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Laufberichte

Du sollst dir kein Bild machen

10.09.06
Autor: Lisa Metz

Ohne Digicam angereist - diesmal wollte ich ausnahmsweise durchlaufen und für eine Fototour fehlte mir anschließend die Zeit - war ich schnell froh, Bildgerätfrei zu sein.

Münster: für mich eine Stadt, in der ich 18 Jahre gelebt habe: gute Jahre, Studentenjahre, lustige, lebendige, schwere und anstrengende Jahre. Hier war ich Studentin, Mutter, Alleinerziehende, Putzfrau, Berufstätige ... viele Bilder in mir, als ich - nach fünf Jahren Münster-Abstinenz - alles wiedersehe.

Vieles ist wie früher, vieles ist neu - dunkel aus dem Inneren tauchen vergessene Plätze, Namen, Szenen auf ... Erinnerungen, bunte Bilder, trübe Bilder - viele Bilder vermutlich über die Jahre und durch die Emotionen verfälscht, verzerrt, ständig sich wandelnd.

Fotos stehlen die Seele, so glauben manche Völker - vielleicht haben sie recht. Fotos stehlen Leben. Der schöne Prinzipalmarkt, Schloß, Domplatz ... täglich bin ich drüber zur Arbeit geradelt und dennoch ist meine Stadt nicht die Stadt der Touristen. Menschen, Gesichter, Erlebtes - DAS war mein Münster und so lebt es in sich wandelnden Bildern weiter. Ich will mir kein Bild mehr machen ... ich will laufen.

Achja, will ich wirklich? Mich hat schon am Vortag die Lust verlassen. Aber jetzt schlurfe ich über das Kopfsteinpflaster des Prinzipalmarktes und will eigentlich nicht. Bleibe mit den Füßen hängen - ohne einen Meter gelaufen zu sein. Na klasse!

Egal: eine Frau muss tun, was eine Frau tun muss. Und ich muss tun, was ich mir vorgenommen habe: wenigstens loslaufen, wie weit auch immer.

Im Startbereich komme ich mir wie eine Zuschauerin vor. Unbeteiligt, Bilder aufsaugend und zum Leben erweckend. Etwas fremd und unwirklich. Dann gehts los.

Vorgenommen hatte ich mir, es mit 4:30 h zu versuchen. Es gab keinerlei Anlass zu glauben, dass das angesichts meines rudimentären Resttrainings hinhauen konnte. Auch mein Gewicht geht seit Monaten wieder nach oben. Aber gleich auf 5 Stunden loslaufen? auch blöd!

Wir kommen an vielen Stellen vorbei, die in mir Bilder wachrufen. Alte Bilder vermischen sich mit neuen. Mit Laufen - damals war ich starke übergewichtige Raucherin - mit Bewegung, mit neuem Leben in München ... alles läuft. Ich auch.

Gleichzeitig will ich in meine Bilder versinken. Es geht nicht. Das Münsteraner Publikum ... es macht Krach! Ja - sie meinen es gut und viele werden sich freuen. Ich freue mich nicht, wenn mir eine Trillerpfeife ins Ohr schrillt und mein Herz einen Überschlag macht vor Schreck.

Sambabands, Musikgruppen, Musik vom Band oder Bongotrommeln: alles völlig okay! Was m. M. nach verboten werden müßte, sind: laut schnarrende Rasseln (besonders gerne direkt neben dem Ohr in Bewegung gesetzt), Trillerpfeifen (trommelfellsprengend) und am schlimmsten: laut dröhnende Nebelhörner.

Letzteres versetzte mir auf den ersten Kilometern mehrfach so nah an mir einen solchen Schreck, dass ich gestolpert bin. Heute wohl mit etwas überreizten Nerven unterwegs. Warum haben so viele Leute um mich herum Nebelhörner? ICh seh gar keinen ... wer war das? SCHON WIEDER *Herzkasper*  ... da sehe ich den Übeltäter: ein Läufer hat so ein Teil an den Gürtel geschnallt und dröhnt in regelmäßigen Abständen ganz nah bei mir seine Nebeldröhntüte. Sowas gehört in den Hafen. Aber doch nicht zjm Marathon!

In mir steigen Aggressionen hoch. Kurzfristig überlege ich mir, ob ich dem Typ vor mir kurz in die Achillessehne trampel, damit ich ihn los bin. Gewaltphantasien übermannen mich jetzt bei jeder Trillerpfeife, Ratsche, Nebelhorn. Und das mir, friedliebendes Wesen, das ich bin.

Meine Gedanken produzieren fäkalsprachliche Beschimpfungen am laufenden Band für alles, was mich nervt. Und mich nervt vieles. Ein Mann am Rand ruft: "Hey - LÄCHELN! Ich denke, laufen macht Spaß!" und gackert über seinen eigenen Witz. Nagut - der war gut  ... ich muss grinsen und langsam löst sich die Wut - ich weiß auch jetzt noch nicht, wo genau die herkam - auf. Laufen soll Spaß machen. Das Laufen macht mir auch Spaß. Auch jetzt. Aber der Krach nicht. Ich freue mich auf Roxel und Gievenbeck und die langen Strecken durch die westfälische Pampa.

Bei Kilometer 10 sind 1:03 h um. Passt einigermaßen. Hier verdrücke ich meine Billiguhr so komplett, dass anschließend Datum, Uhrzeit ... ALLES verstellt ist. Gut - vergessen wir die Uhr. Einfach laufen!

Bei 2:13 h beim HM bin ich schon leicht müde. Kein gutes Zeichen. Etwas langsamer werden. Kilometer 30 mit 3:13 h immer noch ziemlich okay für mich. Aber es ist schon lange heiß. Warum - ZUM TEUFEL! - regnet es nicht? In Münster regnet es IMMER! Heute nicht - es ist heiß.

Scheißdrecksverdammte Hitze, verdammte ... die Fäkalanwandlungen flackern in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder auf. Gut, dass ich mir kein Bild machen will. Heute würde es ein schrill-verblitztes, böses Fratzenbild.

Komische Art, einen Marathon zu laufen. Ich merke das selber. Aber es wird sowieso besser. Das mit der Wut. Das mit den müden Beinen wird schlimmer. Jetzt laufe ich irgendwann so langsam, dass ich meine, auf der Stelle zu treten. Es wird schwer. Aber ich laufe. Gönne mir an jeder Erfrischungsstelle eine Trink- und Gehpause. Aber nur solange, bis das Getränk leer ist. Dann wird gelaufen. Egal wie langsam. Ich laufe.

Auf meiner Startnummer steht: "Elisabeth". Hätte ich das gewußt, ich hätte mich mit Lizzy angemeldet, was eindeutig anfeuer- und zuruf-freundlicher ist. Oder einen unaussprechlichen chinesischen Namen hingekritzeln, damit KEINER auf die Idee kommt, es überhaupt zu versuchen.

So übt sich das begeisterte Publikum - ich weiß, sie meinen es gut ich ich gebe mir Mühe, wenigstens ab und zu zu lächeln - in grübelndem Entziffern und gelegentlichem unharmonisch skandiertem: "E-li-sa-beeeet (die Westfalen ziehen das EEE endlos in die Länge) - du schaffst das!" Ja klar. Langsam beschleicht mich die Vermutung, dass ich es wirklich schaffen werde.

Ab und zu tatsächlich bekannte Gesichter an der Strecke. Aus ganz ganz lange vergangenen Zeiten. Die ich schon in Münster kaum noch kannte. Meine Arbeitsstelle damals: Verwaltungsgebäude der Uni - direkt neben mir. Wieder tauchen Bilder auf und vermischen sich ... du sollst dir kein Bild machen ... sie schweben und kleben, sie wabern und mischen sich, ich hatte viel vergessen und weiß nichtmal, ob ich mich immer richtig erinnere. Vermutlich nicht.

Irgendwo bei Kilometer 38 oder 39 lugt ein kleiner Hammermann ums Eck und grinst mich gezielt an. Ich - wieder ganz auf Proll-Trip - zeige ihm den innerlichen Stinkefinger: "Arschloch! Bist eh zu spät. Vor 5 Kilometern hätteste noch ne Chance gehabt. Aber jetzt doch nicht mehr  - bin ja fast da. Penner! Schnarchsack! Verpiss dich, lahme Schnecke lahme!" Tut er auch - es geht ja fast aufs Ziel zu.

Ab Kilometer 40 kommt wieder Schwung auf. Zumindest fühlt es sich so an. Und jetzt machen die Menschenmengen auch Spaß. Mich überrieselt Gänsehaut. Durchgelaufen! Unter 5 Stunden auf jeden Fall, wenn auch deutlich über 4:30.

Diesmal bleibe ich nicht am Kopfsteinpflaster hängen. Sehe ich wieder alte Bilder von früher, Gespenster? Da jubeln mir Bekannte zu. Ein Stück weiter fassungslos erstaunte und fragende Gesicher: "Lisa? Bist du das wirklich?" von früheren jahrelangen engen Nachbarn. Ja, ich bins! Winke, habe ein unerwartetes Begrüßungskommando, Gespräche - die sind echt! was ein schöner Zufall! - noch mehr Bilder .. ein Medaille auch.

Aber nicht viel Zeit. Mein Zug fährt nur gut 2 Stunden später. Vorher noch Klamotten abholen, duschen, Urkunde holen, Gravur ... alles dauert .. es wird eng. Massage geht nicht. Die Warteschlange war zu lang.

Nettozeit: 4:43:52 h
ich finde mich mal wieder toll!

Ohne starres Foto aber mit ganz vielen neuen Bildern in mir und um mich verlasse ich die Stadt. Lasse sie leben. Ich will nach Hause. Lasse sich die Bilder mit denen von früher vermischen, falsch, sich ständig wandelnd, subjektiv und eingefärbt - aber MEINE Bilder: voller Leben. Ich werde sie nicht abheften meine Vergangenheit, sie darf weiterzappeln  und ich werde wiederkommen - wenn auch nicht zum Marathon - und neue Bilder untermischen.

(Die fäkalsprachlichen Anwandlungen fanden ihre Fortführung in den Zügen, die mich nach einer wahren Odyssee aus Baustellen, Umleitungen, verpassten Anschlüssen, Personenschaden - können sich diese bescheuerten Selbstmörder nicht mit Tabletten umbringen, diese Idioten?! - ... erst heute nacht nach 2 Uhr zu Hause eintrudeln ließ. Ohne Schlaf - diese Züge sind voll und unbequem auch noch!")

 

Informationen: Volksbank Münster-Marathon
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