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Laufberichte

Silesia Marathon Katowice

03.05.12
Autor: Joe Kelbel

Aber die Schlesische Sprache ist ganz einfach: Man nimmt deutsche Wörter und hängt ein „ly“ dran. Das klappt so gut, dass Bratkartoffly und Beefsteeky und Schlucky-Schlucky mittlerweile fast  hochpolnisch sind. Mein ständiges „Normalsky!“ ist zwar ungewöhnlich, wird aber auch verstanden.  Nach dem Krieg war die schlesische Sprache verboten, doch etliche Wörter wandereten unauffällig ins Polnische, wie „Winda“ für Aufzug oder „Kricka“ für Krücke, die ich jetzt langsam brauche, denn es ist verdammt heiss geworden.

Zwei Häuser weiter, neben dem Landratsamt,  wohnte ab 1939 der Gauleiter. Der machte meinem Großvater ziemlichen Ärger, weil die Familie sonntags zur Kirche ging. Die Kirche  liegt nun hinter hohen Bäumen, sie ist frisch reoviert, ansonsten sind die Häuser nach 100 Jahren Kohlebrand alle rußgeschwärzt. Bis auf das Haus, wo jetzt die Deutsche Bank residiert.

Wir biegen nun ab nach Norden über die Aleja Korfantego (Korfanty Allee), wo ich ein günstiges Hotel gefunden hatte und  laufen  zurück zum Spodek, um die  400 Halbmarathonläufer mitzunehmen. Meine Mutter war mit meinem Großvater zum Fußball, Boxen und Catchen, alles in Kattowitz, nun ist sie sogar zum Marathon und steht vor dem Spodek, um mir eine Flasche Wasser zu reichen.

Es geht jetzt ewigweit nach Norden. Rechts der Ortsteil Welnowiec (Hohenlohehütte) gehörte noch zu Kattowitz, links ist schon Chorzow (Königshütte). Hier in Oberschlesien gehen die Ortschaften oft nahtlos ineinander über. In Königshütte stimmten 1922 74,5 % für den Verbleib bei Deutschland. Die Abtretung Oberschlesiens an Polen bewirkte, dass die Enklave Ostpreussen, die von oberschlesischer  Kohle abhängig war, diese mit Zloty bezahlen musste. Auch der Eisenbahntransfer über die drei Korridore musste in Zloty bezahlt werden. Doch Deutschland hatte keine Zloty, dafür war die Kaufkraft des  Nachbarn zu schwach. Richtig kalt wurde es dann in Deutschland, als Frankreich wenige Tage nach dem Zuschlag des oberschlesischen Kohlegebietes an Polen auch noch das Ruhrgebiet besetzte. In Kattowitz brach eine große Wirtschaftskrise aus. Erst die Russen nahmen ab 39 jährlich 6 Millionen Tonnen Kohle ab.

Das war aber nur ein Tropfen auf dem heissen Stein, der mir jetzt das Leben schwer macht. Mit flimmert es im Kopf vor Hitze, ich bin absolut fertig, muss gehen. Alle gehen jetzt.

In Michalkowice (Semianowitz-Laurahütte), ursprünglich ein kleiner Fischerort, laufen wir weiter in östlicher Richtung bis nach Siemianowice, früher Sitz der Vereinten Königs- und Laurahütte AG. Mir ist es ein Rätsel, warum Henry Kissinger seinen Geburtsort verschweigt und Fürth in seinen Lebenslauf geschrieben hat. Hier rechts von der Strasse war die Grenze zu „Kleinpolen“. Dort  trieb eine Volksgruppe Handel, die nicht sehr beliebt war. Warum ist man dann überhaupt zu denen über die Grenze gegangen?

„Burki massakraty“ höre ich immer wieder, heisst soviel wie Scheiß Steigung. In den Gesprächen auf der Strecke stelle ich fest, dass die Polen nicht gerne über die Vergangenheit reden. Sie schauen lieber nach vorne und haken das Alte ab: „Es ist, wie es ist“. Uns im Westen hat man beigebracht, aus der Vergangenheit zu lernen. Vielleicht sollten wir auch mal mehr nach vorne schauen.

Ansonsten sprechen mich sehr viele auf Deutsch an, wegen meines m4y-Shirts. Jeder hat irgendwie Verbindungen über das Elternhaus nach Deutschland, sehr viele sind stolz auf ihre doppelte Staatsbürgerschaft. Ich hätte auch nie gedacht,  unterwegs mit sovielen Schlesiern  quatschen zu können. Das  hat mir sehr, sehr viel gegeben.

Km 34, glaube ich, wieder irgendwo zwischen Bergwerk und Kohlekraftwerk, es ist brutal heiss. Es ist mein 185ter – aber  so was habe ich noch nie erlebt. Ich gehe nur noch, möchte am Liebsten abbrechen, mich hinlegen und alles vergessen, so wie es hier üblich ist.

Irgendwann versuche ich, zu laufen. Irgendwann geht es durch Chrozow III Richtung Süden. Irgendwann bei  37 kommen wir  in den Slaski Park( WPKW), ich habe mich über weite Strecken im Schritttempo geschleppt, bin total am Arsch. Die vielen Leute hier sind jetzt  ein positiver Schock für mich.  Es sind sehr viele junge Familien, alle gutaussehend, wohlhabend und nett anzuschauen.

Das Schlesien Stadion ist Ersatz-Austragungsort der Fußball-EM. Früher ging mein Großvater regelmäßig zu den Spielen des 1. FC Kattowitz , der war 1927 polnischer Meister. Das war aber nicht so einfach, denn die gegnerische Mannschaft (weiss nicht wer) hat vor dem Endspiel sämtliche Bälle zerstochen. Man hatte sich hier immer unfair gestritten. Das Endspiel wurde dann wiederholt. Der 1. FCK verschwand dann irgendwie von der Bildfläche. Heute  Abend spielt Ruch, der Verein aus Kattowitz um die Meisterschaft, wenn ich das richtig mitbekommen habe.

Vor dem Zoo stehen wirklich Massen, vor dem Eisstand, dem Waffelstand und in den Biergärten, überall Massen von Menschen. Bei uns in Deutschland ist die soziale Struktur in Zoos und öffentlichen Gärten nicht so entspannt, hier ist es irgendwie wie in alten Zeiten, sehr gepflegtes Publikum, sehr höflich, auch wenn man sich kaum für uns interessiert. So hält man uns gerne die Wege frei und keiner der zahlreichen Kinderwagen würde jemals unsere Laufstrecke kreuzen. Die Musik aus dem Vergnügungspark  und das Kreischen der Mädchen, die vom alten Zechenturm mit der Riesenrutsche ins Wasser platschen, übertönt das Murmeln der Menschen im Frühlingsgarten. Sehr angenehm, wenn ich nur nicht so leiden müsste.

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Ich könnte noch viel erzählen, weiss aber nicht, ob das zuhause verstanden wird. Ich will auch nicht, dass irgendwas aus meinen Schilderungen politisch interpretiert wird. Es ist die Wahrheit, denn es ist aus erster Hand. In den  Erzählungen höre ich viel von der Klopperei und es gab sehr viele Tote, unabhängig ob Krieg war, oder nicht. Aber es gab auch sehr viele schöne und lustige Geschichten von Völkern, die voneinander profitierten.

Hier in der Ecke Europas trafen drei Nationen aufeinander, drei unterschiedliche soziale Parteien und dank des Marathons kann ich noch davon erzählen. Ich beschliesse meine Marathonreise in die Vergangenheit. Wir können verdammt froh sein, dass wir uns jetzt nicht mehr kloppen. Wir sind alles Menschen, gerade die Marathonläufer. Die sind aber jetzt auch alle absolut abgekämpft hier im Ziel, die würden sich nie mehr kloppen.

Am Abend geht’s natürlich wieder in die Kneipe Feierabend, diesmal mit dem Professoren-Onkel, der dieses Powergel entwickelt hat, das nun zur Verfüllung der kilometertiefen Stollen benutzt wird. Welch schöne Tage hier in Oberschlesien!

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