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Laufberichte

Silesia Marathon Katowice

03.05.12
Autor: Joe Kelbel

Kattowitz gewinnt keinen Schönheitspreis, aber seine Mädchen. Kattowitz  ist ein Industriegebiet  mit langgestreckten Bergmannssiedlungen. Es gab keine Bombardierung von Kattowitz, lediglich einige russische Granaten schlugen in das deutsche Viertel ein.  Doch kommunistische Großbauten der 60er und 70er Jahre prägen nun das Stadtbild. Geblieben ist eine winzige, kleine Alstadt zwischen Rynek (Marktplatz) und  Wolnosci Platz, mit dem Stadtpalast aus dem 19.Jahrh. Kattowitz  trägt den Beinamen „die amerikanische Stadt“, tatsächlich prägen die ersten Hochhäuser Europas, McDonalds und Co das Stadtbild. Das Silesia City Center (CC)  ist das größte Einkaufscenter Polens, wurde auf dem Zechengelände der Gottwald- und Kleofashütte erbaut. 20 % des Stadtgebietes bestehen aus Parkanlagen. Kattowitz ist damit die grünste Stadt Polens.

9 Uhr  Start von etwa 1000 Marathonläufern, darunter 17 Deutsche, Amerikaner, Australier und Südafrikaner, vor dem Stadion „Spodek“ (Untertasse) direkt im Zentrum, etwa 500 Meter vom Bahnhof entfernt. Das  Ziel wird in Chorzow (Königshütte) sein, im Provinz Park (WPKW),  also vor der Kapelusz-Halle. Von dort gehen Shuttlebusse und Strassenbahnen zurück zum Start.

Der Spodek ist ein sozialistischer Monumentalbau, der gut gelungen ist, aber wie alles in Kattowitz leer steht und zerfällt. Er steht an der Aleja Korfantego (Korfanty Allee), dort ist auch das größte Denkmal Polens (1938): drei Adlerflüge  als Symbol für die drei Aufstände in Oberschlesien. Albert Korfanty (Wojciech Korfanty), in Kattowiz geboren, war Mitglied im Deutschen Reichstag (Polenpartei) und polnischer Ministerpräsident. Für die deutsche Seite war er ein polnischer Nationalist, für die Polen ein Schlesischer Separatist. Nach ihm ist diese Hauptstrasse benannt. Davor das Rondel mit dem roten Wasser des Springbrunnens.

Das Klima in Oberschlesien ist ein heisses Kontinentalklima, die Beskiden halten kalte Ostwinde ab. Heute wird die Temperatur, wie in den letzten 4 Wochen auch, auf über 30 Grad steigen. Bis jetzt ahne ich nicht, dass es einer meiner härtesten Läufe sein wird. Es steht ein Bus für die persönlichen Taschen bereit, die findet man im Kapelusz wieder.

Schon vom Spodek sind die Fördertürme mitten in Kattowitz sichtbar, direkt daneben, zwischen dem aufgewühlten Erdreich, stehen die Wohntürme aus den 70ern. Wir überqueren die Rawa. Mein Großonkel, nun Professor in Krakau, erledigte  meiner Mutter die Matheaufgaben, damit sie mit ihm Schlittschulaufen konnte. Damals konnte man auf der Rawa bis zum Wendepukt unserer Marathonstrecke laufen. Dort war die Grenze. Nun fließt die Rawa größtenteils unterirdisch.

Der Slesia Marathon findet zum vierten Mal statt. Dieses Jahr kommen wir wegen einer Großbaustelle nicht am berühmten  Schlesischen Museum und dem  Schlesische Theater vorbei. Doch nach der Fußgängerzone kommen wir wenigstens an der Schlesischen Bibliothek vorbei, dann geht es in einen wunderschönen Park, Gelegenheit für meinen Oberschenkel, mir einen mordsmäßigen Krampf zu bescheren.

Km 4 und ich in bin fertig. Die Hitze lässt meinen Kopf platzen, ich versuche das Tempo irgendwie zu halten. Wenn ich zu langssam werde, überfallen mich aber die Mücken.

Schöne Strecke durch sehr viel Grün, ich versinke in meinen Krämpfen und dann kommt der Hammer: Nikiszowiec (Nickisch-Schacht). Die Bergarbeitersiedlung wurde ab 1908  für die Bergleute der Gische-Grube, nach Plänen der Charlottenburger Architekten gebaut. Schaut Euch die Bilder an, es hat mich vom Hocker gerissen, wach gemacht und begeistert! 

Wendepunkt der Marathonstrecke ist in Wilhemina (Wilhelminenhütte), früherer Hauptsitz der weltgrößten Bergbaugesellschaft Georg von Giesches Erben (Gründung 1704 ), die die oben genannte Nikisch-Schacht-Siedlung gebaut hat. Ein, zwei Kilometer von hier war ab 1846 das sogenannte Drei-Kaiser-Eck  zwischen Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland, damals ein Toptouristenziel mit Aussichtsturm und Ausflugslokalen,  heute absolute Müllhalde.

Im ersten Weltkrieg mussten sich die Russen  zurückziehen, alle drei Kaiser (Zar=Kaiser=Ceasar)  verloren die Macht. Jetzt heisst die Wilhelminenhütte Kopalnia Wyzoreck, benannt nach einem kommunistischen Typen.

Bei km 15 kommen wir in den Stadtteil Szopienice (Schoppinitz), überall die verußten Häuser aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, aber nette Menschen. Ein gewaltiger Unterschied zum Hamburg Marathon letzten Sonntag: Hier ist niemand mit Rotkäppchensekt oder Piwo auf der Strasse. Alte Leute im Fenster, junge auf der Strasse. Ich glaube jetzt nicht mehr, dass sich die Polen mit Vodka die Zähne putzen.

Ortteil Rozdzien (Rosdzin),  dann geht es zurück über die Strasse des 1. Mai (früher Krakauer Strasse). Bei der Nr 7 mache ich halt.  Das ist das Haus meiner Urgroßmutter. Meine kleine  Mutter  war dort zu  Besuch. Sie gießt die Blumen auf dem Balkon. Wie das halt so ist…die Blumen waren einfach zu klein, und  der Herr Swoboda, ein reicher Snob, hat nun einen nassen Hut und stürmt das  Treppenhaus…. meine Urgroßmutter öffnet  die Tür….ich habe die Dreizentner Dame noch gekannt: „Sehr verehrter  Herr. Mein Gewicht ermöglicht es  jeder meiner Enkelinnen, die Blumen zu gießen wie sie will!“

Die Leuten schauen und diskutieren, warum ich Fotos von den verfallenen Häusern mache. Ich sage nur: „Babuschka Haus“ und laufe weiter.

Die Strasse des 1.Mai mündet nun in die Warzawska, früher Friedrichstrasse. Rechts im Hinterhof holte meine Mutter die Milch von einem Bauern, und gegenüber wohnte sie mit meinen Großeltern in der Nr 57. Die Nummerierung blieb gleich, sogar den Granateinschuß (der Russen) in die Wohnung sieht man noch. Auf dem abgerundeten Balkon ist meine Mutter balanciert, das gab richtig Dresche, wie sie mir erzählt.

Zwei Häuser weiter, das Haus mit den drei Stufen, gehörte  meiner Großtante Luzie. Sie hatte dort eine Konditorei: Meine Mutter spielt mit der Waage. Da kommt ein Kunde herein. Es muss vor 1939 sein, denn es kaufen hier nur deutsche Stammkunden. Aber der spricht polnisch: „Was kostet das hübsche Kind?“ Meine Mutter selbst antwortet auf hochpolnisch: “Der Herr wird niemals soviel Geld haben!“ Wer in dieser Strasse wohnte, sprach eigentlich kein hochpolnisch, schon gar nicht die Damen, die sprachen ausnahmslos hochdeutsch. 

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