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Laufberichte

100 Kilometer sind unberechenbar

18.06.05

Biel ist legendär. In Biel muss jeder ernsthafte Ultra-Läufer gelaufen sein. Biel ist einfach ein Muss!

 

In diesem Jahr fand der 100 km-Lauf zum bereits 47. Mal statt und ich war zum 3. Mal dabei. Im Gegensatz zum Vorjahr jedoch habe ich diesmal nichts dazu gelernt, manches bestätigt bekommen und ein großes Rätsel gestellt bekommen. Aber der Reihe nach.

 

Am 14. November 1959 Punkt Mitternacht starteten in Biel-Madretsch 35 Läufer zum ersten 100-km-Lauf Europas. Seither gab es jedes Jahr einen solchen Lauf in Biel in der Schweiz. Beim 4. Lauf starteten zum ersten Mal zwei Frauen und beim 6. Lauf zum ersten Mal eine militärische Marschgruppe. Ab dem 9. Lauf (1967) stiegen dann die Teilnehmerzahlen über 1.000, steigerten sich auf über 3.000 in 1973 und erreichten 1984 einen Teilnehmerrekord von 4.558. Ein Rekord, der bis heute anhält. Die danach sinkenden Zahlen werden zum Teil durch neue Angebote kompensiert, so dass man heute folgende Möglichkeiten in Biel wahrnehmen kann: 100 km Team Stafette, 100 km Sie und Er, 100 km Militär-Wettkampf, Marathon (neuerdings ein Nachtmarathon), Halbmarathon, Büttenberglauf-Teamlauf-Walking (14,5 km). Rechne ich mal von den diesjährigen Finisherzahlen aller Wettkämpfe hoch auf die Teilnehmer, dann waren das wohl mehr als 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, leider immer noch weit entfernt vom Teilnehmerrekord.

 

Ich sage hier ganz ausdrücklich "leider", denn der Lauf hätte viel mehr verdient. Ich habe in meinem kurzen Läuferleben mehr als 60 Marathons und Ultras mitgemacht, aber nur ganz wenige davon kommen an die 100 km in Biel heran. Diese Stimmung, die Nacht, die Zuschauer an der Strecke auch noch nachts um 3 Uhr, diese Distanz, die Gerüche, Sinneseindrücke - einmalig und für mich unübertroffen. Alle Welt redet vom Marathon und will in Berlin, London, New York oder sonst wo teilnehmen und übersieht, dass es da in der Schweiz einen Lauf gibt, der etwas Einzigartiges darstellt und all diese Marathons vom Erlebniswert übertrifft.

 

Mancher wird jetzt sagen, dass man einen 100 km Lauf nicht mit Marathon vergleichen kann. Ich frage provokant: "Warum nicht?" Leider senden die Veranstalter in Biel derzeit falsche Signale aus, indem die Zielzeit von 22 Stunden dieses Jahr auf 20 Stunden reduziert wurde. Trotzdem ist das für einen Marathonläufer mit einer Zeit von 6 Stunden oder langsamer immer noch absolut ausreichend. Geht man den Lauf gemütlich an, macht Pausen, nimmt die Angebote an, sich unterwegs immer wieder massieren zu lassen, macht viele Gehpausen, dann reichen auch die 20 Stunden noch bestens aus. Solche Läuferinnen und Läufer werden den Lauf vorwiegend gehend absolvieren und haben danach wohl weniger orthopädische Beschwerden als nach einem schnellen Marathon.

 

Bestätigt in dieser Meinung haben mich bei meiner diesjährigen Teilnahme zwei Läuferinnen. Die eine, Petra, erzählte mir, dass sie dieses Jahr ihre ersten drei Marathons gelaufen sei und sich dann entschlossen hätte, die 100 km in Biel zu laufen. Ihre Finisherzeit von unter 16 Stunden gab ihr Recht. Auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad habe ich sie getroffen, da war sie  bester Stimmung. Ich kann mir ihr Glück lebhaft vorstellen, als sie im Ziel ankam. Monika, die andere Läuferin, nahm 2003 das erste Mal in Biel teil und hatte damals, außer kurzen Läufen, keine Erfahrung. Sie war also noch nicht mal einen Marathon gelaufen und benötigte damals etwa 15 Stunden. Nur der Vollständigkeit halber: der Steckenrekord liegt bei 6:37 Stunden (Männer), bzw. 7:37 Stunden bei den Frauen. Für uns Spaßläuferinnen und Läufer keine Orientierung, aber um uns zu beeindrucken genügt es. Das sind Fabelzeiten.

 

Ich wünsche den Organisatoren in Biel steigende, oder zumindest konstante Teilnehmerzahlen und mir wünsche ich, dass es den Lauf  noch in 20 Jahren gibt. Damit ich ihn dann auch noch laufen kann wie Werner Sonntag, der auch dieses Jahr wieder teilgenommen hat und mit seinen 79 Jahren und einer Zeit von 16:24 Stunden den Lauf bravourös gemeistert hat (in 20 Jahren bin ich dann auch 79 Jahre alt!). Er ist der Autor des legendären Buches "Irgendwann musst du nach Biel" (1979), das ich leider noch nicht gefunden (längst vergriffen) und gelesen habe. Vermutlich hat er damit einen guten Teil der Legende von Biel dargestellt und wohl auch mit begründet.

 

Wie auch die vergangenen beiden Jahre starteten wir um 14 Uhr von Stuttgart aus mit dem Auto (Karlsruhe, Basel, Solothurn, Biel) und waren nach knapp vier Stunden auf einem Parkplatz in der Nähe des Geländes. In Biel ist alles recht kompakt angeordnet, so dass man keine weiten Wege hat. Ohne Hektik konnten wir dann die Startunterlagen abholen, bzw. noch nachmelden.

 

Traditionsgemäß gehe ich dann auf die nahe gelegene Wiese, auf der man kostenlos campen darf und auch dieses Jahr traf ich dort einige Bekannte, die mir von ihren bestandenen Abenteuern (Isarlauf) und den noch vor ihnen liegenden (Badwater, Deutschlandlauf, ...) berichteten.

 

Punkt 22.00 Uhr fiel der Startschuss und alle Läuferinnen und Läufer setzten sich in Bewegung. Hektik war nicht nötig, denn dieser Lauf entscheidet sich ganz bestimmt nicht am Anfang. Dicht gedrängt standen beidseitig Zuschauer, links entlang der Startgeraden auf alten Heuwagen (große Leiterwagen). Sie verabschiedeten uns mit freundlichem Beifall auf unseren langen Lauf. Die ersten Kilometer führten durch die Stadt. Immer noch dicht gedrängt standen die Zuschauer auf den Gehwegen und klatschten Beifall. Sie würden hier sicher ausharren, bis um 22.30 Uhr die Marathonläuferinnen und Läufer und um 23 Uhr die Staffelläufer starteten, um dann anschließend noch in einem der vielen Straßencafes und Restaurants zu sitzen und den Abend zu genießen.

 

Tagsüber war es warm gewesen und auch jetzt noch hatte es sicher 26 Grad. Für die Nacht waren etwa 16 Grad angekündigt, so dass ich nur ein Laufhemd mit kurzen Ärmeln anhatte. Da man während eines solch langen Laufes einiges unterwegs benötigt, vom Klopapier bis zur Ersatzbatterie für die Kamera, hatte ich über meiner Laufhose noch eine kurze Hose mit Hosentaschen, in denen ich einiges verstauen konnte. Ein Trinkgürtel mit einer kleinen Flasche komplettierte meine Ausrüstung.

 

Bei meinem ersten Lauf 2003 hatte ich 12:36 h gebraucht, vergangenes Jahr wollte ich nach 12 Stunden ankommen, war dann aber drei Stunden länger unterwegs, was ich auf Übertraining zurückführte. Dieses Jahr machte ich im Training alles richtig, beim Rennsteiglauf im Mai lief es bestens und trotzdem kalkulierte ich vorsichtig: mit einer Zeit von 13 Stunden wäre ich zufrieden, würde es gut laufen, wären vielleicht auch wieder 12:30 Stunden drin. Um 13 Stunden zu erreichen, muss man den Kilometer in durchschnittlich 7:48 Minuten laufen. Das Höhenprofil ist nicht Furcht erregend, vielleicht + 350 Höhenmeter. Die Anstiege wollte ich gehen, also vielleicht 9 Minuten pro Kilometer. O.k., ich würde also mit etwa 7:10 min pro Kilometer anlaufen, das würde passen.

 

Soweit meine Theorie, die Praxis sah dann aber mal wieder ganz anders aus. Die ersten knapp sieben Kilometer verlaufen in der Stadt und da standen jede Menge Zuschauer, oder sie saßen in den Straßencafes und feierten uns. Kinder wollten abgeklatscht werden, das Läuferfeld war noch beieinander; nicht so, dass man sich gegenseitig störte, aber doch so, dass man die Begeisterung der MitläuferInnen noch mitbekam. Kurz, es war wieder mal eine phantastische Stimmung und ich wurde mitgerissen: Kilometer-Schnitt 6:20 Minuten und schneller. Ich redete mir gut zu, ermahnte mich - es half nichts, ich musste so weiterlaufen. Immer wieder sah ich in einigem Abstand vor mir die blonden Haare von Angelika im Läuferfeld wippen - noch einmal wollte ich ein Schwätzchen mit ihr machen, bevor sie mir dann auf und davon lief. Anders ausgedrückt, die Unvernunft siegte und ich wurde kaum langsamer. Erst als bei etwa Kilometer sieben die erste Steigung kam, reduzierte ich die Geschwindigkeit und verfiel ins Gehen. Eine weitere Ausrede habe ich: Zu Beginn sind die ersten fünf Kilometer einzeln ausgeschildert; danach kommen nur noch alle fünf Kilometer Entfernungsangaben. Bereits die km-5-Tafel aber hatte ich übersehen und hatte daher auch keine Rückmeldung mehr über meine Geschwindigkeit. Lediglich meine Pulswerte gaben einen Anhaltspunkt. Die waren zwar höher als geplant, 125 statt 120, das aber das erklärte ich mit den hohen Temperaturen.

 

Bei Kilometer acht war dann die Steigung überwunden und geschickterweise hatte man dort auch eine Verpflegungsstelle eingerichtet. Ich trank etwas (Wasser, Tee) und lief dann weiter. Konnte das sein? Neben mir lief Jürgen, den ich tatsächlich eingeholt hatte. Jürgen wollte 12 Stunden laufen und nicht 13, wie ich. Ein paar Minuten liefen wir zusammen, er machte mich noch auf die 10-km-Tafel aufmerksam und bald hatten wir uns aus den Augen verloren. Trotz der etwa 1 km langen Steigung hatte ich bis hierher einen Schnitt von 6:41 min pro Kilometer, über eine Minute schneller als geplant. Obwohl ich es hätte besser wissen müssen, ich machte mir keine Sorgen; im Gegenteil, mir ging es gut, die 73 Kilometer beim Rennsteig war ich, trotz mehr als dreimal mehr Höhenmetern, mit einem Schnitt von 7:29 gelaufen. Ich bekam dumme Gedanken. Trotzdem wurde ich etwas langsamer und lief auf den nächsten fünf Kilometern mit 7:16 min pro Kilometer nur noch unwesentlich schneller als geplant.

 

Die gewonnenen Höhenmeter verloren wir auf dem nächsten Kilometer wieder und liefen jetzt in das Dorf Jens, wo uns wiederum Zuschauer begrüßten. Sie saßen vor ihren Häusern, Familien mit Kindern standen am Straßenrand, die Kneipen an der Strecke hatten Tische und Bänke im Freien aufgebaut und machten heute ganz offensichtlich ein gutes Geschäft, denn alle waren sie voll besetzt. Der Abend war lau, bei einem Essen und einem Glas Bier konnte man gemütlich beieinander sitzen und den Läuferinnen und Läufern zuschauen.

 

Die Zivilisation lag hinter uns und wir liefen in der vom Mond (dreiviertel) beleuchteten Landschaft. Keine künstliche Beleuchtung mehr, keine Zuschauer, nur noch wir Läufer. Schon tagsüber hatte ich den Mond gesehen, etwa 60 Grad hoch, und mir ausgerechnet, dass er sicher bis 3 Uhr leuchten würde, bevor er unterging - ideale Bedingungen also. Meine Uhr konnte ich zwar nicht mehr ablesen, aber die Straße war bestens zu sehen, auch die Landschaft war in Konturen erkennbar, eine Taschenlampe zur Sehhilfe war überhaupt nicht notwendig.

 

Jetzt waren andere Sinne wichtig. Die Landschaft roch mal nach Landwirtschaft, mal konnte man den Duft der gemähten Wiesen wahrnehmen. Ein paar Kühe machten sich durch Muhen bemerkbar und einmal kamen wir wohl an einem Tümpel vorbei, denn das Quaken von Fröschen war nicht zu überhören. Es war die Zeit erreicht, die ich beim Lauf in Biel besonders liebe. Die Müdigkeit war noch weit weg, die Natur so intensiv zu spüren, wie viel zu selten in unserem Leben. Angenehme Gedanken zogen durch meinen Kopf und ich freute mich unbändig über all das, was ich erlebte und dass ich in der Lage war, so einen Lauf mitzumachen. Hatten mich vergangenes Jahr noch beginnende Schmerzen in Rücken, Hüfte und Füßen beeinträchtigt, machte diesmal mein Körper klaglos mit und ich konnte mit allen Sinnen genießen - mit beinahe allen Sinnen, denn der "Zeitsinn" lenkte mich ab. Immer wenn eine Straßenlaterne an einem Hof etwas Licht in die Dunkelheit brachte, schaute ich auf die Uhr, rechnete und überlegte, ob ich zu schnell, ob ich zu langsam war.

 

Wir liefen jetzt auf dem Feldweg, den ich noch bestens in Erinnerung hatte. Der Weg verlief fast schnurgerade, machte nach etwa 1.200 Metern einen 90 Grad Schwenk nach links, ging nach ein paar hundert Metern wieder nach rechts und wieder ewig geradeaus. Dann das Selbe nochmals, alles bestens vom Mond beleuchtet. Manche hatten trotzdem ihre Stirnlampen eingeschaltet, offensichtlich Macht der Gewohnheit, oder Angst vor der reinen Natur?

 

Kilometer 15 hatte ich passiert und bald würde ich Aarberg erreichen und damit die nächste Verpflegungsstelle. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr hatte ich diesmal vorgesorgt und etwas zum Trinken dabei, denn zwischen km 8 und 17,5 gab es nichts, was bei meiner Geschwindigkeit über eine Stunde ohne Trinken bedeuten würde. Das Städtchen war erreicht, viele hundert Zuschauer säumten die Straße, standen dann in der Ortsmitte noch dichter, stellenweise wieder zweireihig und feuerten uns an. Und das um diese Zeit - beeindruckend! Wieder waren die Gasträume der Wirtschaften nach draußen verlegt worden und die Menschen feierten den schönen Abend und uns, die wir noch mehr als 80 Kilometer vor uns hatten.

 

Als "Highlight" liefen wir auf der schönen, alten, überdachten mittelalterlichen Holzbrücke über ein kleines Flüsschen, begeistert gefeiert von den Zuschauern. Schon war die Verpflegungsstelle erreicht. Wieder trank ich ausreichend von allem, sogar Bouillon gab es und nach kurzem Aufenthalt ging es weiter. Hans hatte mich eingeholt und gab mir ein paar Brotstückchen, die er an der Verpflegungsstelle mitgenommen hatte. Zusammen mit der Bouillon eine angenehme Abwechslung.

 

Wieder ging es hinaus in die Nacht, Richtung Lyss. Kilometertafel 20 war erreicht. Ich hielt meine Uhr an das trübe Licht, das die Tafel beleuchtete: 35:11 für die letzten fünf Kilometer, eindeutig wieder zu schnell. Von Kilometer 22 bis 24 kam ein Anstieg, bei dem ich ins Gehen verfiel und tatsächlich, die fünf Kilometer bis 25 traf ich dann endlich meinen geplanten Schnitt von 7:42 beinahe genau, dank dem Anstieg.

 

Bei etwa Kilometer 23 stießen die Fahrradbegleiter zu uns auf die Strecke und brachten wieder Leben in das Läuferfeld. Auch dies ist etwas Besonderes in Biel, man kann sich von einem Fahrradfahrer begleiten lassen, der einen unterwegs versorgt. Ich habe einen solchen Begleiter zwar noch nie vermisst, kann mir aber vorstellen, dass der einem moralische Unterstützung geben kann und bei widrigem Wetter auch die ersehnte Wechselkleidung mitführt. Mit moderner Technik kann man dann auch dem "Verloren gehen" vorbeugen und so sah ich auch viele Begleiter telefonierend und auch die Läuferinnen und Läufer hatten wohl Handys dabei und verabredeten sich für eine bestimmte Stelle oder gaben ihre "Koordinaten" durch. Allerdings behindern die Fahrräder auch, manchmal wurde es richtig eng. Ständig wurde man von einem Fahrrad überholt oder sie fuhren neben einem Läufer oder einer Läuferin her und verengten so die Strecke. Gut dabei war, dass die Scheinwerfer der Räder den Weg beleuchteten und die Rücklichter der Vorausfahrenden den Weg wiesen.

 

Bis zur nächsten Kilometertafel (25) kamen wir noch zweimal durch kleine Dörfer und immer standen oder saßen viele Zuschauer am Straßenrand und feierten. Diesen Wechsel von Helligkeit und Aufmerksamkeit und Dunkelheit und Einsamkeit erlebt man bis in den frühen Morgen hinein und es ist ganz sicher ein charakteristisches Merkmal dieses Laufes, das mir persönlich sehr gefällt.

 

Kilometer 25 lag hinter mir, knapp drei Stunden war ich unterwegs und ganz allmählich schlichen sich ein paar sorgenvolle Gedanken ein. Erst ein Viertel geschafft, noch drei Viertel der Strecke vor mir. Dazu kam, dass jetzt der Körper langsam seinen Schlaf forderte, denn normalerweise bin ich um 1 Uhr nachts im Reich der Träume. Ich hatte zwar kein unmittelbares Schlafbedürfnis, lief aber leicht "gedämpft", die Sinne waren nicht mehr so aufnahmebereit. Erste Zweifel stellten sich ein. Ich hatte zu schnell begonnen und es könnte sein, dass ich die 13 Stunden nicht schaffe. Wenn ich jetzt nachträglich meine Berichte der letzten beiden Jahre lese, finde ich dort genau dieses Phänomen wieder. Man darf offensichtlich diese Phase nicht unterschätzen, man fällt in ein mentales Loch, die vor einem liegenden Kilometer wachsen ins Überdimensionale.

 

Kilometer 30, weitere fünf Kilometer geschafft, Schnitt 8:21 min pro Kilometer. Oh je, offensichtlich zollte ich jetzt dem zu hohen Anfangstempo und der Müdigkeitsphase Tribut. Ich fühlte mich auch bereits wie nach einem Marathon. Dabei hatte aber noch nicht mal einen ganzen hinter mir, jedoch noch beinahe zwei vor mir. Bei Kilometer 38, in Oberramsern, war das Ziel der Marathonis. Gleichzeitig war dort der erste Wechsel der Staffelläufer und - Achtung! - hier konnte man das erste Mal aussteigen. Letzteres Merkmal von Oberramsern wurde mir in den folgenden acht Kilometern immer bewusster. Mein Körper fühlte sich überhaupt nicht mehr gut an, mental hatte ich einen Tiefpunkt und die 62 Kilometer von Oberramsern bis ins Ziel schienen mir zu lang. Ich dachte daran, wie ich mich vergangenes Jahr auf den letzten 35 Kilometern quälen musste. An jeder Verpflegungsstelle machte ich viele Minuten Pause und schleppte mich dann gehend zur nächsten und hielt mich nur noch mit Cola am Leben. Selbst das half dann auf den letzten 10 Kilometern nicht mehr. Stopp! Das wird mir heute nicht passieren. Aufhören gibt es nicht, das wäre ein Novum in meiner Karriere. Nein, es wird weiter gelaufen! Trotzdem war der Gedanke stets im Hinterkopf.

 

Ich trabte also die Straße entlang, die jetzt nahezu acht Kilometer lang geradeaus führte. Recht flach, aber eben auch keine Ablenkung. Hier konnte ich meinen Zweifeln nachgehen, schlug mich auch einmal in die Büsche, um ein wichtiges, entlastendes Geschäft zu verrichten und benötigte auf den fünf Kilometern bis 35 sage und schreibe 10:28 min pro km! O.k, vier Minuten hinterm Busch - ja, ja, das dauert seine Zeit wenn es recht dunkel ist - aber aufmunternd war dieses Tempo nicht. Der absolute Tiefpunkt war offensichtlich erreicht, die "13 Stunden oder besser" konnte ich abschreiben. Jetzt ging es nur noch darum, den Zusammenbruch vom letzten Jahr zu vermeiden und gut durchzukommen.

 

Oberramsern (km 38) war erreicht, das Schild mit den beiden Alternativen hatte ich fotografiert und mich natürlich für’s weiter Laufen entschieden. Wieder trank ich reichlich von allem. Das Cola vermied ich, das sollte mir erst gegen Ende Auftrieb geben. Ich hatte mich fotografieren lassen (siehe Bild) und bald war ich wieder auf der Strecke.

 

Ich wusste noch, dass vor Oberramsern der nächste Anstieg kommen sollte. War aber nicht so, der kam erst ab etwa Kilometer 41. Es ging wieder mal ganz ordentlich hoch. Die Zielzeit hatte ich vernünftigerweise vergessen, überhaupt hatte ich mit allem abgeschlossen was Zeit hieß. Auch einen passenden Titel für meine geplante Diashow über diesen Lauf in Biel hatte ich mir schon ausgedacht: "Abschied von der Vergangenheit", wobei die Vergangenheit für all das stand, was vielen Läuferinnen und Läufern, also auch mir, doch auch immer wichtig war:  eine gute Zeit nämlich. Eigentlich ein Blödsinn! Was hat man davon? Die Bewunderung der Vereinskollegen, Freunde, Bekannten? Für diesen zweifelhaften Preis läuft man dann blind die Strecke entlang und hat nichts, oder wenig wahrgenommen. Also weg mit dem ganzen Blödsinn. Die Zeit vergessen wir und laufen in Zukunft nur noch so schnell, dass wir jeden Meter genießen können. Mit diesen Überlegungen hatte ich die schlechten Gedanken vertreiben können und ging daher den Anstieg hinter Oberramsern vernünftig, also gehend an.

 

Bald vier Kilometer dauerte das bergauf, von denen ich den geringsten Teil joggte; entsprechend langsam war dann der Schnitt: 10:28 die letzten fünf Kilometer. Vorbei, aus, keine 13 Stunden, sondern 15 Stunden. Und wenn auch die nicht, dann eben noch länger.

 

Mir war es auf diesen Kilometern immer besser gegangen. Die trüben Gedanken machten wieder der Freude an dem Lauf Platz. Ich nahm meine Umgebung wieder mit allen Sinnen wahr, der Tiefpunkt war ganz offensichtlich überwunden. Kilometer 45 hatte ich um etwa 4.06 Uhr erreicht, und als ich den dortigen Verpflegungspunkt verließ und wieder in die Nacht hinauslief, meinte ich tatsächlich, dass es ein ganz kleines bisschen heller geworden sei. Der Mond war schon vor zwei Stunden untergegangen und der Sternenhimmel zeigte sich seither in voller Pracht. Vor mit lag das bekannte "Himmels-W", das Sternzeichen Cassiopeia und vermutlich hätte ich auch den großen Wagen gefunden und noch andere Sternbilder, wenn ich sie gesucht hätte. Soviel Zeit jedoch wollte ich mir aber doch nicht nehmen.

 

Obwohl also unsere natürliche Beleuchtung "aus gegangen" war, konnte man die Strecke immer noch bestens sehen. Im bisherigen Verlauf hatte ich noch nie Zweifel über den Streckenverlauf. Stets sah man genügend Läuferinnen und Läufer vor sich, teils mit Taschenlampen, teils mit Fahrradbegleitung, so dass die Lichter den Weg wiesen. Den Untergrund konnte man ebenfalls erkennen, und da es meist Asphalt war, waren von da her auch keine Überraschungen zu erwarten. Ich lief vollkommen sorglos, selbst wenn ich an ganz dunklen Stellen im Wald nur noch sehr wenig sah. Aber auch für die Läuferinnen und Läufer hinter mir, die vielleicht mal ganz alleine liefen, würde der Streckenverlauf stets eindeutig sein. An neuralgischen Stellen standen Streckenposten und ansonsten waren in einigermaßen regelmäßigen Abständen kleine Schilder in Bodennähe angebracht, die die Richtung anzeigten. Sie waren mit Taschenlampen beleuchtet, so dass man sie nicht übersehen konnte. Kritische Abzweigungen waren durch rot-weiße Bänder so gesperrt, dass man zwangsläufig richtig laufen musste. Die Streckenführung in Biel ist vorbildlich, 46 Jahre Erfahrung zeigen sich auch hier.

 

Immer noch war erstaunlich viel Leben auf der Strecke, verursacht unter anderem auch durch die Staffelläufer. Die waren um 23 Uhr gestartet und die Ersten hatten uns bereits irgendwo bei Kilometer 25 überholt. Die etwas Langsameren schlossen auch jetzt immer noch von hinten auf und überholten. Der erste Stabwechsel war in Oberramsern bei Kilometer 38,5, so dass jetzt wieder frische Läufer auf der Strecke waren. Insgesamt vier Läufer bilden eine Staffel, bei den gemischten Staffeln muss mindestens eine Läuferin dabei sein. Die 100 Kilometer teilten sich in vier Etappen auf:  38, 17, 22 und 23 Kilometer. Ich finde diese Möglichkeit sehr interessant. Da können sich Vier zusammentun, die sich die Strecke alleine nicht zutrauen und haben doch das Erlebnis von Biel!

 

Und dann ging es durch ein vollkommen finsteres Waldstück, das mir noch gut in Erinnerung war. Der jetzt mondlose Himmel hatte keine Chance, den Weg zu beleuchten! Bei meinem ersten Lauf 2003 hatte ich hier das erste und einzige Mal meine Lampe benötigt. Diesmal hatte ich keine dabei, ich verließ mich auf meine Mitläufer und die Fahrräder. In der Tat sah ich genügend, dass ich auch diese vielleicht 700 Meter vollkommener Finsternis überstand. Im nächsten Dorf waren trotz der späten Uhrzeit (3 Uhr) immer noch Zuschauer an der Strecke, oder saßen in den jetzt ausgedünnten Biergärten und harrten aus, warum auch immer. Eine schöne Atmosphäre, die zu der ruhigen Landschaft passte.

 

Bei der Verpflegungsstelle Jegensdorf (km 48) hatte ich vor zwei Jahren meine Lauffreundin Angelika wieder eingeholt. Heute war das unmöglich, sie war sicher schon über eine Stunde vor mir und würde diesen Lauf wie immer bestens überstehen. In der Tat, sie war nach genau 12 Stunden im Ziel, wie auch mein Lauffreund Jürgen, den ich bei Kilometer 10 das letzte Mal gesehen habe.

 

Hurra! Ich hatte die fünfzig Kilometer erreicht, die Hälfte war geschafft. Mein Schnitt auf den vergangenen 5 Kilometern war auf 9:39 gestiegen. Ich fühlte, wie es mental mit mir bergauf gegangen war. Klar, für die zweite Hälfte würde ich länger als die 6:54 Stunden brauchen, aber mit einer guten Zeit hatte ich ja abgeschlossen. Frei nach Wilhelm Busch: „Und ist die Zeit erst ruiniert, läuft sich’s gänzlich ungeniert".

 

Wieder waren wir in der unbeleuchteten Landschaft und im Osten vor uns war der Horizont als schmales rotes Band zu erkennen, das die dünne Nebeldecke in der Entfernung sichtbar machte. Die Nacht hatte verloren und musste weichen, wie auch alle negativen Gedanken längst wieder verschwunden waren. In Kirchberg bei Kilometer 56, der zweiten Möglichkeit auszusteigen, war mir das kein Gedanke wert - lächerlich, undenkbar, warum auch?

 

Eigentlich hätte ich erwartet, dass sich nach dieser langen Zeit das Läuferfeld weit auseinander gezogen hätte. Das Gegenteil war der Fall. Ich hatte den Eindruck, dass noch mehr Leben auf der Strecke wäre. Immer noch belebten die Fahrradfahrer und die Staffelläufer das Feld der 100-Kilometer Läuferinnen und Läufer. Stets sah man dreißig, vierzig vor einem auf der Strecke und wurde ab und zu von einem Staffelläufer oder einer Staffelläuferin überholt.

 

Halb fünf Uhr war vorbei und es wurde deutlich heller. Das Vogelgezwitscher hatte bereits seit einiger Zeit mit Macht eingesetzt. Eine Zeit lang joggte ich jetzt mit einem Läufer, älter als ich, der wegen Krankheit, Krebsoperation und Chemotherapie beinahe zehn Jahre nicht mehr in Biel laufen konnte. Zuvor war er bereits 10 Mal die 100 km gelaufen, das erste Mal wohl 1976. Vergangenes Jahr hatte er sich wieder an den Lauf gewagt, musste aber bereits in Oberramsern aufhören. Diesmal sah es viel besser aus. Wir liefen ganz flott im 8er Schnitt und unterhielten uns, er erzählte ein wenig von damals und wir philosophierten über das Laufen und dessen positive Wirkungen. Als wir dann Kirchberg erreicht hatten, war es beinahe hell. Er ließ sich mit seiner Verpflegung mehr Zeit als ich, so dass er zurück blieb, als ich nach kurzer Pause weiterlief.

 

Hier traf ich dann die eingangs erwähnte Petra, die nach ihren ersten drei Marathons gleich Biel in Angriff genommen hatte: "Dann han ich mir eben gedenkt, dass ich auch in Biel laufen könnte!" meinte sie in ihrem netten Dialekt.

 

Kurz nach der Verpflegungsstelle führte uns der Weg auf den Emmedamm, einen geraden, schmalen Damm, mit einem noch schmaleren Pfad, auf dem keine zwei Leute nebeneinander laufen konnten. Schnurgerade verlief der Damm zu Beginn, tarnte sich dann später als Dschungel-Pfad (Ho-Chi-Minh) und endete dann nach ca. 10 km wieder ganz harmlos als geschotterter Wanderweg.

 

War der Pfad auf dem Emmedamm anfänglich noch gut zu laufen, wurde das nach ein paar hundert Metern schlagartig schlechter. Plötzlich waren wir in einem Wäldchen, links und rechts Bäume und Büsche, deren Äste in den Weg reichten und denen man ausweichen musste. D.h., man musste sich ducken, oder sie mit der Hand beiseite schieben, denn ein Ausweichen war nicht immer möglich. Der Pfad auf dem Damm war zu schmal und vor allem war der Untergrund zu schlecht und wurde immer schlechter. Er wurde steinig, war stellenweise mit Wurzeln übersät - ein gleichmäßiges Laufen war nicht mehr möglich. Jetzt war es hell, man konnte alle Hindernisse bestens erkennen. Wie es aber wohl den schnellen Läufern ergangen war? Ohne Beleuchtung wäre das hier kaum anständig zu bewältigen. Die Fahrradbegleitungen durften hier nicht fahren, sie mussten einen anderen Weg nehmen und stießen erst nach einigen Kilometern wieder zu uns; die fielen also als "Beleuchter" auch aus. Aber wie gesagt, es war hell, keine Probleme.

 

Dies war jetzt der legendären Ho-Chi-Minh-Pfad, der durch diesen Namen wohl an den Dschungel in Vietnam erinnern sollte. Bernhard hatte diesen Pfad in seinem Bericht vor zwei Jahren so charakterisiert: "Immer warte ich jetzt auf die knorrigen Wurzeln, spitzen Steine und andere Unebenheiten, die diese Wegstrecke doch mit sich bringen soll. Es kommen so gut wie keine. Der Weg ist frisch geebnet und gesplittet. Dem Ho Tschi-Minh-Pfad sind also zwischenzeitlich die Zähne gezogen worden." Das muss vor zwei Jahren ein anderer Streckenverlauf gewesen sein, denn die knorrigen Wurzeln, die spitzen Steine, andere Unebenheiten und noch viel mehr, all das habe ich bereits im vergangenen Jahr und auch diesmal wieder im Übermaß vorgefunden.

Ich fühlte mich aber so gut, deutlich besser als vergangenes Jahr, so dass ich diesen Pfad zum größten Teil joggte. Nur weil mich mein Verstand ermahnte und an meine Vorsätze erinnerte, verfiel ich zwischendurch mal ins Gehen. Trotz der schlechten Bedingungen schaffte ich so die vielleicht fünf schwierigsten Kilometer in einem 8er Schnitt. So konnte es weitergehen.

 

Der Ho-Chi-Minh-Pfad war überwunden, jetzt liefen wir wieder auf einem kleinen Damm. Der Weg war schmal, aber gut zu laufen. Ein Klärwerk wurde passiert, ein kleiner Schlenker, wieder geradeaus. Die Wege wurden breiter, jetzt waren sie geschottert und bei der Verpflegungsstelle Gerlafingen (km 67) lagen die 10 Kilometer Naturwege auch hinter mir. Letztes Jahr ging es mir hier schon längst nicht mehr gut, ich machte über 15 Minuten Pause. Heute war das alles ganz anders. Wie üblich trank ich einen Becher Wasser, mischte dann Cola und Tee, nahm was zum Essen, trank noch mal einen Becher Cola, füllte meine Flasche mit Tee und Cola auf, ließ ein Bild von mir machen, machte eines von Hans, der mich mal wieder eingeholt hatte und nach nicht mal zwei Minuten war ich wieder auf der Strecke.

 

Ab jetzt lief man auf normalen Landstraßen, aber ohne Verkehr, vermutlich gesperrt? Die nächsten zehn Kilometer ging es ganz unmerklich hoch. Wir liefen durch eine Ortschaft, wo die Leute schon zu arbeiten begonnen hatten, oder sie saßen an der Straße vor einer Wirtschaft, diesmal aber zum Frühstück.

 

Kilometer 70 war vorbei. Es war acht Uhr, die Sonne wärmte schon beinahe unangenehm, Schatten war kaum zu bekommen und ich war dankbar, dass ich eine Mütze dabei hatte. Die Nacht über hing die an meinem Trinkgürtel, seit etwa einer Stunde aber hatte ich sie aufgesetzt. Soeben lief ich in einem eher tristen Industriegebiet auf einer kerzengeraden Asphaltstraße und überlegte, wie unangenehm die Sonne doch war und heute noch werden würde, als etwa 300 Meter vor mir zwei Schranken heruntergingen. Offensichtlich ein Bahngleis, auf dem demnächst ein Zug vorbeikommen würde. Sofort verfiel ich ins Gehen, denn sonst müsste ich dort vorne warten. Tatsächlich fuhr dann auch gleich ein Zug in den Bahnhof ein und kurz danach wieder weiter. Als ich den Übergang erreichte, war der Weg wieder frei. 

 

Noch zwei Ortschaften passierten wir, bis dann der Streckenabschnitt kam, an den ich mich wieder gut erinnern konnte. Jetzt würde es über eine Stunde auf einer Landstraße weiter gehen, links meist Wald, ab und zu eine Wiese am Hang, rechts Bauernhöfe oder grüne Wiesen und Felder. Die Landschaft hatte ich in angenehmer Erinnerung. In Anbetracht meiner letzt jährigen miserablen Erfahrungen, bewältigte ich diesen Abschnitt mit einem Mix aus Gehen und Joggen und erreichte so doch noch einen Schnitt zwischen 9 und 10 Minuten pro Kilometer. Nicht überwältigend, aber ich war zufrieden, dass es mir immer noch gut ging.

 

Geschafft, Bibern (km 76,6) war erreicht. Die Straße in den Ort sah ganz harmlos und flach aus. Nach ein paar hundert Meter im Ort machte die Straße einen scharfen Knick nach rechts, kurz danach kam die Verpflegungsstelle und dann ging es sofort steil nach oben. Nur kurz stoppte ich, trank meinen bewährten Mix, füllte die Trinkflasche wieder auf, ignorierte die dortige Massagestelle, wie auch alle anderen zuvor und machte mich dann an den Aufstieg. Die Sonne hatte jetzt ihre Kraft vervielfältigt, die Straße lag schattenlos vor mir und wieder mal überholte ich Hans, dem die Hitze noch mehr zusetzte als mir. Ein Läufer war vor mir, neben ihm seine Fahrradbegleiterin, die längst abgestiegen war und das Fahrrad schob. Sie machte dabei einen so schwerfälligen, müden Eindruck, dass ich schon befürchtete, der Läufer müsse jetzt seiner Begleiterin noch das Fahrrad schieben. War natürlich nicht so, ich überholte in flottem Schritt und war bald oben angekommen. Jetzt ging es eine ganze Weile auf der Landstraße bergab. Der Wald, den wir dabei durchquerten, bot genügend Schatten und ich joggte wieder. 

 

Da - eine Läuferin, die ich schon ganz zu Beginn des Laufes gesehen und so nach zehn Kilometern überholt hatte und weit hinter mir wähnte, überholte mich und vergrößerte langsam den Abstand. Der Wald auf der rechten Straßenseite war zu Ende und man hatte jetzt freien Blick hinunter in die Ebene von Biel. Noch einen Kilometer joggen und gehen und schon war das Schild " km 80 - Finish 20 km" am Ortseingang von Arch erreicht! Ich freute mich, es ging mir noch gut, joggen war noch möglich, was wollte ich mehr!

 

Die Straße machte einen Bogen nach rechts und schon kam das bekannte Steilstück in den Ort hinunter. Etwa 500 m steil abwärts und dann war die nächste Verpflegungsstelle (km 81) erreicht. Dasselbe Ritual wie immer, dann ging es weiter, durch den Ort vollends durch und hinaus in die pralle Sonne. Die Läuferin, die mich oben noch überholt hatte, war wieder vor mir und ins Gehen übergegangen. Zu Zweit geht es besser und so kamen wir ins Gespräch. Monika lief zum zweiten Mal in Biel, war auch schon den Nachtmarathon in Karlsruhe gelaufen (80 km), hatte aber ansonsten wenig Läufe gemacht. Ich erzählte von meinen Läufen und wir unterhielten uns bestens.

 

Ich war noch voller Tatendrang und wäre sofort losgejoggt, wenn sie irgendwie das Signal gegeben hätte. Aber offensichtlich war ihr nicht danach zumute, so dass ich die nächsten Kilometer nur neben ihr her ging. Längst war der schöne Abschnitt neben der Aare erreicht. Zwar lag der Weg nicht im Schatten, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass es am Wasser etwas kühler wäre, als auf dem freien Feld. Vor zwei Jahren noch verlief die Strecke anders, man lief über offenes Gelände, vollkommen schutzlos der Sonne ausgesetzt. Ich kann mich daher nur wiederholen: "Dieser Streckenabschnitt ist wirklich ein Gewinn für den Lauf."

 

Mit bester Unterhaltung erreichten wir die Verpflegungsstelle in Büren (km 86,5). Kurz setzte ich mich auf die Mauer zum Fluss, trank mein Cola. Welch ein Glück, dass mich Monika ganz absichtslos vom Joggen abgehalten hatte. Das hätte ich garantiert bereut. Obwohl es mir noch immer gut ging, spürte ich bereits eine erste Grenze. Jetzt also weiterhin vorsichtig weiter!

Die Sonne hatte an Stärke zugenommen und Schatten war die nächsten acht Kilometer nicht zu erwarten. Noch eine Zeitlang waren links vom Weg Büsche und dahinter die Aare, aber nachdem Kilometer 90 erreicht war, führte der Weg hinaus auf Felder und man lief in der prallen Sonne. Ich hatte eine kurze Pinkelpause gemacht und gedacht, Monika locker einholen zu können. Pustekuchen, obwohl auch sie nur ging - ich kam ihr nicht näher. Joggen wollte ich nicht in dieser Hitze. Wenn überhaupt, dann erst wieder auf den letzten Kilometern, die im Wald verliefen. Auch an dem Gefällestück hinunter nach Pieterlen kam ich ihr nicht näher, denn auch sie joggte hier natürlich. An der Verpflegungsstelle Pieterlen (km94) hatte ich sie beinahe wieder eingeholt. Aber als ich ankam, ging sie gerade weiter. Obwohl ich mich auch hier beeilte, sah ich  sie erst wieder im Ziel. Sie war noch so gut drauf, dass sie mir auf den letzten sechs Kilometern mehr als 16 Minuten abgenommen hat.

 

Ich fühlte mich immer noch so gut, dass ich flott gehen konnte. Tatsächlich schaffte ich die fünf Kilometer von 90 bis 95 in einem Schnitt von 9:42, trotz Verpflegungspause. Dann endlich waren wir an der Strecke, die den Bahngeleisen entlang führte. Zumindest Halbschatten hatte man, bis man dann endlich weg von der Eisenbahn in ein Wäldchen geführt wurde. Hier war die Hitze nicht mehr so unerträglich, trotzdem wurde ich langsamer. Bei der Verpflegungsstelle (km96,5) musste ich mich tatsächlich zwei Minuten hinsetzen, bevor ich langsam weiter gehen konnte. So etwa bei Kilometer 98,5 verließ man den Wald und wurde durch ein Gelände geführt, das aussieht wie ein Bauhof, natürlich in praller Sonne. Noch einige hundert Meter geradeaus, dann nach links auf eine lange Gerade, die an Sportplätzen vorbeiführt. Hier saßen auch wieder Zuschauer und spendeten freundlich Beifall. Noch einmal nach rechts abgebogen, die Zielgerade hoch und die 100 km waren geschafft. Getreu meiner neu gewonnenen Erkenntnis, ging ich auch diese letzten hundert Meter und joggte nicht. Warum auch einen Eindruck erwecken, der nicht stimmte.

 

Insgesamt 15:15:08 Stunden war ich unterwegs. Für die erste Hälfte brauchte ich 6:54 Stunden für die zweite Hälfte 8:21, eindeutig eine falsche Geschwindigkeit am Anfang. Obwohl ich sogar 11 Minuten langsamer als vergangenes Jahr war, war ich diesmal viel zufriedener. Bis auf die letzten fünf Kilometer ging es mir richtig gut, den Durchhänger in der Nacht mal nicht berücksichtigt. Wenn auch noch die Zeit in etwa gestimmt hätte, wäre ich rundum zufrieden gewesen. Aber die Zeit will ich ja eh vergessen!?

 

Was bleibt? Während des Laufes habe ich mir überlegt, ob ich Biel im kommenden Jahr wieder machen würde. Nur kurz zweifelte ich, war mir dann aber bald im Klaren, dass das selbstverständlich war. Obwohl Füße, Waden und Oberschenkel schmerzen: Biel ist ein Erlebnis. Der Lauf in der Nacht, die Strecke, die Ruhe, die Landschaft, die Zuschauer, die Stimmung, die Anstrengung – da will ich jedes Jahr dabei sein.

 

Informationen: Bieler Lauftage
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