-Marathon steht mir noch bevor …
Um 8 Uhr 30 ist es noch immer kalt, doch es ist trocken und soll an die 10 Grad warm werden. Trotzdem entscheide ich mich für eine dritte Lage. In den Umkleidezelten herrscht Gedränge, ich teile einen Sessel mit einem Italiener, der einen Body mit nur 3 kleinen Knöpfen an der Vorderseite drunter trägt. Ich frage ihn, ob seine Frau mit ihm zufrieden ist – die anderen Läufer lachen laut, für Heiterkeit ist gesorgt.
Wie schon in den vergangenen Jahren sind wieder Sektoren nach den zu erwartenden Finisherzeiten eingerichtet. Weil viele Läuferinnen und Läufer den Kälteschutz übergestreift haben, sieht man deren Startnummer nicht. Ob ich mir selbst eine Laufzeit unter 4:30 beim Anmelden verpasst habe, weiß ich nicht mehr, jedenfalls trage ich eine grün unterlegte Startnummer und bin im Block 4:00 bis 4:30. Ordner am Korridoreingang achten sehr genau auf die passende Zugangsfarbe, doch als ich drinnen bin, sehe ich auch einige mit violetten Nummern – vielleicht trauen sie sich an diesem Tag mehr zu.
Der Marathon in Florenz begann in den letzten Jahren nie pünktlich, die eine Schweigeminute für die Terroropfer in Paris und anderswo nimmt man gerne in Kauf. Der Moderator versucht, die gute Stimmung weiter anzuheben, indem er in mehreren Sprachen die internationalen Gäste begrüßt. Ich habe die 4:30er-Pacemaker im Visier. So lange es geht, werde ich ihr Tempo mitgehen. Mir scheint, dass zumindest einer auch 2013 dabei war, ich müsste mir die Fotos von damals ansehen oder die bisherigen zehn Berichte auf M4Y durchgehen. Die Anmerkung sei gestattet, dass Novizen, die in Florenz den Marathon laufen wollen, dank der vielen Laufberichte auf M4Y sich bestens darauf einstellen können.
Musik dröhnt aus den Boxen, die Läuferinnen (wenige Frauen sind zu sehen) und Läufer klatschen mit. In den letzten Minuten vor dem Start entledigen sich fast alle des Kälteschutzes und der überschüssigen Altpullover sowie Trainingsjacken. Hinter den Begrenzungszaun warten Farbige mit Säcken, die die Bekleidungsstücke oft schon beim Einsammeln prüfen und auf die Größe achten. Ich reiche eine am Boden liegende schicke Windjacke in Hellblau einem Afrikaner mit strahlend weißen Zähnen, er bedankt sich.