Eigentlich wollte ich ja nie einen Marathon laufen, auch wenn ich bei meinen ersten Teilnahmen am Hermannslauf schon zu hören bekam, dass ich quasi die Qualifikation in der Tasche hätte. Doch 42,195 Kilometer zu laufen schien mir utopisch. Und jetzt stehe ich tatsächlich an der Startlinie zum meinem 100. Marathon (und mehr). Wer hätte das gedacht? Ich damals sicher nicht.
Ausgesucht habe ich mir für mein Jubiläum meinen Lieblingsmarathon in Münster. Und es hat geklappt, dazu noch in einem Skulptur-Projekte-Jahr. Das findet in Münster nur alle 10 Jahre statt. Dafür wird die gesamte Stadt zum Museum, denn zahlreiche Kunstwerke verschönern das Stadtbild. Die schönsten bleiben dauerhaft erhalten, wie die Kugeln am Aasee oder die in den Boden gebaute Pyramide am Naturwissenschaftlichen Zentrum der Universität. Um die diesjährigen Kunstwerke erkunden zu können, reise ich bereits am Freitag mit meiner Familie an. Schon am frühen Samstagmorgen hole ich meine Startunterlagen, dann geht es los auf Erkundungstour, die in Münster standesgemäß per Fahrrad absolviert wird. Highlight ist das Überwassergehen durch den Hafen. Anschließend noch etwas ausruhen und am Abend beim Vietnamesen die nötigen Energien für den Marathon tanken.
Die Nervosität vor dem Jubiläum ist nicht so groß, dass ich nicht schlafen könnte. So bin ich gut ausgeruht. Die Sonne strahlt bereits vom Firmament. Alles ist gerichtet für den heutigen Lauf. Da der Lauf sehr beliebt ist (auch bei den M4Y-Leserinnen und -Lesern, wie die Umfragen immer wieder belegen) und viele „Stammkunden“ hat, trifft man überall Bekannte, so auch HaWe und Gerd. Ganz entspannt warten wir auf den Startschuss. Aufgeregt bin ich nicht wirklich, macht wohl die Routine. Obwohl, heute wird nichts Routine sein. Das beginnt bereits mit meinem Outfit. Nikita und Silke haben mich standesgemäß mit einem Jubiläums-T-Shirt ausgestattet. Es ist auffällig genug, sodass mich bereits vor dem Lauf einige Mitstreiter auf den 100. Marathon ansprechen. Von Respekt für diese Leistung ist die Rede, der wird mir heute noch oft gezollt. Dann bewegt sich der Läuferpulk zur Startlinie. Die letzten Sekunden werden heute herunter geklatscht, dann ertönt der Startschuss. Die Münsteraner Marathonparty kann beginnen.
Die ersten Kilometer fallen naturgemäß leicht. Genauso ging es mir bei meinen ersten Hermannsläufen, die eigentlich Grundstein sind zu meiner Marathonkarriere. Nachdem ich vom Schlossplatz kommend dem Verlauf der alten Stadtbefestigung gefolgt bin, biege ich nach links ab. Über das ehemalige Aegiditor erreiche ich die Innenstadt, die ich jetzt einmal in Richtung Norden durchquere. Voraus erblicke ich das LWL-Museum für Kunst und Kultur. Es ist die zentrale Anlaufstelle in Bezug auf die Skulptur-Projekte-Ausstellung. Entsprechend konnten wir hier gestern unsere Räder mieten und zu unserer Kulturroute starten.
Die Fassade des Museums ist allein schon ein Blickfang. Die Moderne lässt grüßen. In zahlreichen Silberkugeln spiegelt sich das Sonnenlicht. Wer aufpasst, hat jetzt bereits die ersten Kunstwerke erspäht. Zugegeben, spektakulär ist der Tieflader vor dem Museum nicht und die Installation Comics auf der Hauswand geradeaus ist auch nicht aufdringlich, dafür passen sie sich schön ins Stadtbild ein. Zudem ist noch erhöhte Konzentration gefordert, denn das noch geschlossene Läuferfeld drängt durch den schmalen krummen Timpen.
Anschließend biege ich in die Frauenstraße und schaue auf die Überwasserkirche. Als vor ein paar Jahren ein Regenguss die Straße überschwemmte, war ihr Name sozusagen Programm. Von hier aus hat man genau den Blick auf die Stadt, der in den Wilsberg-Krimis regelmäßig vorkommt. Das für die Serie genutzte Antiquariat Sölder bekomme ich allerdings nur mit einem Blick nach links vor die Linse. Bevor ich kurz darauf in die Rosenstraße abbiege, grüßt als nächstes modernes Gebäude die Diözesanbibliothek Münster. Dieser Kontrast zwischen alter und neuerer Architektur begegnet einem auf der Strecke häufiger. Wobei auffällt, dass das Nebeneinander der verschiedenen Baustile in Münster keinen Widerspruch darstellt. Gefällig wechselt sich Altes und Neues ab. Nach der Bibliothek erreiche ich den Spiekerhof. Die Eindrücke wechseln und sind immer neu.
Ich erinnere mich, wie ich bei meinem zweiten Marathon ohne angemessenes Training an die Startlinie ging und folgerichtig nach einer gefühlten Ewigkeit ins Ziel kam. Diese Scharte wollte ausgeglichen sein, weshalb im gleichen Jahr der erste Marathon in Münster zu meinen dritten wurde. Ich war zufrieden und der Appetit auf mehr Marathons in Münster, Deutschlands und der Welt war geweckt.
Ich lauf auf Höhe der 4:00 Stunden-Pacemaker und kann Klaus begrüßen, den ich in Bremerhaven kennen lernen durfte und der heute auch zum 100. Mal die Marathonstrecke bewältigt. Derweil führt mich die Neubrückenstraße in Richtung Promenade, vorbei am modernen Theater. KM 3, die Promenade ist zum ersten Mal erreicht. Hier verlief früher die Stadtmauer, ein großer Teil ist heute Rad-Autobahn. Die Baumallee spendet Schatten.
Hermann ruft mir zu: „Du bist zu schnell.“ Und tatsächlich, für die maximal geplante Zeit von 4:30 Stunden bin ich flott unterwegs. Günter, den ich an seinem bunten PUM-T-Shirt erkenne, war beim diesjährigen Deutschlandlauf dabei und hat gefinisht. Neunzehn Tage ohne Ruhetag, mit Etappen von bis zu 79 Kilometern. Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Wenn zwischen zwei Marathons ein paar Wochen liegen, ist mir das angenehm. Das Kreuzviertel erreichen wir bei KM 6,5. In diesem Wohngebiet wechseln sich Gründerzeit- und moderne Gebäude ab. Die Straßen säumen zahlreiche Bäume. Das Publikum steht nicht nur am Straßenrand, sondern auch winkt auch aus den Fenstern.
Schon biege ich erneut auf die Promenade ein, da grüßt mich mein persönlicher Fanclub. Heute inklusive Jubiläumsplakat. Da kann kaum etwas schief gehen. Vor mir leuchtet ein gelbes Trikot auf, das seinen Träger als Mitglied des 100 Marathon-Club-Deutschland ausweist. Dort kann jeder Vollmitglied werden, der die magische Zahl erreicht hat. Ich bin zwar auch schon Mitglied, aber heute noch einmal als Anwärter unterwegs. Ralf wünscht mir für meinen Jubiläumslauf alles Gute. Heute läuft es gut bei mir. Bis zum Ludgerikreisel laufen wir durch die schattenspendende Baumallee. Es schließt sich eine Kehre über den Marienplatz und vorbei an der Ludgerikirche an.
Der Name der Salzstraße Name verrät, dass hier im Mittelalter das weiße Gold gehandelt wurde, was auch einige Prachtbauten belegen. Schade, dass der Erbdrostenhof unscheinbar links an der Strecke liegen bleibt. Aber kein Problem, für die geneigten Leser habe ich seine Pracht bildlich eingefangen, inklusive der dort aufgestellten Skulptur. Die Motive gehen mir auf diesem Abschnitt nicht aus. Es dauert nur wenige Minuten, da laufe ich über die Ludgeristraße in Richtung Prinzipalmarkt. Der Turm von St. Lamberti grüßt die Läufer. In den Käfigen stellte man einst die Anführer der Wiedertäufer aus und bleichte ihre Knochen in der Sonne. Als gebleichtes Knochengestell kommen Stelzenläufer vor der Zieltribüne daher.
Nach etwas mehr als einer Stunde liegen 10 Kilometer hinter mir, ich liege genau im Zeitplan. Die Aegidistraße leitet mich jetzt zum Aasee. Vorbei geht es am Aegiditor, wo der Zuspruch der Zuschauer besonders groß ist. Es ist einer der absoluten Hot Spots beim Münster Marathon. Hier warten auch die Staffelteilnehmer auf ihre Kollegen, um ihren Streckenteil zu bewältigen.
Bis KM 12 lauf ich am Aasee entlang, die ersten Meter noch direkt am Wasser. Das angenehme Wetter lockt viele Segler auf den See. Fast andächtig zurückhaltend sind die Zuschauer in der Gegend um den Zentralfriedhof (ist kaum zu erkennen), während das Publikum auf der Himmelreichallee feiert und die Läufer lautstark anfeuert. Hier könnte ich sogar einen Wein bekommen, aber zum Anstoßen ist es noch zu früh, der Weg noch zu weit.
Afrikanisch klingende rhythmische Trommeln treiben mich über die Strecke. KM 15 ist erreicht, ich befinde ich mich auf dem Weg zum naturwissenschaftlichen Zentrum der Wilhelms-Universität. Das Zuschauerinteresse lässt etwas nach, dafür werde ich immer wieder auf mein Jubiläum angesprochen: 100. Marathon? Heute? Ja, ich kann es auch kaum glauben. Ich habe das Gefühl, ich bin heute besonders locker unterwegs. Die Kilometer fliegen nur so vorbei.
Gievenbeck liegt das erste Mal hinter mir. KM 19: Vor mir die anspruchsvollste Steigung der Strecke, die Brücke über die Autobahn A1. Michel feuert in gewohnter Manier das Läufervolk an. Kurz vor Nienberge ist die Halbmarathonmarke erreicht, ich überquere die Zeitmatte nach lockeren 2:06 Stunden. Auf geht’s in die zweite Hälfte. Die Staffelläufer wechseln sich schon wieder ab. Direkt vor mir geht die Sonne ein zweites Mal heute auf. Aus dem Ortskern schallt mir bereits Musik entgegen, das Publikum treibt mich weiter.
KM 23, Nienberge liegt hinter mir. Durch die Felder werde ich die nächsten Kilometer nach Roxel geleitet. Wer jetzt meint, es würde ruhiger, der irrt. Als erfahrener Münster-Marathoni weiß ich, dass auch auf diesem Streckenabschnitt zahlreiche Musikgruppen und Zuschauer warten. Und ich werde nicht enttäuscht. Da muss ich aufpassen, dass ich nicht zu schnell werde, denn schließlich steht eine gute Laufzeit heute ganz hinten an. Lieber genieße ich die nächsten Kilometer durch Feld und Flur.
KM 25, Haus Vögeding, Zeit wieder mal aufzutanken. Weiter geht’s. Kurz hinter KM 27 treffe ich Adalbert und Manfred aus meinem Heimatkreis. Letzterer ist, wie ich, Treueläufer in Münster. Da kann man keinen Lauf auslassen, auch wenn es schon mal schwerer fällt. Es freut mich, dass er es wieder schaffen wird.
KM 29: In Roxel wartet der nächste Stimmungshöhepunkt. Die Zuschauermassen reißen nicht ab. Die nächste Zeitmatte wartet und weist für mich eine Zeit unter 3:00 Stunden aus. Das passt. Die Anwohner geben alles, viele frühstücken im Garten und genießen die Marathon-Atmosphäre. Die Mädels an der Massagestation haben derzeit nicht viel zu tun und schließen sich den jubelnden Zuschauern an. Wir laufen erneut in Richtung Gievenbeck.
KM 31,5: Die Staffeln wechseln ihre Zielläufer ein, die frisch und hoch motiviert ins Rennen gehen. Gleichzeitig zwickt mein Knie. Sollte ich auf den letzten Kilometer noch Probleme bekommen? Eine kurze Gehpause verschafft Linderung und die letzten 8 Kilometer werde ich auch noch schaffen. Obwohl, dieses Teilstück fällt mir immer wieder schwer. Auf dem Weg über den Mergelberg scheint das Publikum noch einmal alles zu geben, so überschwänglich wird gefeiert. Eine Spinninggruppe tritt kräftig in die Pedale. Ob sie bis zum Ende des Feldes durchhalten? Ich kontrolliere es nicht.
KM 36: Ich habe einen kleinen Durchhänger und Ralf kann zu mir aufschließen. Sein persönlicher Fanclub wartet im Herzen von Gievenbeck und feiert ihn und mich an meinem Jubiläumstag. Das setzt neue Körner frei, Gievenbeck war doch gar nicht so schwer heute.
Um mich herum geht es noch immer lebhaft zu. Mit den Staffelläufern sind heute über 8.000 Läufer/innen auf den Straßen Münsters unterwegs, da ist man nie ganz allein. In der Masse läuft es sich leichter, ich schwimme mit, wie in einem Schwarm Fische. KM 39, die Vorfreude wächst, ich denke nur noch an den Zieleinlauf. Am Aegiditor spielen sie „Rockin‘ all over the world“. Ja, das habe ich heute auch geschafft. Die Aegidistraße ist bereits abgesperrt.
Sind heute nicht viel mehr Zuschauer an der Strecke als sonst? Hat das mit mir zu tun? Und wenn nicht, ich genieße es. Gänsehaut, als ich zum Prinzipalmarkt einbiege. Der rote Teppich ist für mich ausgerollt, die Fähnchen flattern munter im Wind. Glücklich überquere ich nach 4:11.57 Stunden die Ziellinie, hinter der mich Silke und Nikita bereits erwarten. Schöner kann mein Jubiläumslauf nicht enden. Der Marathon in Münster war genau der richtige für mein Jubiläum. Ich bin im nächsten Jahr wieder dabei, auch ohne Jubiläum.
Streckenbeschreibung:
Kurs über eine Runde.
Zeitnahme:
Einmalchip in der Startnummer
Weitere Veranstaltungen:
Staffelmarathon und Kids-Marathon
Startgeld:
Marathon: 50 – 60 -70 €, je nach Anmeldezeitpunkt
Auszeichnungen:
Medaille, Urkunde im Internet, Finisher-Shirt, Veranstaltungsfilm zum download
Verpflegung:
17 Verpflegungs- und Erfrischungspunkte an der Strecke und Verpflegung im Ziel. Gereicht werden Powerrade, Wasser und Cola. Dazu Bananen- und Apfelsinenstücke. An den Erfrischungspunkten nur Wasser.
Zuschauer:
Zahlreich an der gesamten Strecke, besonders geballt zudem an den Powerpoints und im Ziel.