Es war wie verhext. Vergangenes Jahr musste ich meine Aufgabe sausen lassen. Die über Jahre gepflegte Tradition der Teilnahme am Swiss City Marathon erlitt einen Unterbruch. Immerhin hatte der Orthopäde Unrecht und ich den Willen, dass mich das Knie nicht zum Zuschauer zu verdammen vermag. Luzern kam einfach ein paar Wochen zu früh.
Nachher lief es wie geschmiert. Bis zu dem Moment, an welchem eine Routineuntersuchung vier Monate später wieder die Notbremse zog. Sorgenkind diesmal: die Pumpe. Damit ist nicht zu spaßen, mit entsprechender Familienvorgeschichte im Besonderen und auch sonst nicht. Es stellte sich zum Glück heraus, dass mechanisch alles in Ordnung ist. Hauptsache, ich habe grünes Licht fürs Laufen bekommen!
Nachdem wir schon vor drei Wochen gemeinsam auf der Piste waren – er allerdings über die ganze Distanz – sind Anton und ich wieder zusammen in der Startliste aufgeführt. Altersmäßig sind wir in der gleichen Kategorie, ich bin aber nicht in der Altersklasse aufgeführt, sondern bei den Pacemakern. Das ist aber kein Hindernis, um schon am Samstag gemeinsam die Startnummern abzuholen, und einen Blick auf die kleine Marathonmesse im edlen Hotel Schweizerhof zu werfen.
Der Marathontag beginnt mit der Schifffahrt auf dem Vierwaldstättersee. Das Übersetzen vom KKL zum Verkehrshaus gehört einfach dazu. Sogar wenn es für mich schneller und einfacher wäre, mit der S-Bahn dorthin zu gelangen, würde ich nicht darauf verzichten wollen.
Die bisherigen Mitstreiter für die letzte Pacemaker-Gruppe sind nicht dabei, Zeit meinen neuen Partner für diese Aufgabe kennenzulernen.
Rechtzeitig lassen wir uns mit dem Strom zu dem großzügig bemessenen Starbereich ziehen. Die Spitze wird um 09.00 Uhr losgeschickt, wir können noch 26 Minuten nach Leuten suchen, welche den halben in 2:22, den ganzen Marathon in 4:45 laufen und sich dabei zuerst von uns bremsen und dann ziehen lassen wollen. Wir brauchen ein Gefolge wie seinerzeit die Sagengestalten, die durch die Luzerner Lande gezogen sind.
Kaum richtig angelaufen, spielt schon die erste Musik auf. Eine von vielen, die uns entlang der Strecke begleiten. Luzern ist eine Musikstadt in verschiedener Hinsicht. Eine davon sind die zahlreichen Guggenmusiken, die zu der Leuchtenstadt gehören wie die Fasnacht – und mit dieser innig verbunden sind. In diesem Dunstkreis tauchen viele Bezüge zur Sagenwelt vergangener Zeit auf.
Das Wetter ist uns gnädig und die von Sturm und Unwettern begleitete dunkle Jahreszeit ist noch nicht angebrochen, in welcher gefürchtete Gestalten ihr Unwesen treiben und sich uns in den Weg stellen könnten. Das böse Gespenst lässt sich zum Glück nur nachts vernehmen. Oder habe ich da eben einen von den auf drei Beinen hüpfenden, ihn begleitenden Hunden gesehen? Nein, das war ein Läufer, der bereits etwas unrund geht. Auch das dumpfe, heisere, schreckliche Bellen gehört nicht einem von ihnen, sondern einem, dessen Kondition nicht dem Anspruch genügt.
Ein Viertel der Strecke haben wir bewältigt und es ist noch reichlich Gefolge bei uns. Sind wir sogar das Vuotisheer? Wer ist in diesem Fall der Türst, der Anführer und wer die Sträggele, das zur Hexe gewordene Edelfräulein? Das Heer der Verdammten besteht aus Leuten, die für ihre Untaten zu Lebzeiten büßen müssen. Noch habe ich nicht das Gefühl, für etwas büßen zu müssen. Noch nicht. Mal schauen, wie es sich auf der zweiten Runde anfühlt.
In Horw, wo der Türst früher gejagt haben soll, verbreiten wir weder Angst noch Schrecken. Aufmunterung und Anfeuerungsrufe gibt es für uns.
Auf der Luzerner Allmend soll einmal eine wilde Jagd des Türst eine ganze Nacht gedauert haben. Das habe ich beileibe nicht vor. Wir sind zeitlich auf Kurs und auf dem Rückweg in die Stadt. Durchs Fußballstadion, durch die Altstadt mit dem Anblick der Sehenswürdigkeiten, für welche Horden von Touristen aus aller Welt anreisen. Vom Schwanenplatz an sind wir auf der Begegnungsstrecke vor dem Wendepunkt. Da kommen sie uns entgegen, der etwas schnellere Türst mit seinem Gefolge. Die Fahrbahn ist in der Mitte schön getrennt und die typische Aufforderung „Drei Schritt uswäg, drei Schritt uswäg“ ist nicht notwendig. Es muss keiner einer solchen Aufforderung nachkommen und steht damit auch nicht in der Gefahr, in die Lüfte entrückt zu werden. Ein bisschen fliegen wäre zwar eine nette Erholungspause.
Die mit den blauen Startnummern lassen wir in Richtung Verkehrshaus ziehen und lassen uns von den ritterlich gekleideten Kontaktsportlern auf die zweite Runde leiten. Nun zeigt sich, wer von uns am ehesten welche Rolle einnimmt. Dass Jorien als Frau unserer Pacemaker-Gruppe der Part der Sträggele zufällt, ist keine Überraschung und wer von den Herren Türst ist, kristallisiert sich nun auch heraus. Es ist eindeutig Sacha – und ich bin sein Schatten, wobei er – wie Lucky Luke – eindeutig schneller ist als der.
Trotz der großartigen Unterstützung von Zuschauern, Musikern, Musikanten und Helfern wird bei fast allen in unserer Gruppe deutlich, dass die Anwesenheit in dieser kein Zuckerschlecken ist. Je länger wir unterwegs sind, wird die Erlösung herbeigesehnt. Die Tafeln am Streckenrand zeigen, dass diese naht und die Horw eben erst in den Sturm entlassenen 10km-Läufer bewirken einen Sog, in welchem wir versuchen mitzufliegen.
Wie die Bauern in alten Zeiten und stürmischen Nächten die Scheunentore offenhalten mussten, damit der Türst ungehindert hindurchjagen kann, ist der hintere Eingang im KKL geöffnet, damit wir durch die edlen Räumlichkeit ziehen können und nicht Unglück und Krankheit über das Haus hereinbrechen werden.
Unser Vuotisheer ist nicht mehr so dicht beisammen. Sacha zieht mit den Schnellen davon, als sein Schatten bin ich mit einigem Abstand auf der virtuellen Zeitlinie, während Jorien sich etwas zurückfallen lässt, um die weiterzuziehen, welche die Zielzeit zwar nicht ganz erreichen werden, aber nah dran sind.
Im Strom der in Horw Gestarteten biege ich ins Verkehrshaus ein. Das Erscheinen der Läufermeute bewirkt bei den dichtgedrängt am Rand Stehenden nicht Furcht und Schrecken, sondern Freude, welche sie lautstark zum Ausdruck bringen.
Dann ist der Zeitpunkt gekommen, die Zwischenwelt zwischen Training und Finish, in welcher ich zweimal mit einem Gefolge um die Horwer Halbinsel gezogen bin, zu verlassen, begrüßt vom OK-Präsidenten selbst. Er übernimmt für die gejagten Seelen das Amt des Petrus und heißt uns im Reich der Erlösung willkommen.
Die glücklichen Gesichter der Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu sehen, in welchen zu diesem Zeitpunkt kein Hauch von Müdigkeit und Anstrengung zu sehen ist, bestätigt mich in meinem feststehenden Entschluss, im kommenden Jahr wieder die Fahne an den Rücken zu schnallen und mich mit neuen Kämpfern und Stammgästen in diese Zwischenwelt zu begeben, welche hier eine besondere Magie besitzt.
Mit neuem T-Shirt in meiner Lieblingsfarbe, einer tollen Medaille und einer besonderen Aufmerksamkeit, den süßen Schutzengeln, ausgerüstet, gehe ich in Richtung Würzenbachgraben. Dort soll früher der Türst auch gewütet haben, auf mich wartet dort aber ein Stück Läuferhimmel. Ein Duschtruck mit herrlich heißen Duschen.
Auch wenn ich nicht schon seit Jahren als Pacemaker Teil des Swiss City Marathon wäre und einen objektiven Blick auf diese Veranstaltung werfen könnte, wäre ich überzeugt, dass ich kein Haar in der Suppe finden und diesen Lauf uneingeschränkt empfehlen würde. Oder wie es auf der im Ziel abgegebenen Trinkflasche des Verpflegungssponsors heißt: No bullshit inside!
Zu den Sagen und Gestalten, mit denen ich in diesem Bericht jongliert habe, bin ich durch Monika Mansours Buch „Luzerner Totentanz“ aufmerksam geworden, welches mich, gleich wie ihre anderen in der Innerschweiz angesiedelten Kriminalromane, in den Bann gezogen hat.
Zum besseren Verständnis ein paar Informationen zum Türst
und seinem Vuotisheer:
Vor langer Zeit, als die Menschen noch an Götter glaubten, wurden sie von wilden Gesellen in Angst und Schrecken versetzt. Man glaubte, dass ein Mensch, der stirbt, mit dem letzten Atemzug seine Seele in den Wind haucht. Mit den Seelen der Verstorbenen hauste Götterfürst Wodan, im Volksmund auch "Wüetis" oder "Türst" genannt, in einem Berg.
An manchen Tagen und Nächten verließ er diesen Ort auf einem weissen Pferd mit acht Beinen, begleitet von den Seelen der Verstorbenen als Gestalten ohne Kopf, die Beine auf den Schultern tragend. Sie ritten auf zweibeinigen Pferden oder waren auf Räder gebunden, die von selbst rollten.
Zum Gefolge gehört auch die Sträggele, ein Edelfräulein, das wegen Ungehorsams zur Hexe wurde. Wenn nachts der Wind tobte und an den Fensterläden rüttelte, wussten die Menschen, der Türst mit seinem Gefolge, dem Vuotisheer, ist unterwegs.
Zu sehen war der Türst mit seinem Gefolge nie, aber das fürchterliche Heulen und Rufen seines wilden Heeres drang durch Mark und Bein: „Drei Schritt uswäg, drei Schritt uswäg!" Gnade Gott demjenigen, der diesem Befehl des Türsten nicht Folge leistete.