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Laufberichte

Kasseler sind Klasse

10.06.07
Autor: Klaus Duwe

„Hinten ist die Ente fett.“

 

Als ich vor über einem Jahr zum ersten Mal von dem Projekt „Marathon in Kassel“ hörte und von den Problemen, die Winfried Aufenanger damit hatte, glaubte ich nicht an einen Erfolg. Aber der Polizeihauptkommissar zog die Diskussion über das Für und Wider geschickt in die Öffentlichkeit und gewann immer mehr Freunde und Unterstützer für „seinen“ Marathon. Als er dann auch noch von dem ursprünglichen Mittsommernacht-Termin (24. Juni), der mit der documenta zusammen gefallen wäre, abrückte, gingen der „Gegenseite“ die Argumente aus und der Weg war frei.

 

Mit dem bewährten Citylauf-Team und engagierten Sponsoren (allen voran der Titelsponsor E.ON Mitte und Messe Kassel) begann die Vorbereitung auf das Event, das auf Anhieb 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Kassel bringen sollte, so jedenfalls schwebte es Aufenanger vor.

 

 „Na, ja“, wird so mancher gedacht haben, „lass’ es mal 4.000 werden.“ Skepsis war angesichts der Zielvorstellung durchaus angebracht. Der Marathon-Terminkalender ist (nicht nur) im Juni voll und, mit Verlaub, Kassel ist nicht gerade der Nabel der Welt. Dass außerhalb des euphorisierten Umfeldes jemand nach einem Marathon in Kassel geschrien hätte, will auch heute niemand behaupten.

 

Nur von wenigen Veranstaltern in Deutschland kenne ich eine ähnlich professionelle Öffentlichkeitsarbeit, wie sie in Kassel von Anfang an praktiziert wurde. Im Schnitt einmal pro Woche wurden vom PR-Spezialisten Michael Küppers „Wasserstandsmeldungen“ und News an die Presse gegeben und so die Suppe am Köcheln gehalten. 

 

Erstaunliche 2.600 Anmeldungen waren bereits bis Februar eingegangen, verteilt auf Marathon, Halbmarathon, Skaten und Walking. Bis Mai wurde diese Zahl noch einmal fast verdoppelt. Mittlerweile wunderte ich mich nichts mehr. Ich hatte Einblick gewonnen in die Professionalität und Zielstrebigkeit und traute dem „Aufi-Team“ nun alles zu, auch 6.000 Teilnehmer. Und ich wollte dabei sein.

 

Als historische Hauptstadt von Hessen sehen die Kasseler ihre Stadt, denn von 1277 bis 1866 hatte sie alle Funktionen einer solchen. Heute ist Kassel Sitz des gleichnamigen Regierungsbezirks und des Landkreises. Geblieben sind aus besseren Zeiten unter anderem das Schloss Wilhelmshöhe und der Herkules.

 

Der Herkules, das Wahrzeichen der Stadt, steht auf dem Gipfel des Karlsbergs (550 m). Die Idee, hier Terrassengärten und den offenen Säulentempel zu errichten, hatte Landgraf Karl bei einer Italienreise. Ein Italiener, Giovanni Francesco Guerniero, sollte den Plan realisieren und 1717 war das gigantische Bauwerk mit insgesamt 71 Metern Höhe fertig. Die Herkulesfigur alleine ist 8,25 m hoch.

 

Zurzeit finden umfangreiche Renovierungsarbeiten statt, Gerüste verunstalten den Bau und die Figur ist überhaupt nicht zu sehen. Bis 2011 sollen die Arbeiten dauern, Kassel feiert dann den 5. Marathon. Oder wie wär’s damit, den renovierten Herkules mit einem Treppenlauf einzuweihen? Idealer wie hier kann man so was nicht durchführen. Rechts und links der Kaskaden, die vom Herkules in den Schlosspark führen, sind nämlich breite Treppen angelegt und man könnte einen schönen Rundkurs laufen. Oder hatte schon jemand die Idee? Ich sehe nämlich einen Jogger, der tatsächlich im Laufschritt die Treppen hoch keucht und sich ohne Pause gleich auf der anderen Seite wieder in die Tiefe stürzt.

 

Ohne Gerüste, dafür mit weißen Partyzelten, präsentiert sich das Schloss Wilhelmshöhe, 1786-1798 nach Entwürfen unter Landgraf Wilhelm IX., dem späteren Kurfürst Wilhelm I., erbaut. Heute ist hier Etappenziel einer Oldtimer-Rally. Das Schloss gibt für die teuren Gefährte eine ideale Kulisse ab. Ich begegne einigen unerfüllten Jugendträumen und fühle mich plötzlich selber ziemlich alt. Morgen, der Marathon, ist ja auch eine Art Oldtimer-Rennen, denn die meisten Teilnehmer sind bestimmt wieder über 40 – und je älter der Läufer, desto mehr Beifall gibt es unterwegs. Hier ist das genau so.

 

Die Marathonmesse beginnt schon am Freitag. Ob sich das gelohnt hat, kann ich nicht beurteilen, am Samstag herrscht allerdings schon am Vormittag viel Betrieb. Auch hier zeigt sich das professionelle Management der Veranstalter, denn so viele Aussteller findet man selten. Alles ist hier zusammen gefasst – Startnummernausgabe, Pasta-Party und morgen das Kleiderdepot. Parkplätze gibt es auf einem Messegelände in der Regel auch genügend, das Problem am Marathontag ist eher die Anfahrt.

 

Ab 7.00 Uhr werden in Kassel die betroffenen Straßen gesperrt. Dem Fremden hilft da auch kein Navi. Die Helfer kommen teilweise von außerhalb und können keine Auskunft geben. Irgendwann sehe ich vor mir ein Auto, das der Aufschrift nach ein Shuttlefahrzeug des Veranstalters sein könnte. Da alle Polizeikräfte anderweitig beschäftigt sind, trete ich ungestraft das Gaspedal kräftig durch und hole den Skoda ein. Der bringt mich dann tatsächlich direkt vor die Messehalle.

 

Jetzt habe ich alle Zeit der Welt und kann mich auf einen schönen Tag freuen. Hektik am Morgen kann ich nicht gebrauchen. Gestern Mittag ging ein kräftiger Regen mit Hagel nieder und auch in der Nacht es noch einmal geregnet. Die Temperaturen sind mit 16 Grad ideal, aber der Blick zum Himmel verspricht mehr, viel mehr …

 

Die Skater sind auf der Strecke, die Marathonis im Startblock versammelt. Die Stimmung ist super. Man merkt an der Nervosität und Unsicherheit, dass viele Läuferinnen und Läufer zum ersten Mal an einer solchen Veranstaltung teilnehmen. Die Startpistole ist mit dem Flugzeug unterwegs zur Messe, Überbringer wird ein Fallspringer sein. Der landet auch punktgenau, nur nicht ganz pünktlich. So geht es mit ein paar Minuten Verspätung auf die Strecke.

 

1.608 Marathonis, 2.699 „Halbe“ und 175 Staffelläufer rennen los, durch die Fuldaaue in Richtung Waldau. Dieser Stadtteil hat so gar nichts Städtisches an sich, die schmucken Fachwerkhäuser vermitteln eher einen ländlichen Eindruck. Aber verschlafen ist man hier keinesfalls, im Gegenteil. Ich traue meinen Augen und Ohren nicht, was so früh am Morgen hier los ist. Mit Ratschen und anderen Lärmutensilien machen die vielen Zuschauer den Läufern Beine. Damit habe ich nun überhaupt nicht gerechnet und auch viele andere Läufer schütteln ungläubig den Kopf, als sie die unterschiedlich bestückten Frühstückstafeln am Straßenrand sehen.

 

Das große Starterfeld hat sich längst verteilt, jeder findet seinen Rhythmus und hat seinen Spaß, soweit er sich nicht mit einer engen Zeitvorgabe selber unter Druck setzt. Zu empfehlen sind solche Tempoläufe bei den zu erwartenden Temperaturen ja nicht, aber es gibt immer welche, die es besser wissen. Über 300 Hilfsleistungen werden die Sanitäter im Laufe des Rennens erbringen, ernsthafte Zwischenfälle bleiben zum Glück aus.

 

Im Industriegebiet in Bettenhausen bei km 7 hat man strategisch günstig einen  Verpflegungspunkt installiert, an dem sich ebenfalls viele Zuschauer versammelt haben. Die Feuerwehr beginnt schon hier, mit kalten Duschen Überhitzungen vorzubeugen.

 

Bei den ersten Verpflegungsstellen zeigt sich ein kleiner organisatorischer Mangel. Die Tische befinden sich nur auf einer Seite und das Gedränge ist da natürlich groß. Später sind sie teilweise auch beidseitig postiert, aber unterschiedlich bestückt und man weiß nicht, wo es was gibt. Da rennen dann welche von der Wasserstelle rechts zu den Isogetränken nach links, was selten ohne Behinderungen abgeht. Kleinigkeiten, die man beim nächsten Mal problemlos abstellen wird.

 

Die Hafenbrücke (km 8) bringt uns über die Fulda und Richtung Stadtmitte. Vor uns sehen wir die Doppeltürme der Martinskirche, Predigtstätte des Bischofs der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden hier die hessischen Landgrafen beigesetzt.

 

Von der Holländischen Straße (km 9) geht es links in Mombachstraße, wo kurz nach km 10 der Staffelwechsel ist und neben den Ablösungen auch viele Zuschauer versammelt sind. Bis hier hin machen die Kasseler ihrem Marathon alle Ehre. Und es geht weiter so. Auch in der Wolfhager Straße (km 11) sind in Abständen immer wieder große Zuschauergruppen versammelt, die die Läuferinnen und Läufer anfeuern. Man spürt es, Aktive und Publikum haben ihren Spaß, der Marathon ist in Kassel angekommen. Es ist einfach toll hier.

 

Es geht unter und über die Bahnlinien und nach einem Drittel der Strecke laufen wir auf der Breitscheidstraße Richtung Innenstadt. Viele Zuschauer rechts und links feiern die Läufer, auch auf der langen Friedrich-Ebert-Straße (km 15). Britta macht ihren ersten Marathon und ist nur am Genießen. Sie macht alles richtig und läuft stur ihr Tempo, weder das Publikum noch die schnelleren Laufkameraden können sie zu einer Beschleunigung verleiten. Ich ermutige sie, so weiter zu machen, „abgerechnet wird am Schluss.“ „Genau,“ meint die 21jährige, „hinten ist die Ente fett.“ Stimmt, am Ende bin ich vor ihr im Ziel, sie ist aber vor mir platziert, der Nettozeit sei es gedankt.

 

Genauso passiert es mir mit Hans „Schneggi“ Drexler. Hier ist der Prof. noch gut drauf, könnte ganz Kassel umarmen. Später wird es ihm zu warm, er lässt mich erst vorbei und dann davon laufen. Später freut er sich über seine Nettozeit, die ihm eine Platzierung vor mir einbringt. Glückwunsch, Schneggi, mich schlägt man schließlich nicht alle Tage.

 

Links geht es jetzt zum Rathaus in die Königsstraße. Jubel und Begeisterung erreichen hier ihren bisherigen Höhepunkt. Cheerleaders, Musik und ein gut gelaunter Speaker unterhalten das Publikum und feuern die Aktiven an. Noch ein Stück geht es durch die belebte Kasseler Geschäftsstraße, dann passieren wir das Fridericianum, das seit der Fertigstellung 1779 die von den hessischen Landgrafen gesammelten Kunstgegenstände beherbergt und damit eines der ersten öffentlichen Museen in Europa war. Nach einem kurzen Abwärtslauf sind wir an der unter Landgraf  Karl 1703 – 1711 erbauten Orangerie in der Karlsaue.

 

Blickt man zurück, sieht man das documenta-Kunstwerk „Rahmenbau“ des Künstlerkollektivs Haus-Rucker-Co (1977). Das Werk besteht aus zwei Rahmen, einem aus Stahlgitter, 14 x 14 Meter groß, und einem aus Messing, 2,80 x 2,80 Meter groß. Damit werden zwei verschieden große Landschaftsansichten eingerahmt. Die Künstler wollten mit ihrem Werk die schon immer sichtbar gewesene Landschaft zu einem bewussten Wahrnehmungsfeld machen.

 

Wenig später stoßen wir auf ein weiteres documenta-Kunstwerk, das in Kassel verblieben ist und zu den wenigen gehört, die von der Bevölkerung begeistert angenommen wurde: die überdimensionale „Spitzhacke“ von Claes Oldenburg (1982).

 

Die alle fünf Jahre stattfindende documenta gibt es seit 1955. Im gleichen Jahr fand die erste Bundesgartenschau in Kassel statt, 1981 die zweite. Ihr haben die Kasseler die Fuldaauen, dieses herrliche, stadtnahe Erholungsgebiet, zu verdanken. Während auf der Fulda gerudert oder gepaddelt wird, sich die „Halben“ zum Endspurt bereit machen und die Marathonis sich mental auf die zweite Runde vorbereiten, sitzen in den vielen Cafés und Kneipen die Leute im Schatten bei Weizenbier, Sekt oder Kaffee im Schatten, geizen aber nicht mit Applaus und Anerkennung.

 

Schon einen Kilometer vor dem Zielbogen werden die Laufbahnen eingeteilt: Marathon links zur zweiten Runde, Halbmarathon rechts. Die Zuschauer stehen dichter und als wir die Zielnähe erreichen, glaubt man sich in einer Fußballarena. Rechts und links drängen sich die Zuschauer an den Absperrungen, die Tribüne die proppenvoll und der Jubel und der Applaus kennen keine Grenzen. Sagenhaft - Kasseler, ihr seid Klasse.

 

Auf geht’s in Runde zwei. Nicht nur das Läuferfeld ist jetzt deutlich ausgedünnt, auch die Zuschauer werden weniger. Aber sie sind da, feiern die Marathonis wie die Helden. Es macht Spaß, auch wenn die Hitze jetzt deutlich zunimmt. Alle 2 – 3 Kilometer gibt es Wasser, ungefähr alle 5 Kilometer dazu Iso, Äpfel und Bananen. Dazwischen gibt es an vielen privaten Wasserstellen Erfrischendes aus Schläuchen, Eimern und Bechern. Alle 20 Minuten tauche ich meine Kopfbedeckung ins Wasser, trinke und laufe weiter. Jetzt spürt man jede Bodenwelle, jede Steigung. Es gibt davon einige, die Kasseler Strecke ist nicht eben.

 

Cheerleaders, Trommler und andere Musikanten erweisen sich marathontauglich, alle sind unermüdlich im Einsatz. Die Duschen der Feuerwehren werden immer häufiger in Anspruch genommen und manche Läufer sehen aus, als hätten sie eben in der Fulda getaucht. Die Stimmung in der Stadt ist noch immer super und die Anfeuerungen auf den letzten Kilometern in den Fuldaauen tun gut.

 

Kriegen die Zuschauer heute gar nicht genug? Im Ziel herrscht noch immer Fußballatmosphäre, unglaublich. Ich lasse die Kamera in der Tasche und bin nur am Genießen. Augen zu, Arme ausgebreitet, fast schwerelos lasse ich mich auf der Begeisterungswelle ins Ziel tragen.

 

Es gibt Marathon-Strecken, die sind schneller zu laufen. Es gibt Städte, da gibt es mehr zu sehen. Es gibt Marathons mit mehr Zuschauern und mehr Musik. Aber es gibt nur ein Kassel. Und das ist schön. Mir hat es gefallen, sehr gut sogar.

 

Informationen: Kassel Marathon
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