Wie soll so etwas gehen? Man stelle sich eine Stadt mit gerade einmal gut 100.000 Einwohnern vor, mit reichlich Auf und Ab und noch dazu zerrissen von tiefen Schluchten. Und darin soll man einen Marathon laufen. Nicht im Umland, sondern inmitten der Stadt. Und nicht etwa auf einer sich mehrfach wiederholenden Schleife, sondern einem Einrundenkurs. Klingt ein wenig absonderlich. Aber so etwas gibt es: Im Herzen Europas.
Nicht nur in dieser Hinsicht ist und bietet Luxemburg etwas Besonderes. So klein die Stadt ist, so groß ist ihr Nimbus und auch ihre Bedeutung. Dessen ist sich die Kapitale des gleichnamigen Großherzogtums bewusst. Und so wird der Marathon hier nicht einfach nur veranstaltet, sondern geradezu zelebriert. Mit Herz und Seele tragen die Luxemburger ihren Marathon mit. Unter den Läufern hat sich das herum gesprochen. Kein Wunder ist also, dass die Veranstaltung schon Monate vor dem Start ausverkauft ist.
Wie wohl kein anderer Marathon ist der Luxembourg Marathon geprägt durch Internationalität. Der Umstand, dass gerade einmal 30 % der Bewohner der Stadt Einheimische sind und der Rest aus 163 Nationen stammt, spiegelt sich in gewisser Weise auch im Teilnehmerfeld des Marathons wieder. Dem geldigen Image der Stadt folgend ist mit der holländischen ING nicht zufällig einer der Großen aus dem Finanzsektor Hauptsponsor und trägt dazu bei, dass dem Läufer nicht nur eine außergewöhnliche Laufstrecke, sondern auch ein besonderer Rahmen geboten wird. Besonders ist auch die Startzeit: Um 19 Uhr fällt der Startschuss. Man läuft in die Nacht hinein und hat Zeit bis 1:25 Uhr am Sonntag Morgen. Egal, wann man ankommt, kann man sicher sein: It´s party time.
Der abendliche Start gibt Gelegenheit, sich am Lauftag bei einem Stadtbummel ganz entspannt physisch und emotional warmzulaufen. Kaum gegensätzlicher könnten die Gegensätze sein zwischen historischer Altstadt mit ihrem fast schon kleinstädtischen Charme, dem Bahnhofsviertel, kurz “Gare” genannt, mit seinen großbürgerlichen Palazzi, und der modern-kühlen Stahl-Glas-Beton-Architektur des Finanz- und Europa-Bezirks auf dem Kirchberg. Daneben: Parks, prächtige Villen, vor allem aber: Die Schluchten der Alzette und der Petrusse, die sich tief eingeschnitten mitten durch die Stadt winden und mitverantwortlich dafür sind, dass in Luxemburg für einen City-Marathon beachtliche 550 Höhenmeter zu überwinden sind. Fast schon dschungeliges Grün findet man in den Tiefen der Schlucht. Und tief unten in Grund und Klausen die nettesten Ausgehviertel der Stadt.
Aber es fallen auch andere Dinge auf: Die Stadt lebt dreisprachig, hat natürlich auch drei offizielle Namen. Amtssprachen sind neben Französisch und Deutsch “Letzebuergerisch”, ein moselfränkischer Dialekt mit starker französischer Einfärbung. Diese Sprachenvielfalt wird wird im Alltag ganz selbstverständlich praktiziert. Nur untereinander, da sprechen die “echten” Luxemburger nur eine Sprache: Ihr Letzebuergerisch. Das Schöne daran: Vieles lässt sich auch für deutsche Ohren verstehen.
In der Altstadt wird man schon den ganzen Tag über auf das anstehende Ereignis eingestimmt: Sambatruppen ziehen trommelnd durch die Straßen, Freiluftbars werden installiert. Und wo man hinschaut lauern Absperrgitter am Straßenrand auf ihren abendlichen Einsatz.
Schaut man sich den Streckenplan des Luxemburg Marathons an, so erscheint dieser auf den ersten Blick wie ein wirrer Knäuel. Blickt man dann etwas genauer hin, ist aber durchaus eine Systematik erkennbar. Der Einrundenkurs ist zentrumsorientiert und führt in mehreren, unterschiedlichen Schleifen immer wieder aus der City hinaus und in sie zurück. Das bedeutet auch: Man bekommt ungemein viel von der Stadt zu sehen und Laufbegleiter haben die Gelegenheit, ohne größere Wege mehrfach ihren Laufhelden an der Strecke anzufeuern.
Nur das Herz des Marathons mit Start, Ziel und Rahmenprogramm, das schlägt ganz wo anders: Weit draußen, auf der Luxexpo, dem Messegelände am Stadtrand, im hintersten Winkel des Kirchberg-Plateaus. Das hat natürlich auch handfeste Vorteile. Die Luxexpo bietet die Infrastruktur, die man für so ein Megaevent braucht. Vor allem: Viel Platz. Nur nicht für Autos. Die muss man auf einem der großen Sammelparkplätze bzw. Parkhäuser auf dem Kirchbergplateau oder weiter in der Stadt abstellen. Immerhin gibt es am Lauftag kostenlose Shuttlebusse zur Luxexpo, die vermeiden helfen, dass man sich schon vor dem Start läuferisch überanstrengt.
Den extravaganten architektonischen Chic umliegender Bauten auf dem Kirchberg kann die Luxexpo nicht bieten. Mit Fahnen, Bannern und vor allem satten Lichteffekten kann man aber auch den Zieleinlauf in einer sterilen Messehalle aufpeppen. Aber dazu noch später. Auf der Luxexpo bekomme ich in einer der riesigen Hallen meine Startunterlagen, hier findet am Freitag auch die Pasta-Party statt und man kann sich bei einem Bummel durch die Laufmesse auf das anstehende Spektakel einstimmen. Trotz 16.000 für alle Bewerbe angemeldeter Teilnehmer geht es äußerst entspannt zu: Kein Warten, keine Hektik, kein Gedränge.
Ein stark gewandeltes Bild bietet sich am frühen Samstagabend. Schon als ich kurz nach 17 Uhr auf der Luxexpo eintrudele, empfängt mich die Betriebsamkeit eines Bienenstocks. Hier wie dort ist aber alles bestens organisiert. Schnell und unkompliziert werde ich beim Hallenrundlauf mein Gepäck los und kann die orange-blaue Lichtorgie im noch menschenleeren Hallenareal für den Zieleinlauf bestaunen. Orange und blau, das sind die Farben der beiden Topsponsoren ING und tango, und die dominieren auch das Farbspektrum im Freigelände. Orange sind die Hüte und Rasseln, blau die Umhänge, die kostenlos in Massen unter das Zuschauervolk gebracht werden. Immer beeindruckender ist der Menschenauflauf und schon früh drängt es viele in die sieben Startblöcke, wo man zumindest anfangs noch deutlich mehr Freiraum als draußen hat. Streng wird der Zugang kontrolliert. Aufpasser patrouillieren selbst in den Blöcken und sprechen Einschmugglern unmissverständlich einen „Blockverweis“ aus.
Mehrere hundert Meter lang ist der gewundene Startkanal, in dem sich die vieltausendfache Läuferkarawane sammelt. Mit lauter Musik und multilingual heizt der Startmoderator ein, ein Hands Up folgt dem anderen, bis es endlich um Punkt 19 Uhr „wumm“ macht und sich aus einer Kanone ein Meer aus Papierschnitzeln und Luftschlangen in orange und blau (natürlich) über die Startenden ergießt.
Gleich nach dem Start geht es nach einer scharfen Linkskurve leicht bergan, dann aber haben wir erst einmal ein paar entspannende Kilometer vor uns, gerade recht zum Warmlaufen und zur Auflockerung des Läuferfeldes, Kilometer, die die Stadt von einer besonders naturnahen Seite zeigen. Weite Wiesen und Wälder am Horizont bestimmen das Blickfeld entlang des Boulevard Pierre Frieden am Rande Kirchbergs. Schon hier spielen die ersten der 30 Sambagruppen und noch einmal so vielen Bands und Discjockeys, die uns an der Strecke erwarten, auf. Auch die folgenden Kilometer, in uns in einer Schleife über die noch jungen Allee-Boulevards Konrad Adenauer und Prince Charles - welch große Namen für solch einsame Straßen - führen, sind äußerst naturverbunden und von nur lockerer Wohnbebauung unterbrochen.
Das ändert sich erst nach 6 km, als der Lauftross, vorbei am Campus Kirchberg, auf die Avenue John F. Kennedy stößt.
Die vielspurige Avenue John F. Kennedy durchschneidet mehrere Kilometer lang schnurgerade als Hauptachse das Europaviertel auf dem Kirchbergplateau und verbindet es mit dem Stadtzentrum. Den Beinamen Europaviertel verdankt der Kirchberg dem Umstand, dass hier zahlreiche europäische Institutionen, zumeist in Domizilen modern-kühler (man könnte auch sagen: unterkühlter) Sachlichkeit residieren, unter anderem der Europäische Gerichtshof und Europäische Rechnungshof. Aber auch das Big Business, vor allem aus dem Bereich der Finanzdienstleister, und die Kultur haben den Kirchberg für sich entdeckt. Vor allem letzterer ist zu verdanken, dass auch einige Perlen neuzeitlicher Architektur entstanden sind. Eingebettet liegt alles in reichlich Grün. Nichtsdestotrotz: So richtig heimelig wirkt der Kirchberg nicht.
Einige markante Bauwerke liegen direkt an unserem Weg. Bei km 6 sticht “d’ Coque” ins Auge. Seinen Namen verdankt Luxemburgs modernstes Veranstaltungs- und Sportzentrum der an eine Jakobsmuschel erinnernden Hallenkonstruktion. Architektonisch spannend wird es wenig später bei km 7 um die Place de l’Europe herum. Überragt wird der Platz von den die Straße links und rechts flankierenden Kirchberg “Twin Towers”. Ein echter Eyecatcher ist vor allem die 2005 eröffnete Philharmonie Luxembourg. Die filigrane weiße Säulenfassade des in Form eines Auges aus Stahl und Glas gestalteten Baus entfaltet vor allem bei nächtlicher Beleuchtung eine geradezu magische Aura.
Die beiden Kilometer auf der Avenue John F. Kennedy sind sehr locker zu laufen, kein Wunder: Es geht permanent leicht abwärts. Ich bemühe mich, dabei den Umstand auszublenden, dieses Wegstück am Ende des Marathons nochmals belaufen zu müssen, nur dann bergan in umgekehrter Richtung.
Bei km 8 erreichen wir das Tal der Alzette, das den Kirchberg vom Stadtzentrum trennt, und queren es über die Pont Grand-Duchesse Charlotte, die Großherzogin-Charlotte-Brücke, volkstümlich wegen ihres Anstrichs auch Rote Brücke genannt. Die 355 m lange Stahlbrücke überspannt in einer Höhe von 74 m den am Grund der Alzette liegenden Stadtteil Pfaffenthal. Für uns ist die Brücke quasi das Eingangstor zur City.
Auch wenn uns bisher schon einige Sambagruppen am Wegesrand eifrig trommelnd unseren Lauftakt beschleunigt haben, so waren Zuschauer eher rar. Andererseits: In Kirchberg hätte mich alles andere verwundert.
Wie ein plötzlich aufziehendes Sommergewitter kommt mir daher vor, was sich am jenseitigen Brückenende bei km 8,5 auf der Place Robert Schuman zusammen braut: Auf einmal sind sie da, Menschenmassen, unübersehbar, entlang der Straße, um den Platz und weiter gen Norden, die ein Spektakel ohnegleichen veranstalten. Wo die Absperrgitter die Menschen nicht zurück halten, lassen sie nur noch eine schmale Gasse frei. Wer hier keine Gänsehaut bekommt, muss schon sehr abgebrüht sein. Die Anfeuerungsrufe trommeln nur so auf uns ein, dazu tönt laute Livemusik von einer Bühne. Welch eine Wahnsinnsstimmung!
Von hier würde es linker Hand direkt ins Herz der Altstadt weitergehen. Doch wir müssen uns noch gedulden und werden zunächst auf eine 4 km-Runde durch den nördlichen Vorort Limpertsberg geschickt. Limpertsberg: Das bedeutet vor allem gepflegte ältere Reihen- und Mehrfamilienhäuser, ruhig und wenig spektakulär. Doch wirklich ruhig ist es heute nur auf wenigen Straßenpassagen. Immer wieder stoßen wir auf ausgelassene Feiern, große und kleine, mit Getränkeausschank, Nachbarschaftsbuffet oder auch nur mit dem dem privaten Sektglas in der Hand, entlang der Straße oder auch nur auf einem Balkon. Mal steht die Belegschaft eines ganzen Restaurants vor der Tür, mal feiern Jugendliche mit Ghettoblaster feuchtfröhlich ein Happening. Allen gemeinsam ist: leise ist es nirgends. Bis zum nördlichen Rand von Limpertsberg reicht unsere Runde, dort, wo Wiesen und Wälder wieder bis zum Horizont reichen. Dann dreht der Kurs zurück in Richtung Innenstadt.
Kurz vor km 13 endet unsere launige Runde durch Limpertsberg auf dem altstadtnahen Großparkplatz Glacis und - erneut - der Place Robert Schuman gleich dahinter. Auf dem Parkplatz drängen sich entlang des Laufkorridors anstatt der Autos jetzt die Zuschauerreihen und lassen uns mit Ihrer Emotion wie auf einem Triumphzug fühlen. Kaum beschreiben lässt sich der Hexenkessel, man muss ihn erleben.
Kurz darauf tauchen wir ein in dichtes, sattes Grün, in die pure Natur. Am akustischen Rahmen ändert sich jedoch kaum etwas. Menschen, dicht an dicht, säumen die schmalen gewundenen Wege, auf denen wir im Sauseschritt einen Kilometer lang den Stadtpark, der die Altstadt an ihrem westlichen Rand sichelförmig umschließt, durchkurven. Die Vegetation des Parks würde einem botanischen Garten zur Ehre gereichen, man kann auch sie als Ausdruck der Internationalität Luxemburgs interpretieren: von Mammutbäumen bis zu Bambushainen findet man hier Gewächse aus aller Welt.
So plötzlich, wie uns der Park verschluckt hat, so plötzlich entlässt er uns bei km 14. Über die Grand Rue, eine der bekannten Shopping-Meilen Luxemburgs, führt der Kurs direttissima ins Herz der Altstadt. Gäbe es keine Absperrgitter, gäbe es für uns Läufer wohl kaum ein Durchkommen. Wo ich auch bin und hinsehe, drängen sich die Menschen, rufend, schreiend, lachend, feiernd, und machen Stimmung ohne Ende. Sambatrommler in besonderer Dichte heizen die Emotion zusätzlich an. Dermaßen mental gedopt treiben die Zuschauer die Läufer im Schweinsgalopp über das Pflaster, geradewegs hinauf auf den zentralen Place Guillaume II, im Volksmund nur kurz “Knuedler” genannt.
Hier weitet sich die Lauftrasse unvermittelt und teilt sich: Zwei große Rundbögen mit den Schildern “21 km” und “42 km”, dazu ein auffallend smartes Wegweiser-Girl, weisen den richtigen Zugang. Es heißt kurz und schmerzlos Abschied zu nehmen von den Halbmarathonis, die von hier bereits den Rückweg zur Luxexpo antreten.
Schon ein paar Schritte weiter wartet bei km 15 mit der Place d’Armes das nächste Highlight der Strecke. Der Place d’Armes ist quasi das Pendant zum Knuedler: Während jener der Platz der Märkte und Veranstaltungen ist, ist der Place d’Armes der Platz, an dem man Ruhe und Muße sucht und findet, vor allem sich kulinarisch verwöhnen lässt. Keinerlei Berührungsängste gibt es dabei zwischen Lokalen a la McD und echten Gourmettempeln. Ausladende Linden spenden den sich dicht an dicht reihenden Restaurants und Cafes mit weit in den Platz reichendem Freiluftbetrieb Schatten und schaffen eine lauschige Atmosphäre, nicht unähnlich der auf einer großen Piazza in weit südlicheren Gefilden. Das pittoreske Palais Cercle Municipal rundet das Bild ab. Im Hier und Jetzt tobt aber auch hier der Bär. Es sind letztlich nur Momente, die ich über den Platz eile und ihn, eingehüllt in einer Lärmwolke aus Anfeuerungsrufen, Getröte und Getrommel viel zu schnell passiere und auf der Avenue Monterey weiter haste.
Noch ein Weilchen hält der Trubel an. Dann lässt er schlagartig nach. Schon ist bei km 15,5 der Boulevard du Prince Henri und damit der Stadtpark, nur jetzt ein Stück weiter südlich, erreicht. Und da merkt man dann doch, dass Luxemburgs Kapitale ein Kapitälchen ist. Erst hier wird mir auch so richtig bewusst, dass es nicht nur entlang, sondern auch auf der Marathonstrecke schlagartig einsam geworden ist. Kein Wunder, wenn das Läuferfeld um fast 85 Prozent schrumpft. Für Dynamik sorgen jetzt vor allem die Teamstaffelläufer, die noch voll Frische zeigen, was in ihnen steckt.
Wieder auf Stadtparkpfaden merke ich, wie der Adrenalinschub verblasst und blicke einer neuen Realtät ins Auge: Der der Einsamkeit eines Langstreckenläufers. Äuf dem läuferischen Marathonprogramm steht die nächste Vorortschleife: Dieses Mal gilt es, auf 4,5 km Belair zu erobern. Gut mag die Luft, wie der Name suggeriert, ja sein, aber der “Hund begraben” liegt hier auch. Es sind nicht ganz einfache Kilometer, in stetem Hin und Her, Auf und Ab durch friedlich-gepflegte Langeweile. Natürlich gibt es auch hier einige Stimmungs-Hot-Spots, doch bin ich durch das bisher Erlebte schon recht verwöhnt.
Gleichmäßige Qualität bieten stets die Versorgungsstationen, die etwa alle 2,5 km eingerichtet sind und im Wechsel nur Getränke und ein um Bananen, Zitrusfrüchte und Energieriegelstücke erweitertes Programm, bieten: Damit lassen sich auch läuferische Durchhänger gut überbrücken.
Etwa bei km 20 feiern wir ein weiteres Wiedersehen mit dem Stadtpark. Allerdings nur, um uns sogleich zum nächsten Vorortausflug zu verabschieden: Merl und Hollerich sind es nun, die von den Läufern heimgesucht werden. Wobei Heimsuchung angesichts des ausgedünnten Läuferbandes etwas übertrieben erscheint und allenfalls von manchem blockierten Autofahrern so empfunden werden dürfte. Erneut werden wir im wilden Zickzack durch die Gegend gelotst. Jegliche Orientierung geht mir dabei verloren. Andererseits: Der stetige Wechsel der Laufrichtung hat durchaus seinen Reiz und erscheint mir allemal spannender als endlose Geraden. Eine willkommene Abwechslung bietet der hübsche, mit kleinem See im Zentrum angelegte Parc de Merl bei km 25, wo ich nun richtig deutlich merke, wie die Nacht die letzten Reste des Tageslichts vertreibt.
Das Ende unserer Vorort-Odyssee naht. Kurz nach km 27 blicken wir erstmals ins Tal der Petrusse, ein Kilometer weiter leuchtet uns eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt entgegen: Die Pont Adolphe.
Im Zeitpunkt ihrer Erbauung vor 110 Jahren galt sie gar als weltgrößte Steinbogenbrücke. Auf einer Länge von 153 Metern überspannt sie in 42 m Höhe das tief eingeschnittene Petrusse-Tal und verbindet die Altstadt mit dem Bahnhofsviertel. Frisch renoviert und üppig illuminiert ist sie gerade auch in der Nacht ein echter „Hingucker“.
Die Querung der Pont Adolphe bei km 28, nicht über die Fahrbahn, sondern auf einem neuen Weg für Radler und Fußgänger unten durch, läutet ein neues Kapitel unseres Laufs durch Luxemburg ein. Vom tollen Panorama, dass sich von hier tagsüber hinab in den dschungelartig zugewucherten Talgrund, auf die steil daraus aufsteigenden, zum Teil mauerbefestigten Felswände und die in deren Verlängerung spitzhaubig empor ragenden Türme der barocken Kathedrale Notre Dame bietet, haben wir jetzt zwar nicht viel. Aber flackerndes Licht und wummernde Beats von drüben wecken die Neugier. Was ist da denn los? Des Rätsels Lösung lässt noch ein wenig warten.
An der jenseitigen Brückenseite angekommen passieren wir der Kurs zunächst den diese überragenden monumentalen Gründerzeitbau der Staatssparkasse mit seinem markanten Rundturm. An der Sparkasse vorbei drehen wir noch eine kleine Runde um einen Straßenblock, ehe sich unser Weg am Abhang entlang unter die Pont Adolphe absenkt. Und hier laufen wir direkt hinein ein eine Monsterwolke aus Licht und Sound. Ein riesiger Pulk vor allem junger Leute feiert direkt unter der Brücke eine Open Air Party. Und wir laufen mittendurch. Aber das war erst der Anfang.
Am Abhang entlang setzt sich das Gefälle zunächst sanft, zuletzt steil zum Talgrund abfallend fort. Schon auf dem Weg fallen die vielen Lichtpunkte tief im Tal auf. Normal ist das nicht, denke ich mir nur.
Hoch über den Baumkronen taucht die “Passerelle” als weitere innerstädtische Brückenverbindung zwischen Altstadt und Gare auf. Als Viadukt mit 24 Bögen aus Stein gestaltet überwindet sie 45 Meter über uns das Tal. Erst aus der Talperspektive bekommt man einen Eindruck davon, wie mächtig diese Brücke eigentlich ist. Wir tauchen unter der Passerelle hindurch und erreichen kurz darauf das namengebende Flüsschen Petrusse.
Der Petrusse im Talgrund, nun in entgegen gesetzter Richtung folgend, setzen wir unseren Ausflug durch die Luxemburger “Unterwelt” fort. Was das bedeutet, kündet bei km 30 ein großes künstlerisch gestyltes und hell erleuchtetes Gerüst: „Petrusse Party“ lese ich darauf. Beleuchtete Sterne und flackernde Öllampen säumen den Weg, Strahler illuminieren die Passerelle von unten in blau und lila, vorbei geht es an riesigen, von innen leuchtenden Pappmacheinstallationen, einem sphärischen blau leuchtenden Nebel am Horizont entgegen. Das leuchtende Blau rückt näher, ohne dass Konkretes auszumachen wäre. Nur die schweren Beats, die uns aus diesem Nebel entgegen quellen, lassen erahnen, was da abgeht. Und auf einmal sind wir mittendrin: Hunderte feiern und tanzen hier ausgelassen. Und wir Läufer dürfen teilhaben. Zumindest für ein paar Sekunden.
Schon tanzen wir läuferisch weiter, hinaus in die Nacht, auf alle Fälle aber beschwingt und motiviert. Wundervoll ist erneut der Blick auf die Pont Adolphe, die sich über uns wölbend noch gewaltiger wirkt. Gleichermaßen wundervoll ist aber auch die üppige nächtliche Naturszenerie im Tal und nach oben aus dem Tal heraus. Es ist kaum zu glauben: Wir sind hier mitten in der Stadt und doch so fern des städtischen Lebens.
Von hoch oben, von der Place de la Constitucion, die sich wie ein überdimensionaler Balkon in das Tal schiebt, schwappt gleichfalls Feststimmung akustisch zu uns herab. Ohne Zweifel: Für mich ist dieses Teilstück eines der absoluten Highlights des Marathons. Auch wenn sich ein leicht mulmiges Gefühl bei dem Gedanken nicht verhehlen lässt, all das auch wieder empor klettern zu müssen .....
Aber: Der Ausstieg aus der Schlucht ist letztlich halb so wild. Auf einem schmalen Naturweg folgen wir dem Talverlauf und gewinnen dabei moderat, aber stetig an Höhe. Zuletzt ein kurzer Wegeslalom und schon stehen wir bei km 32 an der Place Merckels.und damit am Rande des Bahnhofsviertels “Gare”.
Eine 2,5 km-Runde durch dieses Viertel, quasi das innerstädtische Gegenstück zur Altstadt auf der anderen Seite des Petrusse-Tals, steht nun an. Während die Straßen drüben eng und verwinkelt sind, die Häuser sich dicht an dicht reihen, herrscht hier großbürgerliche Großzügigkeit: die Boulevards sind breit, die reich verzierten Jahrhundertwendehäuser wuchtig, teilweise geradezu protzig. Neben dem bereits passierten Gebäude der Staatssparkasse sticht der historische Verwaltungssitz von ArcelorMittal, seines Zeichen größter Stahlproduzent der Welt, ins Auge.
Auch in Gare werden die Läufer zuschauerseits bereits erwartet. Vor allem in Bahnhofsnähe nimmt der Lärmpegel und die Stimmung am Streckenrand beträchtlich zu. An das Hexenkesselfeeling in der Altstadt kommt das aber nicht heran. Gleich hier, bei km 33,3 ist zudem der letzte Wechselpunkt der Teammarathonläufer eingerichtet.
Am Ende unserer Runde durch Gare erreichen wir bei km 34,5 wieder die “Passerelle”, nur eben nun auf der Oberseite. Ein wenig wehmütig blicke ich tief nach unten, hinab in dieses in der Dunkelheit versunkene Idyll, in diese Gegenwelt Luxemburgs, aus der in der Ferne noch der blaue Nebel leuchtet.
Auf dem Boulevard F.D. Roosevelt folgen wir auf der Altstadtseite dem Verlauf des Petrusse-Tals. Vorbei an der Kathedrale Notre Dame erreichen wir die Place de la Constitution, jenen Ort, von dessen Feiertauglichkeit ich schon im Tal einen Vorgeschmack bekommen konnte. Einmal dürfen wir ihn umrunden. Vornehmlich Jugendliche haben den Platz als ihr Feierrevier auserkoren und lassen alkoholenthemmt so richtig “die Sau raus”.
Von hier geht es für uns nun wieder direkt hinein in die winkeligen Gassen der Altstadt, diesmal auch vorbei am Palais Grand-Ducal, der Stadtresidenz der großherzoglichen Familie. Und was ich hier - abermals - erleben darf, ist schwer in Worte zu fassen. Die ganze Altstadt scheint in eine einzige Party-Zone verwandelt zu sein. Ich kann kaum glauben, wie viele Menschen am Streckenrand harren, nur um jeden Läufer persönlich anzufeuern. Diese Emotion, diese Euphorie - wohl noch nie habe ich etwas in dieser Ausprägung bei einem Marathon so erlebt. Auch bei mir zeigt das Wirkung. Gerne lasse ich mich davon anstecken, vergesse zumindest für eine Weile meine schweren Beine und lasse mich durch die Gassen tragen, mache übermütig jede Menge Fotos, obwohl sie in der Dunkelheit alle unscharf werden. Wie im Flug vergehen die Minuten, viel zu schnell. Kurz wird es am Rande der Altstadt, am Stadtpark entlang, etwas ruhiger, dann, wie ein letzter Paukenschklag, tobt die Party noch einmal am Place Robert Schumann. Und verklingt langsam im Hintergrund, als wir bei km 37 auf die “Rote Brücke” zur finalen Geraden durch Kirchberg einlaufen.
5 km liegen noch vor uns, nur 5 km, und doch sind es ungemein schwere Kilometer. Es ist Nacht, es ist einsam, auf der Straße, an der Straße. Und es geht aufwärts, nicht allzu sehr, aber unerbittlich. Ich erinnere mich: 2011 war es, als ich just hier auf den damaligen Star der Veranstaltung getroffen bin. Und der war nicht etwa eine der flinken Gazellen aus Ostafrika, sondern der damals 100-jährige Fauja Singh, ein rauschebärtiger turbantragenden indischer Sikh, der mit seiner Entourage, darunter Joey Kelly, auf der letzten Teiletappe des Teammarathon still durch die Nacht dem Ziel entgegen gezogen ist. Was aus ihm wohl geworden ist? Unter den Lebenden soll er jedenfalls noch weilen.
Ich ziehe weiter, allein im Kampf mit den letzten Kilometern. Nein, wirklich Spaß macht das Laufen nicht mehr, da helfen auch kein Sambagetrommel in finsteren Nacht und keine Discobeats, die uns immer wieder Motivationshilfe sein sollen. Von der Avenue John F. Kennedy zweigen wir ab auf den Boulevard Pierre Frieden, jene Straße, auf der unser Marathon begann und wo die Einsamkeit noch ein wenig größer wird.
Wie eine Erlösung ist es, als am Horizont die Lichter des Messegeländes auftauchen und langsam näher rücken. Dann: Die letzten Kurven. Ich biege ein in eine eingezäunte, mit Öllampen illuminierte Passage. Noch eine Biegung und vor mir liegt mystisch leuchtend der Zugang zur Messehalle.
Ich passiere das Tor. Das einzige, was ich zunächst wahrnehme, sind grelle Scheinwerfer am Streckenrand und ein den Raum zur Gänze füllendes tiefes Blau. Donnernder Lärm schlägt mir entgegen, eine Melange aus Geklatsche, Gejohle, Musik. Erst jetzt, in der Schlusskurve durch die Halle erkenne ich weitere Details: Bunte, rotierende Scheinwerfer, Kunstnebel, Fahnen, dicht gedrängte Menschen, wohin man schaut, eine große Leinwand mit Liveübertragung aus dem Zielbereich dahinter. Der Empfang ist begeisternd, persönlich werden die Ankömmlinge vom Zielsprecher begrüßt, wie im Rausch erreiche ich das Ziel. Wow! Was für ein Finale.
Ich komme mir vor wie in einer Riesen-Disco. Es wird gefeiert. getrunken, gegessen. Es ist 23:30 Uhr und die Halle ist knallvoll. Die erfolgreichen Ankömmlinge mischen sich unter die Zuschauer. Ich bleibe noch ein bisschen, denn ich weiß: So ein mitreißendes Marathonfinale nach einem nicht minder mitreißenden Marathonlauf werde ich wohl so schnell nicht wieder erleben. Wenn es das Prädikat „Party-Marathon“ zu vergeben gäbe: Luxemburg wäre ein würdiger Träger. Da können andere sich des Feierns rühmende Veranstaltungen „einpacken“.