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Laufberichte

 

Es ist mein Morgenritual am letzten Sonntag im Oktober schlechthin, mich vom Strom der Leute vom Bahnhof mitziehen zu lassen, das Schiff zu besteigen und auf dem Außendeck die Seeüberfahrt zum Verkehrshaus auf mich wirken zu lassen.

Vergangenes Jahr war da eine Lücke und dieses Mal dürfen nur die Läuferinnen und Läufer den kostenlosen Shuttle in Anspruch nehmen, Angehörige (und andere Zuschauer) müssen außen vor bleiben. Die meisten davon Betroffenen werden aber darüberstehen. Wer seine Liebsten zu einem Marathon begleitet, gönnt ihnen dieses Erlebnis als solches und ist sicher bereit, in der aktuellen Lage ein kleines Opfer zu bringen, Hauptsache es darf wieder gelaufen werden.

Einfach hat es sich das Organisationsteam nicht gemacht, sonst gäbe es auch dieses Jahr keinen Swiss City Marathon. Mit der gewohnten wissenschaftlichen Akribie wurden Szenarien geplant und simuliert. Dass damals die neue, mit großem Aufwand berechnete Startblockeinteilung in der Umsetzung so gut geklappt hat, stimmt mich vor dem Hintergrund der in allen Bereichen immer perfekt organisierten Austragungen im Hinblick auf die heutigen, unter anderen Vorzeichen stattfindenden Lauf, zuversichtlich.

 

 

Obwohl der Weg zum Check In gut ausgeschildert ist, lassen es sich die jungen Helfer nicht nehmen, mir freundlich den Weg dorthin zu weisen. Die Zertifikatskontrolle geht schneller als ich Ausweis und Mobiltelefon zücken kann und ich kann andere an mir vorbeilassen, bis ich so weit bin und mir das Armand ums Handgelenk binden lassen kann. Ohne Gedränge geht es zu der langen Reihe von Tischen vor einem riesigen Zelt, in welchem sich 120 Helfer und Helferinnen um die Aufbewahrung der Kleidersäcke kümmern. Dass ich auf eine Garderobe verzichten muss, nehme ich gerne in Kauf dafür, dass der Swiss City Marathon im zweiten Jahr der Pandemie überhaupt stattfindet.

Als ich mich angemeldet habe, wagte ich erst zu hoffen, dass ich Ende Oktober die Marathondistanz überhaupt wieder schaffe. Die Wahl eines frühen Start-Slots war deshalb zwingend, damit ich es mit größter Wahrscheinlichkeit innerhalb der vorgegebenen Zeit ins Ziel schaffe. Ob laufend, gehend oder wackelnd, würde keine Rolle spielen. Aus diesem Grund bin ich in der ersten Gruppe für das Boarding und mache mich, gespannt wie das Konzept in der praktischen Umsetzung aussehen wird, in Richtung Start auf den Weg. Ich habe einen Strom von drängelnden Läufern erwartet und werde angenehm überrascht. Ruhig, fast andächtig begeben wir uns in sehr lockerer Formation dorthin und reihen uns in eine der vier Startgassen ein. Auch in diesen ist kein Gedränge.

Ehrenstarterin ist Fabienne Schlump, erfolgreiche Steeple-Läuferin, welche sich in diesem Jahr gleich bei ihrem ersten Start im Marathon mit einem neuen Schweizerrekord in Szene gesetzt, bei Olympia auf den 12. Rang und in Wien nach einer Aufholjagd noch auf Rang 4 lief, weniger als eine Minute von Rang 2 und siebzehn Sekunden von ihrer Bestzeit entfernt.

Das Ampelsystem lässt alle zwei Sekunden jemanden auf die Strecke und dies ist der verwirrende Unterschied zu sonst. Gefühlt fast allein auf der breiten Straße und in der unerfüllten Erwartung, dass bald schon musikalisch Dampf gemacht wird. Dass es fast eine Stunde früher als bei meinen sonstigen Starts ist, merke ich auch daran, dass noch wenig Zuschauer uns ihre Aufwartung machen. Die sehr unterschiedlichen Tempi der Laufenden sind ebenfalls ungewohnt. Andauernd werde ich von Laufblitzen überholt, schließe meinerseits aber schon bald zu vor mir Gestarteten auf.

 

 

Es ist nicht einfach, unter diesen Bedingungen die eigene Pace zu finden, was für mich heute aber nicht entscheidend ist. Noch spüre ich, dass ich am vergangenen Sonntag viel schneller über die Marathondistanz unterwegs war als geplant und für möglich gehalten und danach noch fast 15 Kilometer daran gehängt habe. Ich habe Zeit, zu genießen und meinen Gedanken nachzuhängen.

Im Laufe der Vorbereitungen bin ich immer wieder über das Kürzel SCM für den Swiss City Marathon gestolpert. «Na, und?», mag sich der geneigte Leser denken. Drei-Buchstaben-Codes lösen bei mir etwas aus und falls ich die Frage nicht gleich beantworten kann, muss ich mich auf die Suche nach des Rätsels Auflösung machen. Welcher Flughafen versteckt sich hinter den drei Buchstaben? Sicher keiner von all denen in über siebzig Ländern, denen ich meine Aufwartung machen durfte, sonst könnte ich mich daran erinnern. Es ist einer an einem vergleichsweise unwirtlichen Ort. Während ich mich an diesem spätherbstlichen Tag erfreue, der mit zunehmend wärmender Sonne eine grandiose Verabschiedung des Oktobers vornimmt, bewegen sich die Yupiaq etwas wärmer eingepackt zum Flughafen von Scammon Bay, um den tatsächlichen und erst recht gefühlten Minusgraden im Südwesten Alaskas zu trotzen.

Unter dem bunten Blätterdach des Alpenquais steuern wir auf die Kanti Luzern zu, mit vollem Namen Kantonsschule – einem für nicht eingeweihte Person seltsam anmutenden Begriff für Gymnasium. Ebenso seltsam ist das Fehlen der Musikformationen an der Strecke. Da vorne, an der 90 Grad-Einbiegung in die Tribschenstrasse und vor dem ersten Anstieg war doch sonst eine Guggenmusik. Oder täuscht mich die Erinnerung?

Nach der kurzen Steigung kann man es gut rollen lassen bis zur ersten Verpflegungsstation. Im Angebot ist Iso, geschmacklich angenehm an leichten Schwarztee erinnernd, und Wasser. Vorbereitete, offen gereichte Dinge wie Bananen- oder Riegelstücke sind aus pandemisch-hygienischen Gründen in diesem Jahr nicht im Angebot. Ich habe vorgesorgt und den mit den Startunterlagen zugeschickten Riegel, ein paar Gels und eine Flasche Cola in den kleinen Rucksack gepackt.

Von allen Steigungen wäre die beim fünften Kilometer bei einem Radrennen vermutlich die der höchsten Kategorie. Nicht im Vergleich mit anderen Läufen, aber auf dieser Runde. Passend ist der Straßenname, bedeutet doch das Dialektwort «Stutz» unter anderem «steiler Hang». Viel Stutz, diesmal in der Bedeutung von Geld, braucht man, wenn man sich einen Wohnort entlang der nächsten paar Kilometer auswählen möchte. Dafür wird als Gegenwert ein schöner Ausblick auf den Vierwaldstättersee und auf die Rigi geboten, der für uns im Startpaket inbegriffen ist.

Bei St. Niklaus gibt es Landschaftslauf-Gefühle. Dazu gehört dann auch die dritte nennenswerte Steigung hoch nach Kastanienbaum, wo eingangs Dorfes bereits wieder Getränke gereicht werden. Nach dieser Erfrischung kann sich die Muskulatur auf der abfallenden Straße beim Rollen ebenfalls erholen.

 

 

Eine Überraschung dringt schon zum zweiten Mal ans Ohr. Waren es beim Stutz Alphornbläser, hat beim Seehotel eine kleine Kapelle sich dafür entschieden, den Übungsraum mit dem Streckenrand des Marathons zu tauschen. Von hier aus geht es auf der Seestraße – nomen est omen – wenig überraschend hinunter an den See. Dann und wann liegt ein Haus zwischen der Straße und dem Ufer, was diesem zweieinhalb Kilometer messenden Abschnitt das besondere Flair nicht zu nehmen vermag, zumal da und dort Gruppen von Anwohnern, wie gewohnt, lautstark Unterstützung geben.

Den See als Begleiter verlassen wir nach dem Seehotel Sternen, in welchem ich schon manche angenehme Nacht mit leckerem Frühstück vor dem Marathon verbrachte. Das zu Horw gehörende Quartier Winkel nennt nicht nur einige wichtige historische Gebäude wie die Dreikönigskapelle und das Dormenhaus sein Eigen, sondern auch das Naturschutzgebiet Steinibach, ein Flachmoor und Amphibienlaichgebiet von nationaler Bedeutung. Stichwort Moor: Wer sich wundert, warum die Einwohner von Horw ihren Ort Horb und sich selbst Horber nennen, findet die Erklärung im untergegangenen Substantiv « hor(b), horw, hurwe und ähnlich», was so viel wie Sumpf bedeutete.

Horw muss in diesem Jahr statt einer tragenden eine traurige Rolle übernehmen, nämlich nicht die eines gefeierten Nebendarstellers. Der sonstige Hotspot muss sich mit einer Statistenrolle und dem Status eines Streckenabschnitts zufriedengeben. So sehr der Gemeindepräsident bedauert, dass es in seinem Ort heute kein Festmeile, keinen Start zum sonst üblichen 10 Kilometer-Lauf und keinen Maratholino gibt, trägt er diese Entscheidungen als nötig und richtig mit.

Die Stimmung in Horw werde ich auf der zweiten Runde sicher im wahrsten Sinn des Wortes schmerzlich vermissen. In all den anderen Jahren, wenn wir als Pacemaker mit unserer Gruppe jeweils mit viel Aufmunterung und Lob empfangen wurden und uns auf dem letzten Viertel von den Teilnehmenden der Kurzstrecke mitziehen lassen konnten, waren die verbleibenden Kilometer im Pulk des 10-Kilometer-Feldes immer viel lockerer zu laufen als die Angaben auf den Kilometerschildern das suggeriert haben.

Aber auch jetzt sind die Straßencafés gut frequentiert, nicht nur wegen eines aromatischen Morgenkaffees oder eines Frühschoppens. Die Aussicht auf die unmittelbar daran vorbeiführende Strecke ist vermutlich wichtiger als die Getränkekarte.

Wir müssen diesbezüglich auch nicht darben und können kurz darauf den nächsten Verpflegungsposten ansteuern. Nicht mehr gewohnt bin ich die schnell von hinten anrauschenden Läufer, denen ich nicht im Weg stehen will, und ich vermisse die Damen mit ihrer Steelband, die sonst mit ihren beschwingten Melodien gutes Futter für den weiteren Weg zur Verfügung stellen.

Es geht in Richtung Allmend, ein Drittel der Marathondistanz ist geschafft und bald schon ist die Swisspor Arena zu sehen, Heimstadion des FC Luzern, durch welche die Strecke führt. Eingesandte Videobotschaften werden auf dem großen Bildschirm für die das Stadion querenden Adressaten eingespielt und auf der Tribüne sind Zuschauer, deren Kinder von den Maskottchen des Fußball Clubs bespaßt werden.

Kaum ist man an der gegenüberliegenden Ecke aus dem Stadion raus, wartet die nächste Getränkestelle. Die Besonderheit ist hier, dass auch Cola im Angebot ist. Nicht irgendeine, sondern die Cola meiner Kindheit: VIVI COLA. Mein nur zehn Jahre älterer Onkel verdankt dieser wiederbelebten Kultmarke seinen Übernamen, der ihm heute noch anhaftet. Weil er als Kind den Markennamen falsch aussprach, nannte man ihn fortan «Fifi».

Der Weg durch das folgende Wohngebiet kommt mir jeweils gar nicht so lang vor, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass schon bald wieder eine Verpflegungsstelle kommt. Sie steht gleich nach dem Migrationsamt, wo am heutigen Sonntag wohl niemand dieses seltsamen vor ihren Büros durchziehenden Migrationsstroms gewahr wird.

Drei, vier weitere Schlenker und das Kilometerschild besagt, dass es nur noch vier Kilometer bis zur Hälfte sind, vier Kilometer, auf welchen viel Abwechslung wartet. Es beginnt mit der Begegnungsstrecke zum KKL: Sehe ich ein bekanntes Gesicht mir entgegenkommen? Dann die Durquerung des Kultur- und Kongresszentrums, dem Kunstwerk von Stararchitekt Jean Nouvel, im Spotlight auf dem roten Teppich, angefeuert von Cheerleaders.

 

 

Dann geht es gleich auf der Südseite der Reuss weiter mit der Kulisse der Altstadt mit dem Wahrzeichen Kapellbrücke und Wasserturm. Nach einer scharfen Kurve wird auf der Reussbrücke ans nördliche Ufer gewechselt und in die Altstadt eingetaucht. Eine scharfe Kurve weiter beginnt der kleine Anstieg zum Weinmarkt und dann über die Kornmarktgasse und die Kapellgasse wieder zum Schwanenplatz und auf die Begegnungstrecke hin zum Wendepunkt.

Während die Halbmarathonis weiter geradeaus laufen, werfe ich mich in die Spitzkehre, um dort, wo weiterhin im zwei Sekundentakt eine Person nach der anderen startet, meine zweite Runde zu beginnen. Die erste war etwas schneller als geplant und ich spüre, dass sich die Muskulatur vom harten Einsatz am vergangenen Sonntag noch nicht voll regeneriert hat. Egal, ich nehme es, wie es kommt. Läuferisch will ich heute nicht kämpfen, ich will diesen herrlichen Tag genießen, schlechte Gedanken verscheuchen und guten nachhangen. Laufen als Therapie.

«Du darfst den Problemen nicht davonrennen», höre ich den großen Mahner dazwischengrätschen und nehme ihn mit auf die zweite Runde, um ihm den Beweis zu geben, dass es nicht ein Weglaufen ist. So wie ich eben beim ursprünglichen Ausgangspunkt wieder von vorne begonnen habe, zwangsläufig wieder an diesen Punkt zurückgekommen bin. Es ist kaum Zufall, dass mir kürzlich folgender Satz vor die Augen kam: «Es ist nicht, wovor wir weglaufen, sondern auf was wir zulaufen.» Wenn ich nur weglaufe, werde ich immer wieder eingeholt. Wenn ich aber auf etwas zulaufe, entferne ich mich immer weiter von dem, was ich hinter mir lassen möchte. So, wie ich jetzt zwar physisch wieder beim Ausgangspunkt meiner heutigen Reise zu Fuß bin, habe ich mich in der Zwischenzeit eine beachtliche Strecke davon entfernt und bin mindestens so weit weg wie von dem Ort, auf welchen ich zulaufe.

 

 

Diesen Gedanken nehme ich mit und sauge all das Schöne, das ich fühle und erlebe, in mich auf. Die wärmende Sonne, der Blick auf den See und die Berge, das Farbenspiel des Herbstlaubs, die freundlichen Helferinnen und Helfer an den ihnen zugewiesenen Orten, einfach alles, was mir heute geschenkt wird.

Wie auch in anderen Jahren – mit noch mehr Zuschauern – vergeht die Zeit bis Kilometer 24 im Flug. Mental habe ich auf dieser Strecke kaum je Probleme. Das ist auch heute grundsätzlich so, wäre da nicht die eindeutige Erkenntnis, dass eine langsamere Pace auf der ersten Runde klüger gewesen wäre. Als Berichterstatter ziehe ich meinen Joker und tarne meine Gehpausen mit Fotostopps und vermeide alles, was mir ein Leiden bereiten könnte. Bis zum Zielschluss habe ich noch alle Zeit der Welt und mittlerweile sind alle Eindrücke noch farbiger und lebendiger geworden. Die höherstehende Sonne intensiviert die Farben der Umgebung und mittlerweile sind noch mehr Zuschauer an der Strecke.

Während die Alphörner am Stutz Pause machen, ist der Jodel-Chor am Singen und Juchzen. Vor dem Strandbad Winkelbadi sorgt die Perkussions-Combo immer noch für den richtigen Rhythmus und auch bei der Dreikönigskapelle werden die Blasinstrumente wieder zu den Lippen geführt. Auch ohne offizielles Rahmenprogramm lassen es sich die Horwer nicht nehmen, die Traditionen vergangener Austragungen weiterzuführen. Sogar eine große Gugge ist am Schränzen.

So geht es weiter auf bekanntem Pfad und ich fülle meinen Gefühls- und Gedächtnisspeicher wie die Feldmaus Frederik, um mich in den Wintermonaten davon bescheinen und wärmen zu lassen.

 

 

Hätte ich als Pacemaker starten können, würde ich die geforderte Zielzeit abliefern können. Dass die Pace zu ungleichmäßig war, steht auf einem anderen Blatt. Deshalb will ich es auf dem letzten Kilometer wissen. Das wird zwar niemanden interessieren, doch es hilft mir, nochmals in den Wettkampfmodus zu schalten. Ich will mindestens 5 Minuten vor der Pacemaker-Deadline von 4:44:59 ankommen, was mir auch gelingt.

Durch die Eindrücke von unterwegs für die Teilnahme bereits reich belohnt, gibt es obendrauf die hochwertige Medaille und eine liebevolle Gratulation in Form eines Päckchens «Schutzengeli» (eine Knusper-Truffes Spezialität). Auf dem Weg aus dem Zielbereich hinaus gibt es zudem Wasser, Äpfel, eine Trinkflache und einen praktischen Finisher Bag mit weiteren Goodies und Gutscheinen. Mit den Startunterlagen ist das Finishershirt zusammen mit weiteren Geschenken bereits im Vorfeld zugestellt worden.

Dass mir der Kleiderbeutel nicht nur zügig ausgehändigt, sondern mit persönlichen Worten übergeben wird, ist für mich nicht Zufall. Dahinter steht nicht nur eine perfekt durchdachte Planung – dahinter steht die Haltung, mit welcher der Swiss City Marathon organisiert wird und welche bis in jeden Winkel der Strecke ausstrahlt. Die Stadt und der Kanton können sich glücklich schätzen, diesen Werbeträger in ihrem Portfolio zu haben.

 

Informationen: SwissCityMarathon Lucerne
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