Stell dir vor, da gerät einer ohne besondere Absicht in eine sich zum Marathonstart versammelnde Menschenmenge und wird von der Masse einfach mitgezogen. Und läuft, und läuft, bis er die Ziellinie überquert. Völlig unbeabsichtigt und untrainiert. Schön ist das, wenn er es ohne Blessuren schafft – aber auch fahrlässig. Oder leichtfertig? Juristisch gesehen ist das fast das Gleiche, nur ist dies dann sogar eine grobe Fahrlässigkeit.
An diesem Silvesterabend trifft sich eine ganz andere Klientel in der Sporthalle Unterrohr in Schlieren. Aus aller Herren Länder sind sie gekommen und bringen dabei Pässe weiterer Nationen mit. Sie haben sich alle vorsätzlich in den westlichen Vorort Zürichs begeben.
Es ist schon etwas Besonderes, das Jahr mit einem Lauf zu beginnen, da können gefasste Vorsätze gleich in der ersten Sekunde umgesetzt werden. Mindestens kann mit der Umsetzung begonnen werden. Mehr für die Gesundheit tun, die lästigen Speckröllchen am Bauch abbauen, die psychische Balance finden und noch viel mehr.
Ein Vorsatz dürfte auch sein, einmal in der Jahresweltbestenliste ganz vorne aufzutauchen, denn sämtliche Strecken des Neujahrsmarathons sind gemäß IAAF-Standards offiziell vermessen. Dadurch ist er auch von IAAF/AIMS zertifiziert, womit die Leistungen offizielle Gültigkeit erlangen. Wer sich noch für den Boston Marathon, die Weltmeisterschaften oder die Olympischen Spiele qualifizieren will, kann das hier tun.
Meine Ziele sind nicht ganz so hoch gesteckt. Ich möchte ganz einfach in einem gleichmäßigen Tempo, ohne Gehpausen, den Marathon nachhause bringen, denn ich brauche mentales Doping ebenso wie Kilometer in den Beinen, damit ich für mein selbstgestecktes Laufziel in diesem Jahr wirklich bereit bin. Noch ist es in Sachen Datum weit entfernt, doch es ist kein Geheimnis, dass die Stunden einer Woche schneller durchflutschen als auch nur ein Bruchteil davon in Kilometern.
In der Halle waltet ein DJ seines Amtes, vom Buffet werden Ess- und Trinkwaren an die dekorierten Tische geschleppt und die Smartphones sind im Dauereinsatz für Fotos und letzte Postings im alten Jahr. Ich bin ohne jegliche Euphorie und ohne Verbindung über die virtuelle Realität in meiner kleinen Gedankenwelt. Beim Countdown vergesse ich sogar, dass er nicht nur dem Startschuss gilt, sondern dem Beginn des neuen Jahres.
Entgegen früheren Jahren wird über alle Distanzen gleichzeitig gestartet, erstmals jetzt mit Nettozeitmessung. Nicht allen Teilnehmern scheint dieses Konzept bekannt zu sein, was mich heute nicht stört. Die Feuerwerke, die ich beim Verlassen der Halle am nebligen Nachthimmel sehe, erinnern mich wieder daran, dass eben der Jahreswechsel stattgefunden hat.
Der Abschnitt zwischen Halle und Ufer der Limmat ist nur kurz und sie, der Fluss Zürichs, welcher das Wasser des Zürichsees zur Aare und dann in den Rhein bringt, wird für die nächsten Stunden unsere ziemlich stille Begleiterin sein.
Ein neuer Teilnehmerrekord und besonders bei den Unterdistanzen ein hoher Anteil Frauen, das wäre auch ohne Licht der Stirnlampe unübersehbar. Auch dass ich langsam aber sicher zu den Veteranen zähle, obwohl mein Wechsel der Alterskategorie bei diesem Marathon gar nicht zum Tragen kommt, da es nur 10er-Schritte gibt.
Es geht auf einem feuchten Spazierweg entgegen der Fließrichtung, grob gesagt in Richtung Zürich, dessen Hauptbahnhof nur 12 S-Bahn-Minuten von Schlieren entfernt ist. Die Streckenanpassungen seit meiner ersten Teilnahme führen immer näher zu Downtown Switzerland. Trotzdem ist es noch niemandem in den Sinn gekommen, den Neujahrsmarathon Zürich als Gefahr für den frühjährlichen Zürich Marathon zu sehen. Mindestens hat das niemand explizit in den Medien breitgetreten. Also, liebe Berliner, etwas mehr – oder weniger? – Milde dem neuen Mitbewerber würde euch gut anstehen.
Der Zürich Marathon ist ein schnelles Pflaster, hat gute Zeiten vorzuweisen (dort knackte ich erstmals die 3:30…), der Neujahrsmarathon hat kaum Pflaster (die angegebenen 10% sind gefühlt übertrieben), dafür sieht man bei Regenwetter schnell einmal gepflastert aus. Aber nachts sind alle Katzen schwarz und bei diesem Marathon ist eine Miele nachher mehr wert als ein Milde vorher.
Die erste Runde ist schnell vorbei, unter anderem auch dank Gerhard. Wieder einmal nutzen wir eine läuferische Gelegenheit, um uns gegenseitig ein Update unseres Seins zu geben. Dann geht es schon das erste Mal hinein in die Halle, auf den blauen Teppich, unter dem Start- und Zielbogen hindurch und wieder hinaus in die Nacht. Bevor es erneut hinunter zur Limmat geht, werden Wasser und Iso, beides angenehm gewärmt, Bananen, Riegel und Gel gereicht.
Die zweite Runde ist immer noch kurzweilig. Das Feld ist durch den Wegfall der Viertelmarathonis bereits ausgedünnt und auch sonst schon recht langgezogen, aber immer noch genügend dicht, um nicht einsam unterwegs zu sein.
Ich wünschte mir, die Knallerei wäre schon vorbei. Industriegebäude, teilweise gut versteckt hinter Bäumen, sorgen für einen Widerhall, der wie das Peitschen von Schüssen tönt. Nicht wirklich das, was ich mit Gefühlen für ein friedliches neues Jahr verknüpfe.
Nach etwas mehr als vier Kilometern einer Runde werden die Flussseite und die Laufrichtung gewechselt. Auf der Brücke zur Werdinsel schließe ich zu Christoph „The Legend“ auf, ältester Finisher des UTMB und im vergangen Jahr einziger Finisher seiner Altersklasse. „Gut, dass du da bist; du kannst mich wieder retten, falls ich in einer Felsspalte steckenbleibe“, flachst er und lässt die Erinnerung an den Ultra Trail del Lago d’Orta aufblitzen, „oder für den Fall, dass ich in die Limmat falle“. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn lieber nochmals aus der Felsspalte hochziehen als aus dem 7° kalten Wasser fischen.
Statt kaltem gibt es temperiertes Wasser beim zweiten Verpflegungspunkt der Strecke, welcher auf der Werdinsel angesiedelt ist. Vor 120 Jahren wurde am Höngger Hangfuß ein Kanal für ein Flusskraftwerk gegraben und damit die Werdinsel geschaffen, welche heute im Sommer eine beliebte Badeinsel ist.
Während auf der linken Flussseite der Spazierweg Kinderwagen tauglich ist, geht es rechts teilweise knorriger zu. Stolpersteine und Wurzeln sind mit jedoch mit Leuchtfarbe deutlich markiert, Fehltritte sollte es so keine geben.
Wie in vergangenen Jahren erstrahlt eines der Gebäude beim Kloster Fahr in hellem Scheinwerferlicht und die Brücke davor wird von Finnenfackeln flankiert. „Bitte recht freundlich“, heißt es hier für diejenigen, welche später eine hübsche Erinnerungsfoto erwerben möchten.
Wenig später kommt schon das neunte Kilometerschild der zweiten Runde. Bald werden Flussseite und Laufrichtung wieder geändert und bei Kilometer zehn, der jetzt bereits 20,55 ist, die Zeit genommen.
Nach dem Passieren der Halbmarathondistanz in der Halle geht es auf die dritte, ziemlich ruhige Runde. Die Lichter der Stirnlampen sind gleichmäßig an beiden Seiten des Ufers verteilt. Das Wegfallen des Knirschens vieler Sohlen auf dem Splittbelag des Weges macht das sanfte Murmeln der Limmat hörbar. „La vie est un long fleuve tranquille“. Ohne einen inhaltlichen Zusammenhang zum Film kommt mir dessen Titel in dieser dritten, ruhigen Runde in den Sinn, und ich formuliere ihn zu meinem Wunsch für das kommende Jahr.
Lang und ruhig dürfen meine Läufe gerne sein und hoffentlich beschwerdefrei, ohne das lästige Ziehen in der linken Ferse, welches seit Monaten weder mit Ignorieren , noch Medikation, noch Pause zum Verschwinden gebracht werden kann. Ich schlurfe wieder wie zu Anfängerzeiten. Zwangsläufig muss ich mein bevorzugtes Vor- resp. Mittelfuß-Laufen gegen ein fersenlastiges Auftreten eintauschen. Während Feierfreudige mit ihren veritablen Katern am Neujahrsmorgen erwachen, wird mich höchstens ein sanftes Muskelkäterchen oder –miezchen in den wohlverdienten Schlaf schnurren. Solange ich trotzdem laufen kann…
Das kann ich auf der vierten Runde immer noch ziemlich gleichmäßig. Einsam spule ich die letzten Kilometer ab. Zu fotografieren gibt es nichts, obwohl mittlerweile der Halbmond ein paar Lichtstrahlen spendet. Es ist zu dunkel und zu neblig, als dass meine Kamera Motive einsammeln könnte. Genauso, wie auf den drei Runden zuvor. Da muss ich dem Leser die Aktivierung des Kopfkinos ans Herz legen. Ich muss es auf dem Rundkurs in der Dunkelheit auch tun.
Die letzten fünf Kilometer kann ich gefühlt beschleunigen und einige Läufer einholen. Die Schlusszeit liegt im Bereich des Erwarteten und Erhofften. Den ersten Vorsatz, sagen wir mal Eventualvorsatz, habe ich in diesem Jahr schon umgesetzt.
Ich nehme ein leckeres Biberli in Empfang, trinke etwas Wasser und gehe duschen, allerdings noch bevor die Kamera wieder die Hallentemperatur erreicht und das Objektiv nicht mehr beschlägt.
Nach der heißen Dusche genehmige ich mir einen Wachmacher-Kaffee vor der Heimfahrt und schwenke zur Begrüßung des letzten Finisher, „The Legend“, ebenfalls eine Wunderkerze. Wenigstens das als Anerkennung, denn in Ermangelung einer Altersklasse M70, in welcher er einziger Startender war, wird er zusammen mit den Jungspunden der M60 gelistet.
Den Neujahrsmarathon kann man auch ohne fromme oder weltbewegende Vorsätze laufen. Der Vorsatz, „ich gehe dann mal 42,195km laufen“, reicht. Wer dazu mehr braucht, kann das im Baukastensystem tun, denn zu dem für Schweizerverhältnisse sehr moderaten Startgeld kann man entsprechend der persönlichen Wünsche und Bedürfnisse Finishermedaille und –shirt separat dazu buchen lassen. Ebenso den Sekt mit Etikette des Neujahrsmarathons zum Feiern– für diejenigen, die nicht den Vorsatz gefasst haben, im Umgang mit dem Alkohol und seinen Kalorien im neuen Jahr gemäßigter zu sein.
Männer
1. Jeker David, Salvan 2:42.47,4
2. Arnold Philipp, Cham 2:46.31,9
3. Fitzpatrick Sean, GB-London 2:51.35,5
Farauen
1. Müller-Amstad Astrid, Russikon 3:06.27,8
2. Büschemann Bärbel, D-Lage 3:28.29,3
3. Federhen Jenny, D-Frankfurt 3:41.15,8
221 Finisher