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Laufberichte

Fans und Familie

 

Unterhalb ist eine Menschenmasse in Bewegung, doch den Personen auf dem Balkon wird keine Beachtung geschenkt. Verständlich, diese winken nicht hinunter und tragen keine Galauniformen mit Orden. Sie sind sportlich gekleidet und Auszeichnungen lassen sie sich jeweils verdientermaßen um den schweißnassen Hals hängen und lassen ihnen dann zuhause einen Ehrenplatz zukommen. Zuweilen kann das auch eine Schublade sein, besonders bei denen, welche sich diese Orden gleich reihenweise erarbeiten. Dazu gehören alle auf diesem Balkon. Sie sind Teil einer Familie, in die man nicht geboren werden und nicht einheiraten kann. Nur als Jubilar findet man Aufnahme.

Mit der zwölften Teilnahme in diesem Jahr, gehöre ich seit der vergangenen Austragung zum Kreis dieser Familie, bin der Einladung der Veranstalter gefolgt und darf mit den anderen Familienmitgliedern darauf anstoßen.

Dass ich seit meiner ersten Teilnahme in Luzern zu den Fans gehöre, kann man in all meinen Berichten lesen. Nach dem zweiten Mal fühlte ich mich mit der Veranstaltung bereits so verbunden, dass mir klar war, dass ich zukünftig als Berichterstatter voreingenommen sein würde und habe als Pacemaker angeheuert. Von der Redaktion kam trotzdem immer wieder die Bitte nach Laufberichten, in welchen ich jeweils meine totale Subjektivität deklarierte. 

 



Das Zusammentreffen mit anderen Wiederholungstätern will ich nutzen, um herauszufinden, was für sie der Grund ist, dem Swiss City Marathon Lucerne die Treue zu halten. Nun, was soll ich sagen? Ich habe nichts Neues herausgefunden. Den einzigen Grund, den ich nicht auch angeben kann, ist der, dass man als Einheimischer einfach nicht anders kann.

Die Menschenmassen gehen unterdessen im Palast – dem 5 Sterne-Hotel Schweizerhof – ein und aus, holen ihre Startunterlagen, begutachten das Angebot der kleinen Marathonmesse und stärken sich bei Pa(s)tata.

Nach dem schönen, sommerlichen Herbstsamstag gestern kann ich mich beim Aufstehen über einen weiteren solchen Tag freuen, denn auch heute ist Sonne satt vorausgesagt. Ich kann kaum warten, bis ich wieder auf dem Schiff bin. Ohne die morgendliche Überfahrt vom Kunst- und Kongresshaus neben dem Bahnhof hinüber zum Lido beim Verkehrshaus würde mir am letzten Sonntag im Oktober etwas fehlen. Wenn ich dereinst zu gebrechlich für eine Teilnahme als Läufer bin, werde ich mich sicher als Zaungast unter die Läuferschar und ihre Begleitungen mischen und mit ihnen diesen Auftakt auf dem See zu einem besonderen Tag genießen.

Müsste ich mich nicht zu einem gewissen Zeitpunkt am Treffpunkt der Pacemaker einfinden, wäre die Versuchung groß, gleich nochmals zurück- und wieder herzufahren.

 

 

Eine halbe Stunde vor dem Start beginnen die Flaggen am Rücken von Doron und mir Läuferinnen und Läufer aus dem hinteren Feld der Läuferschar anzuziehen. Um 8.30 Uhr startet der Block der Performance-Athleten. Wer um einen Podestplatz mitmischen will, muss in dieser Welle starten und dazu eine Qualifikationszeit vorweisen können.

Innerhalb von zehn Minuten wird das gesamte Marathonfeld in Abständen von zwei Minuten auf die Strecke geschickt. Platz gibt es mit diesem Startprozedere in Hülle und Fülle, Ellbogenkämpfe gibt es nicht nur bei uns hinten keine, auch die Schnellen können sich ohne solche unnötigen Energieverschwendungen auf ihr angestrebtes Tempo einstellen, was gar nicht so einfach ist, denn kaum erst richtig losgelaufen, gibts schon von der ersten Musikgruppe Doping auf die Ohren. Für diesen Teil der Versorgung wird den ganzen Tag über gesorgt sein, sind insgesamt doch nicht weniger als einundzwanzig Formationen im Einsatz.

Schwanenplatz, Seebrücke mit Blick auf die weltbekannte Kapellbrücke, über die Planken vor dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern, jeder Schritt ist mir vertraut und die ersten Kilometer fliegen nur so dahin – es gibt ja auch solche unter uns mit Langsamflugeigenschaften. Ein Blick in die Historie der Luftfahrt zeigt, dass eine der Ikonen die Ju-52 ist, welche im Besonderen über diese Fähigkeit verfügt, was aber nicht bedeutet, dass jeder Langsame gleich in den Status einer Ikone erhoben wird…

 

 

Mit unserem Pulk laufen wir die erste Steigung hoch, lassen es dann entspannt rollen und weisen darauf hin, dass bei der ersten Verpflegungsstelle zwischen dem vierten und fünften Kilometerschild bereits Flüssigkeit zugeführt werden soll. Bei den zu erwartenden Temperaturen gegen Mittag erst recht.

Die Hauptaufgabe, in einem gleichmäßigen Tempo zu laufen, ist bis hierhin erfüllt, nun gilt es, die drei Steigungen und Gefällstrecken auf den folgenden drei Kilometern so zu meistern, dass wir die Balance halten und nach Kastanienbaum, wenn es auf ebener Straße dem See entlang geht, immer noch schön im Soll laufen. In diesen edlen, ruhigen, von weitläufigen Wiesen umgebenen Wohngebieten gibt es wie jedes Jahr die privaten Hotspots. Anwohner machen für den Swiss City Marathon Lucerne und für sich Party.

Mit dem Versprechen, dass es das bis zur nächsten Runde mit Steigungen war, nehme ich den Mund zu voll. Ich habe die Rechnung ohne die neue Schlaufe gemacht, auf welche in Horw abgebogen wird. Weiter vorne sehe ich, dass es über eine Brücke geht, welche sich über die Bahngleise wölbt. Für Ablenkung von diesem Fakt sorgen die Schnelleren, die uns auf der Begegnungsstrecke entgegenkommen, darunter Marathon-Jonglier-Rekordhalter Daniel Raum als Pacemaker.

 

 

Die scharfe Linkskurve am anderen Brückenkopf kratzt mich nicht und ich meistere sie ohne Probleme. Der enge Radius und der an dieser Stelle nicht so breite Weg sind auch für den nachmaligen Sieger kein Thema, denn er stellt einen neuen Streckenrekord auf, trotz diesen Erschwernissen und dem Rhythmus brechenden Wendepunkt auf dem Fußgänger- und Radweg in Richtung Hergiswil.

Die drei Kilometer dieser Schleife mit neuen Aussichten über den See werden abgelöst durch Altbekanntes. Hinein nach Horw, wo viele Zaungäste bereits in den Straßencafés Platz genommen haben, und weiter durch die Schrebergartenanlage in Richtung Allmend. Wir sind immer noch eine schöne Truppe zusammen und visieren das nächste Highlight an, die Swisspor Arena, Heimstätte des FC Luzern. Wo gibt es das sonst, dass ein Marathon durch ein Fußballstadion führt?

Gleich nach dem Verlassen des Stadions greife ich bei der Getränkestelle an einem bestimmten Stand zu und gönne mir zwei Becher der Kultcola aus meiner Kindheit. Es dauert nicht lange und es ist mit der Ruhe hinter uns vorbei. Während wir uns dem neunzehnten Kilometerschild zubewegen, überholt uns die Führende des Marathons. Der Reigen ist eröffnet und lässt uns am Geschehen an der Spitze teilnehmen. Auch sonst wird es nicht eintönig, es sind immer mehr Leute am Zuschauen und Anfeuern und die Begegnungsstrecke zum KKL gibt einen Eindruck, wie sich der Strom der Läuferinnen und Läufer durch die gestarteten Halbmarathonis massiv verdichtet hat.

Dann folgt der nächste Höhepunkt, wir laufen auf dem roten Teppich, gewissermaßen auf der Showbühne, durch das KKL. Musik, Scheinwerferlicht, Cheerleaders und Fans – großes Kino.

 

 

Nun sind die Altstadt und die Sehenswürdigkeiten Luzerns im Blick. An der Jesuitenkirche vorbei geht es über die Reussbrücke in die Altstadt hinein und an Unterstützung links und rechts mangelt es nicht. Die Steigerung kommt beim Verlassen der Altstadt und dem Einbiegen auf den Schwanenplatz. Dicht gedrängt stehen Fans und Familienmitglieder hinter den Banden und proportional dazu ist auf der Gegenseite auch die Menge der Läufer auf dem zweiten Kilometer ihres Halbmarathons.

Bei der Hofkirche mit ihren beiden quadratischen, mit spitzen Dächern gedeckten Türmen werden wir in die Gegenrichtung und auf die zweite Runde geschickt. Durch die Zusatzschleife in Horw entfällt der Weg zurück zum alten Wendepunkt. Zu oft wurde dieses Stück in den Rückmeldungen kritisiert. Zugegeben, es war mental etwas fordernd, das Ziel praktisch vor Augen zu haben und dann auf die zweite Runde zu gehen, entschädigt haben mich dafür jeweils die Eindrücke auf der Begegnungsstrecke.  

Die Schwierigkeit ist es nun, uns nicht vom Tempo der vielen erst gerade Gestarteten anstecken und mitziehen zu lassen. Kurz vor der Wende konnte ich nämlich Robin zuwinken, unserem Präsidenten des 100 Marathon Club Schweiz und heute als Pacemaker auf der halben Strecke im Einsatz. Er ist dabei fast zwei Minuten pro Kilometer schneller unterwegs als wir, eine Ansteckung mit dem Geschwindigkeitsvirus wäre für uns fatal. Doron mahnt zur Zurückhaltung, wofür ich dankbar bin. Sein Satelliten-Zeiteisen entstammt der gleichen Manufaktur wie meines, die Genauigkeit erstreckt sich bei ihm glücklicherweise über die Distanzangabe hinaus. Entweder besorge ich mir ein neues, genaues Modell oder ich widme mich in Zukunft vermehrt dem Rechnen beim Laufen.

 

 

In früheren Berichten aus der Leuchtenstadt habe ich immer wieder erwähnt, dass auf der zweiten Runde trotz des ausgedünnten Läuferfeldes nie Gefühle der Einsamkeit aufkamen – bis ab Horw der CityRun 10KM sowieso wieder für Betrieb sorgte.  Das neue Startprozedere mit nach Verfügbarkeit wählbaren, sich auf fast zwei Stunden erstreckenden Startslots beim Halbmarathon gibt den Teilnehmenden mehr Platz auf der Strecke und sorgt dafür, dass wir auf der zweiten Runde so viel Action um uns herum haben, wie früher auf der ersten. Dieses Konzept sagt mit zu.

Irgendwo zwischen den Hügeln muss ich abwägen, wie das mit dem Input und dem Output im Flüssigkeitshaushalt ist, und entscheide mich, die nächste blaue Box anzusteuern. Ein Boxenstopp im Stil der Formel 1 ist allein deshalb nicht möglich, weil ich mit der Pacemaker-Fahne am Rücken nicht in die Kiste passe. Beim Ansteuern gilt es also bereits die Riemen zu lösen, mich dann flugs der Fahne zu entledigen, dann die Kamera darauflegen und ab ins Häuschen. Danach die umgekehrte Reihenfolge und das Pedal zum Blech runtertreten ist angesagt, um zu Doron und unserem Trüppchen aufzuschließen.

Die Distanz beginnt Tribut zu fordern und ich höre das Wort «Wand».  Doron möchte ebenfalls zum Boxenstopp ausscheren hat aber das Pech, das bei den nächsten beiden Kabinen jeweils jemand ein paar Meter vor ihm die gleiche Idee hat. Irgendwann klappt es und der Pacemaker Job lastet für einen Moment auf meinen Schultern. Er ist zum richtigen Zeitpunkt zurück und ich lasse mich ein paar Schritte zu Rebekka, einer Ersttäterin zurückfallen. Ihre Freundin Lea ist in Sichtdistanz vor uns und Rebekka ist gerade heftig am Kämpfen. Es geht gegen Horb zu und ich kann ihr verraten, dass es mir gerade genau gleich geht. Mein Fahrgestell verrichtet sein Werk untadelig, hingegen alles, was rückseitig oberhalb des Hüftgelenks liegt, sagt mir, dass es jetzt an der Zeit wäre, eine Gehpause einzulegen.

Ist es das Pflichtbewusstsein oder der Stolz, meine Aufgabe um jeden Preis erfüllen zu wollen? Doron würde das Ding locker allein ins Ziel bringen, dafür bräuchte er mich nicht, doch ich würde das stille Versprechen ihm gegenüber brechen. Egal, Hauptsache, ich kann das canine Rüsselnasenvieh tief in mir zum Schweigen bringen. Hilfreich ist dabei die Stimmung in Horw und darüber hinaus. Es gibt kaum einen Ort, an welchem keine Zurufe zu hören wären.

Die Swisspor Arena erlebt wieder einen besonderen Moment im Jahr: Der Tag, an dem Hundertschaften von Sportlern nach teils mehrstündiger Anstrengung ihre Leidensfähigkeit zeigen. Ich sehe niemanden, der sich theatralisch und wehleidig auf dem Boden wälzt. Es gibt keinen Schiedsrichter, der sich beeinflussen lassen könnte, anstelle eines Videoassistenten gibt es die unerbittliche Zeitmessung und nach Überwindung aller dieser Hürden in Form der wenige Zentimeter hohen Messmatten gibt es keine Verlierer und kein Unentschieden. Es gibt nur Gewinner.

Spätestens beim zweiten Durchgang durch das KKL mit noch mehr Stimmung ist der Drop gelutscht. Die Moderatorin hat genügend Intuition, Doron das Mikrofon vor den Mund zu halten; er ist einiges lockerer unterwegs und kann deshalb die Begeisterung, welche ich genau gleich empfinde, besser ans Publikum rüberbringen.

Obwohl mein Oberkörper völlig verkrampft ist und ich den Kopf kaum auf die linke Seite drehen kann, entgeht mir der positive Rummel beidseits der Strecke nicht. Die Polizei schätzt die gesamte Zuschauerzahl auf 60'000, gefühlt sind es weitaus mehr. So richtig los geht das Finale am Schwanenplatz. Flankiert von den Zuschauern passieren wir die Flagge mit der Vierzig drauf, das Ziel ist in Griffweite und Rebekka seit einiger Zeit wieder vor uns.

 

 

Mit dem Ziel in Sichtweite sind Doron und ich uns sicher, dass wir unsere Aufgabe zeitlich gut erfüllen werden. So gut, dass ich beim Zieleinlauf im Verkehrshaus auf dem goldenen Teppich für die Marathonis mir den kurzen Augenblick genehmigen kann, meinen nostalgischen Gefühlen nachzugeben und eine andere Ikone der Luftfahrt abzulichten. Diesmal eine am anderen Ende der Geschwindigkeitsskala, nämlich die Convair Coronado 990 von Swissair, das schnellste Unterschall-Passagierflugzeug der Geschichte (als Spritpreise noch kein Thema waren) und seit 1975 Jahren exklusives Exponat in Luzern.

Nach der Ziellinie wird uns der edle Orden überreicht, danach die süßen «Schutzengeli», ein Goodie-Bag. Die Zielverpflegung lasse ich aus, einzig den Gutschein für ein Hopfen-Isogetränk außerhalb des Läuferbereichs löse ich ein. Das dezente, edle Finishershirt habe ich gestern schon bei der Startnummernausgabe bezogen. Dass darauf nicht ersichtlich ist, ob jemand den ganzen oder den halben Marathon gelaufen ist, stört mich nicht. Ich bin da realistisch: Einen so fantastischen Marathon gäbe es wohl nicht, wären da nicht der Halbmarathon und der CityRun. In diesem Zusammenhang vertrete ich auch die Meinung, dass der Marathon in Luzern auf zwei Runden perfekt ist und nicht auf einer langen Runde ausgetragen werden braucht. Er bietet auch so alles, was es braucht – und mehr dazu.

Dass ich mit dieser Ansicht nicht der Einzige bin, beweisen die zahlreichen Jubiläums-Läuferinnen und Läufer. Erst wurden sie Fans, dann Teil der Familie. Agnes ist die einzige Frau, welche bisher an allen Austragungen teilgenommen hat. Als ich das Leuchten in ihren Augen sah, als ich sie nach dem Grund für diese Treue gefragt hatte, wäre ich auch ohne verbale Antwort im Bild gewesen. Es stimmt im Gesamten, es gibt Alleinstellungsmerkmale und darüber hinaus ist die nicht quantifizierbare Stimmung über der Stadt und der Halbinsel einmalig.
 

 

Informationen: SwissCityMarathon Lucerne
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