Man muss - nicht nur sprichwörtlich - um die halbe Welt reisen, elf Stunden Zeitumstellung bewältigen, tropische Hitze und bisweilen auch monsunartigen Regen ertragen, Menschenmassen erdulden und dafür auch noch viel Geld zahlen – und das, nur um sich 42,2 km über den Asphalt zu quälen. Das klingt nach einem eeecht schlechten „Deal“. Bringt man dies jedoch in Verbindung mit den Zauberworten „Hawaii, Honolulu, Waikiki“, verleiht dies all den Erschwernissen auf einmal so etwas wie Glanz. Für so ein Traumziel nimmt man doch gerne (fast) alles auf sich.
In einer auf Optimierung und Bestzeitenjagd getrimmten Marathonwelt nimmt sich der Honolulu-Marathon wie ein Anachronismus aus. Es ist der „Aloha Spirit“, den hier jeder spüren soll und der den Geist dieses Laufs bestimmt. Und das bedeutet: Kein Zeitlimit, kein Teilnehmerlimit, keine Qualifikationszeiten. Jeder, der nur lang genug krabbeln kann, ist willkommen. Laufen ist kein Muss. Und so kommt es, dass nach den ersten sechs Stunden regelmäßig erst die Hälfte der Teilnehmer das Ziel erreicht hat. Und der letzte etwa nach 14 Stunden eintrudelt.
Mit regelmäßigen Teilnehmerzahlen jenseits der 30.000 gehört der Honolulu Marathon zu den ganz Großen im Marathonzirkus. Und zu den traditionsreichen dazu. Seit 1973 schon wird auf einem küstennahen Kurs durch Hawaiis Kapitale auf der Insel O’ahu gejoggt und nahe dem „Strand der Strände“ in Waikiki gefinisht. Für mich war Hawaii als Reiseziel eigentlich nie ein Muss, aber je mehr ich mich auf der Suche nach einem entspannten Marathon für einen Ex-Marathoni beschäftigt habe, desto mehr wurde mir klar: Da muss ich hin.
„Geschützte Bucht“ – nichts anderes bedeutet auf Hawaiianisch Honolulu. Und so ist es kein Zufall, dass ausgerechnet an dieser Stelle auf Hawaiis drittgrößter Insel O’ahu die Hauptstadt der Inselgruppe heranwuchs. Etwa 350.000 Menschen, in der Metropolregion gut eine Million Menschen leben hier. Und wären da nicht die berühmten vorgelagerten Strände, der markante Krater im Stadtbild und das grüne, vulkanisch geprägte Hinterland, würde man nur die eher beliebig-typische amerikanische Hochhaus-Skyline als stadtbildprägend wahrnehmen. Allerdings kommt hier dazu, dass allgegenwärtig üppiges tropisches Grün dem Häusermeer eine besondere, exotische Note verleiht.
Gedanklich untrennbar mit Honolulu verbunden ist Waikiki: der Stadtteil mit einem der berühmtesten Strände der Welt, der touristische Hotspot Hawaiis und pulsierende Nabel der Stadt. „Waīkīki“, wie es korrekt geschrieben wird, steht in der Sprache der Ureinwohner für „sprudelndes Frischwasser“ und erinnert an die Quellen und Flüsse, die die Feuchtgebiete speisten, die Waikiki einst vom Landesinneren trennten. Im 19. Jahrhundert war Waikiki Rückzugsort der königlichen Familie Hawaiis, ehe es sich zur touristischen Hochburg von heute fortentwickelte.
Erster Anlaufpunkt im marathonischen Vorprogramm ist das Hawaii Convention Center in der Kalakaua Avenue nordwestlich von Waikiki. Modern, luftig und chic präsentiert sich das im Entrée mit reichlich Glas konzipierte Convention Center. An den drei Tagen vor dem Lauf kann man dort seine Startnummer holen.
Ich nutze gleich den Donnerstag, in der Hoffnung, dass sich der Andrang noch in Grenzen hält. Denn immerhin 42.000 Anmeldungen haben die Veranstalter für 2025 stolz verkündet, davon 28.000 auf den Marathon entfallend. Und tatsächlich: Überaus entspannt geht es an der schier endlos langen Reihe der Ausgabetische für die Startnummern zu. Ohne Warten bekomme ich meine Nummer. Nach kurzer Verifikation per Nummer per Scanner werde ich sogleich weitergelotst durch ein großes Tor: „Official Merchandise“ steht in unübersehbaren Lettern darüber. Und urplötzlich wähne ich mich in einer Art „Black Friday“-Shopping-Getümmel. Überaus vielfältig und üppig ist das Angebot an Merchandise-Artikeln. Kaum jemand der dichtgedrängt herumwuselnden Besucher kann der Versuchung widerstehen, mindestens eines der farbenfrohen Accessoires in den Starterbeutel zu packen und sich in die lange Schlange an den 15 Kassen einzureihen.
Deutlich ruhiger geht es an den folgenden Ständen ohne Merchandise-, aber dafür mehr Sportbezug zu. Ein spezielles Highlight wird in Form eines etwa 30 mal 1,8 Meter messenden Banners bereitgehalten, auf dem in kleiner Schrift alle teilnehmenden Läufer in alphabetischer Reihenfolge verewigt sind. Wie viele nutze ich die Gelegenheit, mich zu suchen – und mich zu meinem Erfreuen auch zu finden.
Allzu lange hält mich aber nichts mehr auf der Messe. Denn schöner als hier drinnen ist es dann doch, draußen unter den wiegenden Palmen am Waikiki-Strand zu flanieren, wo leichtest bekleidete Jogger/innen ihrer Marathonfitness den letzten Schliff geben.
So etwas wie eine Carboloading Party, wie früher einmal, gibt es nicht. Allerdings sind die Läufer, sozusagen als Kick Off zum Marathonwochenende, zur Aloha Friday Night geladen. Auf der strandnahen Waikiki Beach Walk Plaza wird am Freitag in den frühen Abendstunden etwas für das marathontouristische Auge und Ohr geboten:
Zeremonienhaft werden fünf Fackeln im Geiste des Marathons entzündet, untermalt vom sphärischen Klang aus einer Tritonshorn-Muschel. Auf einer Bühne präsentieren blumenkranzgeschmückte Schönheiten zu Livemusik traditionelle hawaiianische Tänze. Stimmungsvoll und nett anzuschauen ist das und das Weiche und Sanfte von Klang und Bewegungen mutet an wie das sanfte Rauschen einer Meeresbrandung. Wie eben jene auch ermatten die gleichförmigen Darbietungen auf Dauer aber ein wenig, sodass ich noch vor dem offiziellen Ende der Feierlichkeiten von dannen ziehe.
Früh startet der Lauftag. Sehr früh. Um 2:30 Uhr ist die Nacht am Sonntag für mich schon zu Ende. Wobei sie für mich eigentlich gar nicht so recht begonnen hat, da die bis tief in die Nacht reichende Partystimmung in meinem feieraffinen Hostel ohnehin einer schnellen Schlaffindung abträglich war. Aber das Adrenalin sorgt dafür, dass selbst um diese Zeit keine Müdigkeit in mir aufkommt. Und gewählt habe ich dieses Waikiki-Quartier auch nicht zufällig: Denn praktischerweise liegt es ganz in der Nähe des Marathonziels. Die Kehrseite: Von hier sind es einige Kilometer bis zum Startgelände. Dieses Problem löst aber ein Shuttlebus-Service, der die Läufer ab zwei Uhr morgens vom zielnahen Zoo zum Startareal chauffiert.
Gerade einmal gut hundert Meter muss ich marschieren, um um drei Uhr die Abfahrtsstelle der Busse in der Kapahulu Avenue am Zoo zu erreichen. In einer Karawane aufgereiht warten sie hier schon auf die aus allen Richtungen her strömenden Läufer. Ein Bus nach dem anderen füllt sich flott und sogleich geht es auch für mich los durch die noch nachtleeren Straßen Waikikis.
Ziel der Fahrt ist der westlich von Waikiki gelegene Ala Moana Boulevard, eingerahmt vom gleichnamigen Beach Park und dem riesigen Ala Moana Shopping Center. „Weg am Meer“ bedeutet auf Hawaiianisch Ala Moana, eine treffende Beschreibung auch für die Ausrichtung des Laufkurses. Vom Drop Off-Punkt setzt sich der nächtliche Walk ein paar hundert Meter fort, ehe mir ein von starken Strahlern ausgeleuchtetes Areal im Park zeigt: Ich bin da.
Viel Auslauf haben wir hier, aber der Trubel nimmt mit den immer mehr einströmenden Läufern schnell zu. Zeitgleich mit den Marathonis starten auch die 10 km-Läufer, was sich auf den Andrang unweigerlich auswirkt. Einen Halbmarathon kann man in Honolulu auch laufen, aber erst im April. Ich lasse mich durch das Menschengewimmel treiben, denn ich habe noch reichlich Zeit, bis ich mich in meinem Startblock einfinden muss.
Augenfällig ist bereits hier eine weitere Besonderheit des Honolulu-Marathons: Horden bestens gelaunter Japaner dominieren zumindest akustisch das Teilnehmerfeld und machen den Honolulu Marathon nicht nur zu einem der größten US-amerikanischen, sondern auch japanischen Marathons. Einige sind kostümiert und zeigen auch damit, dass der Fun und nicht die Zeit für sie im Vordergrund steht.
In fünf Startzonen – grün, blau, orange, lila, gelb - ist die lange Startgerade auf dem breiten Boulevard eingeteilt. Aufgrund meiner bei der Anmeldung avisierten Zielzeit von fünf bis sechs Stunden ist orange meine Blockfarbe und damit befinde ich mich genau in der Mitte. Letztlich kontrolliert wird aber nicht, wo man sich einreiht. Aber in der Vorahnung, dass ich heute viel Zeit brauchen werde, fühle ich mich dort gut aufgehoben.
Schon die Wetterprognose verhieß für heute nichts Gutes. Nach herrlichen Sonnentagen waren, begleitet von starkem Wind, schon gestern reichlich dunkle Wolken herangezogen. Erleichtert war ich daher, dass das Wetter bisher stabil blieb und mein Regenponcho nicht zum Einsatz kommen musste. Aber da hatte ich mich zu früh gefreut. 4:15 Uhr ist es, als der Himmel mit einem Mal seine Schleusen öffnet und sich monsunartig das Nass über uns ergießt. Ich schaffe es gerade noch, einen günstigen Platz unter einem der ausladenden Banyan-Bäume zu ergattern und kann von dort einigermaßen geschützt das feuchte Spektakel beobachten. Nicht verhindern kann ich allerdings, dass meine Schuhe dennoch schon jetzt volllaufen, denn die Wiesen können den vielen Regen gar nicht so schnell aufnehmen.
Der Regen lässt zum Glück irgendwann nach und nun drängen die wartenden Massen hinaus auf den Boulevard. Eine unübersehbare Menschenmenge sammelt sich dicht gedrängt hier. Pitschnass sind die meisten schon, aber die Stimmung ist bestens. Und die steigert sich nochmals, als es mit dem Startschuss um 5:00 Uhr am Himmel laut und hell wird. Traditionell wird der Marathon mit einem Feuerwerk eingeläutet. Es blitzt und funkelt nur so, unablässig jagen pfeifend die Raketensalven gen Firmament, um dort krachend ein farbenprächtiges Funkenspektakel zu verbreiten. Was für ein spektakulärer Auftakt! Vom Feuerwerk begleitet nähere ich mich in Minischritten der sich langsam nähernden Startlinie. Nach ein paar Minuten ist sie erreicht und dann, endlich, geht es richtig los. Entspannt jogge ich hinaus in die laue Nacht.
Wenn man nur in Waikiki abhängt, kann man leicht der Fehlvorstellung erliegen, hier sei auch das Zentrum der Stadt. Aber dem ist keineswegs so: Die Downtown liegt einige Kilometer westlich von Waikiki. Und sie ist das Ziel unseres ersten Streckenparts.
Die ersten Kilometer führen entlang des Hafens Honolulus bis in die Innenstadt hinein. Stockfinster ist der Himmel noch, sodass sich die Sightseeing-Eindrücke in Grenzen halten. Auch wenn ich es langsam angehen lasse, bin ich zu meinem Erstaunen doch deutlich schneller als die meisten um mich herum. Und nicht wenige gehen das Ganze von Beginn an walkend an. Das ist eben Honolulu! So muss ich mich aufs Slalomlaufen konzentrieren, um halbwegs mein Tempo laufen zu können. Nicht entgeht mir dennoch der historische Aloha Tower. Der zehnstöckige Uhrturm am Hafen, ein Wahrzeichen der Stadt, war bei seiner Errichtung im Jahr 1926 mit 56 Metern das höchste Gebäude Hawaiis. Angestrahlt wird er in der Nacht, nur ist er leider zu weit von der Straße entfernt, um viel von ihm zu sehen zu bekommen.
Nach drei Kilometern biegen wir nach rechts in die Chinatown ab und folgen dann der durch die Innenstadt führenden South King Street. Auf diesem Streckenabschnitt passieren wir einige weitere historische Highlights der Stadt. So etwa prangt inmitten eines Parks nach 3,5 km der Iolani-Palast, die Residenz des letzten hawaiianischen Königs und der einzige Königspalast auf amerikanischem Boden, im Scheinwerferlicht. Hier ist auch die erste von 16 Verpflegungsstellen entlang der Strecke positioniert. Von der Verpflegung darf man sich – wie bei US-Marathons üblich - nicht viel erwarten: Wasser gibt es immer, Isodrink an jedem zweiten Posten, Gels nur ab und zu. Und sonst … nichts. Selbstversorgung ist angesagt, wenn man unterwegs etwas zu beißen braucht.
Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite erblicke ich die vergoldete Statue von König Kamehameha, des ersten Königs von Hawaii, vor dem historischen Ali´iolani Hale, dem Obersten Gerichtshof von Hawaii. Einige Palmen verleihen dem hübschen Ensemble den passenden exotischen Touch. Die nächtliche Ausleuchtung ist allerdings sparsam. Sie entfällt gänzlich, als wir ein kleines Stück weiter die mit Korallenblöcken aus den nahe gelegenen Riffen bis Mitte des 19. Jahrhunderts erbaute Kawaiaha´o-Kirche, einst die erste christliche Kirche auf Oahu, passieren. Das weiß ich auch nur deshalb, weil ich schon bei Tageslicht hier war.
Nicht am Licht gespart wird allerdings bei der Illuminierung der von Lichterketten eingefassten Bäume. Und auch dort nicht, wo weihnachtliche Deko das Straßenbild ziert. Knallbunt ist sie und unter Ästhetikgesichtspunkten der Kategorie totaler Kitsch zuzuordnen. Aber jetzt in der Nacht ist das im Vorbeilaufen durchaus nett anzusehen.
Nach sechs Kilometern sind wir fast wieder dort, wo wir gestartet sind: Auf dem Ala Moana Boulevard. Nur laufen wir jetzt in der Gegenrichtung am Ala Moana Center, laut Eigenwerbung weltweit größtes Open Air Shopping Center mit mehr als 350 Geschäften und Restaurants, vorbei.
Die Brücke über den Ala Wai Canal markiert den Eingang zu Waikiki. Dieser Kanal trennt Waikiki quasi vom Rest der Stadt ab. Hotel- und Appartementtürme säumen die Straßenschlucht des Ala Moana Boulevards. Nahe am Meer sind wir hier zwar, aber die Bebauung riegelt jegliche Aussicht blickdicht ab.
Der Kurs biegt nach rechts auf die Kalalaua Avenue ab. Diese Hauptgeschäftsstraße Waikikis durchschneidet das Viertel diagonal. Alles, was an Edelmarke Rang und Namen hat, hat hier einen Shop. Kitschige Souvenirs und bunte Shirts findet man ebenso in reicher Auswahl. Aber eben nicht um diese Zeit. Dafür säumen bestens gelaunte Zuschauer die Straße und feuern uns lautstark an.
Etwa neun Kilometer liegen hinter mir, als ich, jenseits des Moana Surfrider, Waikikis ältestem und auch zu Nachtzeiten herrschaftlich erstrahlendem Hotel aus dem Jahr 1901, im Licht der Straßenbeleuchtung die hohen schlanken Palmen des weltberühmten Waikiki Beach im frühmorgendlichen Wind wiegen sehe. Sechs Uhr ist es zwar mittlerweile, aber noch immer finster, sodass Strand und Meer meinem Blick weitestgehend verborgen bleiben. Einsam auf einem Felsblock thront die Statue von Duke Paoa Kahanamoku zwischen den Palmen am Strandzugang. Mit ausgebreiteten Armen und blumengeschmückt begrüßt der einst berühmte Surfer und Olympiasieger die Strandbesucher.
Nur einen knappen Kilometer geht es hier direkt am Strand entlang. Tagsüber drängen sich Touristen, Sonnenanbeter und Surfer dicht an dicht, jetzt übertönt nur das Rauschen der Brandung die Stille auf dem Strand. Einerseits bedauere ich, den Strand nicht im ersten Morgenlicht erleben zu dürfen, freue mich aber andererseits, weil es einfach gut läuft. Wenn Ihr Euch ein Bild von all dem machen wollt, was man entlang der bisher gelaufenen Wegstrecke bei Tageslicht zu sehen bekommt, schaut Euch einfach die Bilder im Eingangskapitel „Honolulu“ an.
Nach zehn Kilometern ist das Ende des Strandes und auch das Ziel erreicht – aber nur für die 10 km-Läufer, die hier ausgeleitet werden. Für den Rest heißt es Abschied zu nehmen von Waikiki und dem Strand. Zugegebenermaßen fällt kaum auf, dass die 10 km-Läufer aus dem Feld herausfallen. Die Straße ist in der gesamten Breite auch weiterhin gut gefüllt.
Entlang der Monsarrat Avenue geht es durch die Parklandschaft zwischen Zoo und dem Kapi’olani Park, dem späteren Zielgelände, ein Stück weit landeinwärts. Über die rechts abzweigende Paki Avenue umrunden wir den Kapi’olani Park weiter, ehe diese in die ufernahe Diamond Head Road einmündet.
Ein weiterer interessanter Streckenabschnitt steht bevor. Denn quasi auf Tuchfühlung passieren wir jetzt eines der markantesten Wahrzeichen Honolulus: Den Diamond Head. Der bis zu 232 Meter hohe und 1,2 Kilometer im Durchmesser messende Tuffsteinkraterring entstand vor 300.000 Jahren durch Vulkanismus. Seien Namen verdankt der Diamond Head der Fehlvorstellung englischer Seeleute im 19. Jahrhundert, die im Gestein eingelagerten glitzernden Calcitkristalle seien Diamanten.
Es lohnt sich, den schweißtreibenden halbstündigen Weg hinauf zum „Gipfel“ am höchsten Punkt des Kraterrands auf sich zu nehmen und von dort den Ausblick auf Waikiki und die Küste zu genießen. Beim Marathon müssen wir das nicht, aber auch die Küstenstraße hält hier, am Fuße des Kraters, eine langgezogene spürbare Steigung bereit. Die Blöße, den Anstieg walkend zu bewältigen, gebe ich mir aber nicht. In der ersten Morgendämmerung bekommt die Landschaft immer mehr Kontur. Gleiches gilt für die weiterhin düsteren Wolken am Himmel, doch halten sie ihre Regenlast nunmehr zurück. Zumindest meist.
Steil steigt der felsige Abhang zur Linken der Straße gen Krater empor, während er zur Rechten hinter wiegenden Palmen zum Meer abfällt. Ein kleiner Leuchtturm am Wegesrand markiert, dass wir den bei etwa 40 m üNN liegenden Scheitelpunkt überschritten haben. Im leichten Downhill entfernen wir uns, dem Fuß des Kraters folgend, von der Küste. Kräftig bergab geht es, als der Kurs nach 15 km nach rechts auf die 18th Avenue und kurz darauf die Kilauea Avenue abbiegt.
Geradeaus durch die Wohn- und Geschäftsgebiete von Kahala führt der Kurs nun, bis zur Kahala Mall. Hier zweigen wir nach knapp 18 km erneut rechts auf den vielspurigen Kalanianaole Highway ab, der für nächsten knapp sieben Kilometer gen Osten immer geradeaus führend unseren Laufkurs bestimmt.
Waialae Iki, Aina Haina und Niu Valley heißen die Stadtbezirke, die wir auf dem Highway passieren. Sie ziehen sich zu unserer Linken an steilen Hängen hinauf und bieten ihren Bewohnern reichlich Meerblick. Die Hügelkuppen verschwinden heute in den tief hängenden Wolken. Viel Grün säumt den Kurs, doch ist er auch durch landschaftliche Monotonie gekennzeichnet. Kleine Uferparks eröffnen ab und an kurzen Meerblick, doch wirklich nahe kommen wir dem Meer nie.
Mit Kegeln abgetrennt ist auf dem Highway eine zunächst noch leere Gegenspur. Auf dieser kommen schließlich wenige Schwarzafrikaner als Spitze des Feldes auf dem Rückweg nach Honolulu angeprescht. Und dann lange niemand mehr. Dann tröpfeln, zunehmend mehr, die Läufer des Verfolgerfeldes ein. Nur wenige haben sich den Pacern für 3:00 oder 3:30 Std. angeschlossen. Sehr kompakt ist weiterhin das Feld auf meiner Seite. Doch ist natürlich interessant zu beobachten, was sich auf der Gegenspur tut.
Bis zur Halbmarathonmarke bin ich läuferisch gut dabei, dann merke ich, dass es mir immer schwerer fällt, selbst ein langsames Lauftempo zu halten. Aber ich befinde mich in bester Gesellschaft. Und so ist das gar nicht so frustrierend und ich merke auch, dass das viele Wandern zuletzt auf La Palma und Maui mich konditionell beim schnellen Schritt unterstützt.
Kurz bevor ich die 25 km-Marke passiere, geht es nach links auf den Hawaii Kai Drive. Wir gelangen damit in eine Talgemeinde, die von dem Milliardär und Industriellen Henry J. Kaiser gegründet und nach ihm benannt wurde. Unser Kurs durch die Wohnsiedlung Hawaii Kai führt in einer Schleife um ein verästeltes Binnengewässer, das den meisten Häusern Wasserzugang ermöglicht. Malerisch umrahmt und abgeschirmt wird die Gemeinde von üppig grünen Hängen. Eine sehr schöne und privilegierte Wohngegend. Mit Hawaii Kai erreichen wir den östlichsten Streckenabschnitt.
Besonders markant ragt am nahen Horizont der vulkanische Kegel des Koko Craters 300 Meter in die Höhe. Bekannt ist der Koko Crater vor allem durch seine direttissima und überaus steil zum Gipfel hinaufführende Bahntrasse, die einst der Materialanlieferung für eine Radarstation diente. Die schon lange stillgelegte und mittlerweile etwas marode Trasse dient heute als Wanderweg mit dem „speziellen Kick“, wobei Warnschilder deutlich auf die mit der Erklimmung der über tausend Schwellen verbundenen Unfallgefahren hinweisen. Das herausfordernde Abenteuer einer Besteigung in praller Sonne ist aber durchaus beliebt – ich habe mich selbst davon zwei Tage vorher überzeugt. Und das daraus resultierende Ziehen in den Waden mit auf die Marathonstrecke genommen.
Die Schleife durch Hawaii Kai ist aber auch aus anderen Gründen besonders motivierend. Denn die Bewohner stehen hier zuhauf an der Strecke, feiern das Laufevent als Party und verwöhnen die Läufer mit allerlei süßen Leckereien - eine sehr willkommene Abwechslung in der sonst so diätetischen Läuferversorgung. Selbst Kältesprays für die überreizte Beinmuskulatur werden bereitgehalten.
Nach 28 km endet die Schleife und ich erreiche wieder den schon bekannten Kalanianiole Highway. Vor mir, zu meiner Linken und unterhalb des Koko Craters liegen die Überreste eines weiteren Vulkans, der zur Meerseite hin durch Erosion ausgewaschen wurde und mit der Hanauma Bay einen der vor allem bei Schnorchlern beliebtesten und nur mit vorheriger Onlinereservierung besuchbaren Strände bietet. Für mich geht es hier aber nun nach rechts. Und damit darf auch ich - nun in der Gegenrichtung – den langen Rückweg nach Waikiki antreten.
Die Kilometer über den Asphalt ziehen sich. Etwa bei Kilometer 30 kämpft sich tatsächlich auch die Sonne für kurze Zeit zwischen den Wolken hindurch. Das fühlt sich ein wenig an wie ein Saunaaufguss und ich bin innerlich dankbar, dass die Wolkendecke die Sache bisher etwas erträglicher machte, wobei die etwa 25 Grad Celsius auch bei Bewölkung kein Zuckerschlecken sind. Keine der Getränkestellen lasse ich aus und was an Wasser nicht mehr in den Hals hinein geht, kippe ich über den Kopf.
Das Läuferfeld auf dem Highway ist in beiden Richtungen nunmehr annähernd gleich dicht und ebbt auch in der Gegenrichtung nicht ab. Ich bin fasziniert, welche Läufermassen hier und heute unterwegs sind und wie weit sich das Läuferband auseinander gezogen hat. Unterhaltsam ist das auch, vor allem, wenn Läufer verkleidet sind oder bewusst in Interaktion mit der Gegenseite treten.
Einen Vorteil hat die Sonne aber doch: Denn im warmen Licht fängt die Natur entlang der Wegstrecke geradezu zu leuchten an und lässt den Laufkurs sogleich deutlich attraktiver erscheinen. Vor allem am Anblick der reichlich gedeihenden Palmen als Inbegriff tropischen Flairs kann ich mich immer wieder aufs Neue erfreuen. Auch wenn es auf den 7,5 km über den Kalanianiole Highway eigentlich durch bereits bekanntes Gelände geht, eröffnet der Blick in die Gegenrichtung doch wieder ganz neue Blickwinkel und Facetten in der Landschaft.
Ich schaffe es, einen gewissen Wechsel zwischen Walken und Laufen zu bewahren, wobei die Laufanteile immer spärlicher werden. Aber immerhin. Es geht auch so voran und ich beginne innerlich zu rechnen, wie schnell ich die Kilometer zurücklegen muss, um mein Ziel, unter sechs Stunden zu bleiben, zu erreichen. Und es schaut gut damit aus.
Nach 35,5 km verlassen wir den Highway, folgen ab hier aber nicht mehr dem Kurs des Hinweges, sondern biegen in die beschauliche Kealaolu Avenue ab. Diese passiert den Waialae Country Club, wo das Hawaiian Open PGA Golf Tournament stattfindet. Am Ende der Straße biegt die Route nach rechts in die Kahala Avenue ab und führt entlang des Kahala Beach durch ein Viertel mit luxuriösen Anwesen. In dieser proper-beschaulichen Gegend sind als zusätzliche Motivation in klangsicheren Abständen mehrere DJs am Straßenrand platziert, die den Laufkurs mittels kräftiger Lautsprecherboxen mit ihrem jeweils ganz eigenen Beat beschallen.
Die Kahala Avenue geht bei km 39 in die wieder bekannte Diamond Head Road über. Und die am Horizont nahende schroffe Wand signalisiert: Der Diamond Head Crater ist nicht mehr fern und damit auch das Ziel jenseits des Kraters.
Ein weiteres Mal müssen wir uns am Fuß des Diamond Head Kraters einige Höhenmeter erkämpfen, ehe uns am höchsten Punkt eine Trommlergruppe, von einem Muschelhorn begleitet, das Zeichen gibt: Es ist fast geschafft. Was auf dem Hinweg wenig Sinn gemacht hätte, erlaube ich mich mir jetzt: Einen Blick über die Straßenbegrenzung nach unten zu werfen. Einen schönen Ausblick hat man von hier auf den unter uns liegenden Strand des Diamond Beach Parks und die umliegende Küste.
Vorbei am Leuchtturm geht es nun nurmehr bergab und ich höre ab jetzt nicht mehr auf zu laufen. An der Spitze des Kapiolani Parks biegen wir in die Kalakaua Avenue ab, wo ich einige hundert Meter entfernt am Ende der langen, entlang des Parks führenden Geraden schon den Zielbogen erspähen kann. Je mehr ich mich diesem nähere, desto mehr Menschen säumen die Straße und desto lauter wird die Geräuschkulisse, die uns auf den letzten Metern gen Ziel pusht.
Nach 5:34 Stunden quere ich die Ziellinie. Noch nie in meinem Leben war ich bei einem Marathon so lange unterwegs und noch nie war mir das so egal. Dabei sein ist alles – das war hier mein einziges Motto, ganz dem Aloha Spirit folgend. Dass es dann noch besser als erwartet lief, beschert mir natürlich ein zusätzliches Glücksgefühl, weil es mir auch zeigt: Du hast es immer noch drauf, trotz minimalem Training und Alter. In der Ergebnisliste werde ich später unter den ersten 9.000 vom fast 23.000 Finishern gelistet sein. Das klingt für mich verdammt gut, auch wenn 5:34 Stunden alles andere als eine gute Marathonzeit sind.
Die größte und goldglänzendste Finishermedaille meines Läuferlebens wird mir im Ziel umgehängt, bevor ich weiter durch den für die Einläufer mit Gittern abgeriegelten Zielkorridor und hinein in den wunderschönen Kapiolani Park mit seinen riesigen Banyans, Teichen und weiten Wiesenflächen gelotst werde. Ein farbenfrohes Finishershirt gibt es hier dann oberdrauf und endlich auch eine Kleinigkeit zu essen: Malasadas, eine hawaiianische Variante des in Bayern als „Auszogne“ bekannten Schmalzgebäcks, nur eben kleiner und richtig frisch, richtig fett, richtig lecker.
Eine unglaubliche Menschenschar, vor allem Finisher, aber auch deren Familien oder Freunde, bevölkern das weite Parkgelände, viele in den Wiesen liegend oder vor einer der zahlreichen Bilderwände mit Marathonemblem posend und ein Erinnerungsfoto schießend. Eine ausgelassene und entspannte Stimmung herrscht, ganz im Geiste von Aloha. Und dazu gehört auch, dass selbst dann, als nach über 14 Stunden bei Dunkelheit und strömendem Regen die letzten Finisher im Ziel einmarschieren, diese am Zielbogen noch mit Hallo und Beifall empfangen werden.
Der Honolulu-Marathon ist ein Lauf, wie es wohl keinen zweiten gibt. Und der in seinem Charakter, gerade wenn man Hawaii ein wenig reisend kennengelernt hat, wohl auch nirgends so gut hinpasst. Er ist ein Lauf, der es schafft, jeden, der hier teilnimmt, irgendwie glücklich zu machen und ein unvergessliches Erlebnis zu bescheren. Aloha!