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Laufberichte

Sie macht Bauchschmerzen und wund

08.06.12
Autor: Joe Kelbel

In Aarberg dann diese Holzbrücke. Der Chef sagte noch: „Joe, mach anständige Fotos!“  Aber die Kamera ist durcheinander und Kontaktlinsen ermöglichen keine Moduseinstellung. Wenn jetzt Atomkrieg wäre, wäre es mir auch egal. Flattermänner, die ich mit den Zähnen abfangen muss, sind zahlreicher als Zuschauer, das war auch mal anders hier beim Ziel des Halbmarathons.

Ein  Junge auf dem Trampolin stiehlt jedem Läufer die Show. Ist aber auch gerechtfertigt. Der hat so viel Spaß, der wird in wenigen Jahren hier gewinnen. Weniger Fahrradbegleitungen als sonst, die hier auf Erstläufer warten, aber nach 54 Jahren Biel muss doch wohl jeder gute Läufer schon hier gewesen sein.

Bis hinter Lyss passe ich mich langssam den Fahrradfahrern an. Voll ausgerüstet wie Hochgebirgskämpfer nerven die  mich vor allem durch ihr dauerndes Hin-und Her der Scheinwerfer. Selbst bei Steigungen müssen die neben ihrem Schützling fahren und besetzen  mit ihrem Gewackel die gesamte Breite der Laufstrecke. Aber Biel ist Tradition und das ist das Schöne an der Alten, der 54 Jährigen.

Km 26 -  die Kurve von Grossfoltern, dann endlich kommt meine Traumstrecke. 7 Km geradeaus auf ebener Strecke. Nur Wendy erwischt mich bei meinem traditionellen Boxenstopp bei km 35 (Balm). Längst bin ich hier bekannt und mit lautem Hallo bekomme ich mein Gratis-Iso-Getränk. Tatsächlich ist es so, dass die Wirtshäuser und Bierschänken nur wegen unserer 100 km langen Peepshow  geöffnet haben.

Oberramsern, Ziel des Marathons, nix los. Irgendwo danach dieses unheimliche Leuchten, als würde ein Raumschiff landen und genetisches Material erobern wollen. Aber es ist nur ein Kontrollpunkt.

Beim Halbzeitschild bei km 50 versuche ich einen möglichst erschöpften Zustand zu spielen. Wenige Kilometer später, in Kernenried, sitzen wie jedes Jahr Mädchen auf der Mauer vor der Jugendherberge und jubeln uns zu.  Es ist etwa 3:30 Uhr. Glaubst Du, in Hamburg, Berlin oder sonst wo wäre das um diese Uhrzeit so? Ich bin in Berlin gelaufen, 100 Meilen, ich weiss, wie einsam man in der Hauptstadt ist.

An der Kreuzung der Strasse Grafenried/Lysach ist diese Scheune mit dem Holzpodest davor, wo  Mädchen jedes Jahr tanzen, als hätten Läufer Dollarnoten dabei.  Dank zweier Paletten gelingt mir der Aufstieg bis zur Schankanlage. Ich habe Magen.  Hopfen beruhigt bekanntlich und ich sehe so bekloppt aus, dass ich Freihopfen bekomme. Deutschland verliert morgen gegen Portugal, höre ich. Bin schlagfertig und frage, in welcher Gruppe die Schweiz spielt. 

Der Vater ist 22mal mitgelaufen, der Onkel von dem anderen Mädel auch mal, und der andere war Streckenposten. Alle finden, dass wir absolute Helden sind: „Joe nur noch 53 km, du wirst es schaffen. Aber Zeit für noch ein Bierchen haste doch noch!“ Manches muss ich mir übersetzen lassen, aber erstmals höre ich in der Schweiz, dass die Deutschen verdammt cool sind. Und ich als Biertrinker noch viel cooler. Merkel, Euro und ewige Freundschaft - irgendwann muss ich weiter. 80 Plätze hat mich dieses Intermezzo gekostet. Verdammt, das war es mir wert.

Grelles Licht kündigt Kirchberg, km 56 an. Ich entdecke  Hartmann aus Südtirol, dann Wendy. Das erste Mal meiner Nächte der Nacht, oder Macht der Mächte muss ich wechseln, meine Klamotten. War die Nacht letztes Jahr klatschnass, so haben wir heute eine kalte Schwüle, die nichts trocken lässt. Ich ziehe mich um, trinke Kaffee und Apfelschorle. Diese Nacht der Nächte ist anders. Sicherheitsnadeln werden bei geschwollenen Fingern auf neuem Hemd zum verbogenen Sicherheitsrisiko. Hätte ich gewusst wie unsicher deformierte Sicherheitsnadeln sind... doch glücklicherweise merkt man erst unter der Dusche, wo man überall wund ist.

Dann verschnüre ich meinen Notfallbeutel und schicke ihn zurück zum Ziel. Er wird vor mir  da sein, mitsamt den Bierdosen. Mir scheint es nicht gut zu gehen. Anderen geht es schlechter, schlafen eine Runde, lassen sich massieren oder sitzen schon im Bus zurück zum Start. Peer futtert eine herzchenförmige kalte Nudelmahlzeit aus eigenem Bestand. Da wird mir wieder schlecht. Zum Glück entdecke ich meinen Kumpel Jürgen vom CBXR, abwohl der aussieht wie die Nudelmahlzeit vom Peer und mich genauso herzlich begrüßt.

Ein Fahrrad-Verbotsschild kündigt den Ho-Chi-Minh-Pfad an. Dieses Jahr bin ich spät dran, es ist schon ziemlich hell. Bevor es aber trotzdem noch mal dunkel und auch steinig wird, muss ich noch ein Stückchen laufen.

Mitten im dichten Grün, ich bin gerade am Dösen und erfreue mich,  dass dieser Pfad doch sehr viel angenehmer ist als früher, da  höre ich einen markerschütternden Schmerzschrei, wie in diesem bettnässerischen Film von Hitchcock, als der Schatten des Küchenmessers auf den Duschvorhang fällt. Mir fallen sämtliche Zecken  auf mein schweissnasses Haupt und  Läufer drehen  hilfeanbietend unter Tränen  um, um zu fragen wie dieser Film weitergeht. Dann hebe ich langsam meinen Kopf und endlich wird  mir klar, dass ich Hauptperson dieses Filmes bin, flach wie eine Flunder, mit der Stirn im Schlamm zahlreicher Vorläufer.

Das Gefährliche am Hoh-Chi-Ming-Pfad ist, dass es links und rechts steil hinab in die ewige Verdammnis geht, für einen ausgepowerten Läufer bei km 63 ein Weg ohne Rückkehr. Eine Erfahrung reicher, einen Fussnagel weniger, von oben bis unten verdreckt, so laufe ich stumm und gezeichnet weiter.

Unter der Brücke von Utzenstorf, bei der Verpflegungsstation, finde ich wieder Fans des Bieler Laufes.  In den letzten Jahren habe ich mich gefragt, ob hier fertige Läufer liegen, oder ausgepowerte Jugendliche ohne Perspektive.  Alles Humbug. Es sind Helfer  der ersten Schicht und Unterstützer der Helfer und Helfer der Unterstützer. Mir gelingt nur ein verwischtes Foto, sitze aber lange bei denen, die irgendwie und  irgendwo im Hintergrund mit diesem Lauf leben und feiern. „Von weit her“  kommen diese Helfer, um im Morgengrauen einen Rotwein und einige Biere zu trinken, wo laufende Halbtote zu betrachten sind.  Das ist Biel: Der Lauf ist Kultur, wie die EM. Ohne schmeckt das Bier nicht.

Emmendamm, Psychostrecke. Dampfende Kläranlage des Walzwerkes, oder ist es schon die Papiermühle?  Km 65 Gerlafingen, dort wartet die Fahrradbegleitung auf die, die hinter mir sind. Und das sind viele.

Na gut, ich sehe Scheiße aus, als ich mit dem Totenkopf da stehe; nicht gut drauf und drunter auch nicht.

70 km Biberist- Lüterkofen, da gibt es diese Bäckerei, davor steht ein rauchender Laufkumpel. Seit 4 Jahren träume ich davon, hier Pause zu machen. Jetzt bin ich abgebrüht genug, gönne mir einen  Kaffee. Die Verkäuferin starrt  mich mit offenem Mund an. Bin ich vom  Hoh-Chi-Ming-Pfad so gezeichnet?

Km 75 - vor Bibern ist traditionell ein Leidensweg. Sieben Kilometer lang ist der  ansteigende Weg in den frühen Morgenstunden, gerade der Zeitpunkt, wenn Daheimgebliebene sich vom verschwitzten Bett auf allen Vieren ins Badezimmer schleppen und vor dem Kloflockati ausrutschen.

Nun, solche Probleme haben wir Läufer an diesem Morgen nicht. Aber ich habe ein so großes anderes, dass ich mir für sagenhafte 3 Schweizer Franken einen Pfefferminztee kaufen muss. Selbst die Kühe im Stall bekommen schmackhafteres Futter. 

Km 80 - Arch in Sicht. Hinter der Verpflegungsstation im Bierzelt gröhlen übernächtigte Zaungäste schmutzige Lieder. Wo man singt, da lass dich nieder. Also schaue ich vom Biertisch aus den abgekämpften Läufern nach und merke erst jetzt,  wie besudelt ich bin. Auch wenn ich mir hier Zeit lasse, so habe ich laut Statistik auf den letzten 20 Kilomter 60 Plätze gut gemacht. Es sind aber auch die grausamsten 20 Kilometer.

Das Km 85-Schild scheint zu früh gewesen zu sein, denn das Km 90-Schild will sich heute nicht zeigen. An der Holzbrücke von Büren sitzen Staffettenläufer, wie hier die Staffelläufer  genannt werden. Sie futtern Zwiebelbratkartoffeln. Voller Bewunderungen lauschen sie mir, als ich ihnen erkläre, dass ich Ultraläufer geworden bin, um meine schreckliche Kindheit zu verarbeiten. Als sie noch von meiner verdorbenen Jugend hören wollen, mache ich mich auf die letzten 13 Kilometer.

Wir wechseln die Uferseite, kommen auf die unangenehme Seite, denn hier fällt der Weg nach links ab, sodass meine unoperierte Ferse jaulen muss. Ich wäre ja schon längst den Transeuropalauf gelaufen, aber die  linken Seite gefällt mir nicht. Ich bin Rechtsläufer, dafür müsste ich nochmal unters Messer. Doch das Mohnfeld ist der Hit, da könnte man ja mal wieder mittig durch.

Ansonsten gibt es nicht mehr viel zu berichten, es ist sehr warm und ich laufe wie ein Uhrwerk. 75 Kilometer, einen Pfefferminztee für 3 SFR und einen Frühschoppen für 6  habe ich gebraucht, um in den Genuß des freien Laufens zu kommen.

Ich bin absolut glücklich, meine körperlichen Probleme durch viel Geduld überwunden zu haben. Auch die Wirtin beim Heinecken-Stand hat viel Geduld und begrüßt mich nach 12:35 Stunden teilnahmslos und wenig begeistert.

Ich habe ja zugegebenermaßen Probleme, die 2 Fränklistücke von den 5 Fränklistücken zu unterscheiden. Und die ½ Fränklistücke sind kleiner als die 10 Rappenstücke. Und überhaupt spinnen die Schweizer: nicht bei der EM dabei, aber 100 km-Läufe veranstalten! 

Ich komme nächstes Jahr wieder. Nicht weil die Nacht der Nächte besonders schön wäre, oder Bauchkribbeln machen würde. Nein sie ist emotional, mytisch, mental fordernd. Sie ist cool Mään. Sie macht Bauchschmerzen und wund.  

Siegerliste

100 km
Männer

1. Girardet David, Belfaux                   7:04.16,0 
2. Vieux Florian,  Muraz (Collombey)          7:05.45,6 
3. Thallinger Rolf,  Burgdorf                 7:19.40,9

Frauen

1. Zimmermann Denise,  Mels                   8:26.50,6
2. Sommer Daniela, Sempach Stadt             8:32.16,3
3. Werthmüller Gabriele, Zuchwil             8:49.48,4

1063 Finisher

 


Nachtmarathon
Männer

1. Puls Klaas, Zofingen                      2:49.28,4
2. Fischer Martin, Rombach                   2:51.42,2
3. Plessmann Lars, D-Karlsruhe               2:57.18,4

Frauen

1. Mazenauer Daniela, Oberbözberg            3:19.59,2 
2. Aeberhard Andrea, Bern                    3:29.38,6 
3. Aeberhardt Regine, Kirchberg BE           3:30.03,5

214 Finisher

12
 
 

Informationen: Bieler Lauftage
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