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Laufberichte

In meinem Blut werfen die Endorphine Blasen

14.06.08

Der Mythos Biel. 50 Jahre alt. 100km jung. Die „Nacht der Nächte“.

Für mich persönlich vor einigen Jahren aus einer verrückten Idee bei Kaffee und Kuchen geboren, inzwischen schon „fast“ zu meinem Standardprogramm geworden. Es sollte mein 3.ter Lauf werden.

Zur Geschichte: 1959 Punkt Mitternacht starteten in Biel 35 Läufer zum ersten 100-km-Lauf Europas. Seither gab es jedes Jahr einen Lauf in Biel ohne Unterbrechung. In den 80er Jahren wurden dann Teilnehmerrekorde von etwas mehr als 4.500 Läufern aufgestellt. Ein Rekord, der in diesem Jahr wieder eingestellt wurde mit mehr als 5100 Teilnehmern, davon mehr als 2300 Klassierte im 100km Lauf. Ergänzt werden diese durch neue Angebote: 100 km Team Stafette, 100 km Sie und Er, 100 km Militär-Wettkampf, Marathon, Halbmarathon, Walking.

Das Schöne ist, wenn man schon mehrere „Bieler“ erleben durfte, dass man sich noch länger und intensiver auf die Stunden freuen kann. Die Herausforderung dabei bleibt, dass es keinen 100km Lauf ohne Krise(n) gibt, die es zu bestehen gilt. Das sind Endorphine pur!  

Nur das Wetter machte mir einige Sorgen. Gerade in der Woche vor dem Lauf bestimmte Regen, Gewitter und Kälte die Zuger Seeregion und 120 km westlich am Bieler See sah es – gemäss Wetterberichten – nicht viel besser aus. Da ich mit den Jahren doch recht wasserscheu geworden bin (vor allem wenn man dann auch gute 10 Stunden unterwegs ist) hatte ich meine Teilnahme nur „unter Vorbehalt“ im Kopf abgespeichert, das Trainingsprogramm wurde aber trotzdem auf das Fahrradfahren und Schwimmen reduziert. Am Montag dann der Lichtblick: die Nacht wird als „sternenklar“ in der Prognose angezeigt, mit Sonnenschein am Freitag. Der Beschluss ist gefasst – Biel, ich komme!

Freitag, Tag der Tage vor der Nacht der Nächte. Ausschlafen. Der Nachmittag wird mit hochgelagerten Füßen auf dem Sofa verbracht, es fehlt nur das Glas guter Rotwein…. Den verspreche ich mir für „danach“. Die Marschtabelle wird nochmals an Freunde gemailt mit der Hoffnung, zusätzliche moralische Unterstützung an der Strecke zu gewinnen. Die Endorphine haben schon lange Überhand gewonnen. Ruhepuls ist deutlich zu hoch, aber was solls. Gegen 18:00h stürzen wir uns in den Berufsverkehr Richtung Biel.

Startnummerausgabe: ein vertrautes Bild in der Eissporthalle, die Formalitäten sind schnell erledigt. Ein Blick auf die Großleinwand, auf der das EM Spiel übertragen wird. Ich wage eine Prognose, dass wir auch dieses Jahr von den Spielergebnissen unterrichtet werden, wie bei der WM vor zwei Jahren. Es geht zurück zum Auto auf den provisorischen Parkplatz, Umziehen und noch eine letzte Mütze voll Schlaf vorholen.    

Naja. Zumindest ein wenig Dösen bis ca. 21.00 h, dann beginnt wie immer die Last-Minute-Hektik: Trinkgürteltasche zur Probe tragen - zu viel Gewicht? Proviant für die erste Teilstrecke nach Lyss einteilen, die Stirnlampe nur zur Sicherheit dabei und das Handy. Das muss reichen. Reicht mein kurzes Trikot?“ – Nein. Ich entscheide mich für das lange Lauftrikot, der Wind hat aufgefrischt und ist doch ganz nett kühl geworden. Die Vorhersage für die Nacht bestätigt die Wahl, es sind 8 Grad angesagt. 

Um 21:15h besammeln sich die ersten Velobegleiter, so viele wie dieses Jahr habe ich noch nie gesehen. Kurz vor 21:30h, dem Start der Begleiter, kommt nochmals kurze Hektik auf. Unser Licht geht nicht, zum Glück war nur das Kabel vom Dynamo nicht richtig fixiert. Die Läufer schicken die Begleiter mit einem Startapplaus raus in die Dämmerung.


Pünktlich um 22:00h entlässt uns der Startschuss in die kühle Frühlingsnacht. Von meinen Laufkollegen und Bekannten, die sich auch angemeldet haben, leider keine Spur. Es scheint, dass auch mehr Läufer den 100km-Part bestreiten. Wir werden in die Menschenmenge in der Stadt entlassen. In den bekannten Highlights der Stadt war wie immer die Hölle los, Zuschauer dicht an dicht, auch wenn der Rest der Strecke dünner besetzt war als in den früheren Jahren. Es gilt, möglichst viele Kinderhände abzuklatschen.

Der Anstieg nach Jens läuft flüssig, ich liege etwas deutlicher als geplant vor meiner Marschtabelle. Aarberg, km 18 um 23:30h. Die Holzbrücke ist wie jedes Jahr ein sehr bestimmender Ort. Die Brücke ist noch gut besetzt, der Marktplatz ebenfalls und die Stimmung war klasse. An der Verpflegungsstelle traf ich zum ersten Mal meine Begleitung und meine Belohnung – Gel in Geschmacksrichtung ErdbeerBanane. Nach kurzer Pause weiter, wieder hinaus in die Nacht. Bei Lyss dürfen die Radfahrer dann offiziell zu den Läufern stossen und sie begleiten. Kurz vor Mitternacht kommen die ersten SMS mit den besten Glückwünschen an; ich nehme mir die Zeit Sie laufend auf der Strecke zu lesen.  

Die Schönheit an Biel liegt in der bunten, blinkenden Lichterschlange, die sich durch die Landschaft schlängelt. Unterwegs hatte ich eine angenehme Mischung aus Unterhaltungen von Läufern, die in der Gruppe oder mit Begleitung unterwegs sind, und die Ruhe der Nacht. Nur wenige Laufsport-Events können da mithalten. Berlin, London, New York oder sonst wo – man übersieht gerne, dass es da in der Schweiz einen Lauf gibt, der etwas Einzigartiges darstellt und all diese Marathons vom Erlebniswert übertrifft.

Der Abschnitt von Ammerzwil bis Etzelkofen zählt für mich zu den schönsten Abschnitten. Die Strecke ist gut einsichtbar, von den Hügeln ein gigantischer Blick auf das Gelände, nur der Mond versteckt sich heute etwas hinter den Wolken, was der Stimmung aber nicht entgegenwirkt. Er verschwindet dieses Jahr aber leider auch etwas früher hinter dem Horizont. Aber seit Udo Lindenberg weiss man ja…. Dahinter geht’s weiter! 

Bis km 56, die zweite Teilstrecke mit Verpflegung in Kirchberg. Hektik bei den Verpflegungszonen ist nicht angesagt. Ich lasse mir hier besonders viel Zeit für einen Tratsch. Dieser Lauf entscheidet sich ganz bestimmt nicht an den Verpflegungsposten sondern – auf der Strecke.

Kilometer 56 bis 65. Hoh-Chi-Minh-Pfad. Es gibt immer noch Läufer die ohne Lampe auf die Strecke gehen. Ich werde Zeuge von zwei Stürzen, die jedoch glimpflich ausgehen. Jeder Läufer riskiert hier eine Verletzung, die 80 Gramm Lampe sind es nun wirklich wert, auch über 100km getragen zu werden, auch wenn es nur für diese Teilstrecke wirklich nötig ist. Dunkelheit, die knorrigen Wurzeln, die spitzen Steine, andere Unebenheiten und noch viel mehr. Ich fühlte mich sehr gut, deutlich besser als vergangenes Mal, so dass ich diesen Pfad in einem guten 5:45 Schnitt schaffte.

Am Ende des Pfades erwarten uns wieder die Begleiter, welche von Kirchberg bis Wiler getrennt von uns fahren dürfen. Kilometer 65. Die letzten 35 Kilometer erwarten uns.

Vor Gerlafingen, die Verpflegung bei km 68. Die Dämmerung klopft an die Nacht. Die Vögel im Wald und auf den Wiesen versuchen sich zu übertreffen. Und uns anzufeuern. Hinter Gerlafingen wurde es dann schon hell, irgendwann hatte es angefangen, mit jedem Schritt heller zu werden.

Km 70. Lohn. Von nun an geht die Strecke stetig bergauf – nach der Verpflegung in Lohn – und „gipfelt“ den Aarberg bei Bibern. Ich muss zugeben, nicht unbedingt meine Lieblingsstrecke der vergangenen Jahre.

Die Strecke gibt sich Mühe, mir zu gefallen. Ich werde Sie von nun an wohl ein wenig schöner in Erinnerung behalten. 

Bibern, Kilometer 77. 3.te Teilstrecke und die letzte Möglichkeit in den Bus zu steigen. Ich denke keine Sekunde an eine Möglichkeit, auszusteigen.

Informationen: Bieler Lauftage
Veranstalter-WebsiteErgebnislisteFotodienst HotelangeboteOnlinewetterGoogle/Routenplaner

Nur das linke Knie meldet sich. Mein Verstand ermahnt mich und erinnert mich an meine Vorsätze: nicht unter Schmerzen zu laufen. Also gilt es: Gehen. Auf dem Asphalt und joggend erinnerten mich meine Knie auch auf den flachen Teilstücken und mahnten zur Langsamkeit. Also weitere Gehpausen. So konnte es nicht weitergehen... 

Das km 80-Schild leuchtete zur Begrüssung in der Morgensonne. Diesmal kein „rollen lassen“. Dafür werde ich von verschiedenen Läufergruppen „überrollt“. Trotzdem versuche ich, mich von meinem Ziel zu überzeugen. Es gilt, vor 9:00 Uhr in Biel anzukommen.

Blauer Himmel und Sonnenschein trägt mich – trotz der vielen Gehpausen – zur Verpflegungsstelle in Büren (km 86,5). Die Aare glänzt im frühen Morgenlicht und lädt zum Sprung ins kühle Nass.

Trotzdem nochmals die erwartete Krise. Ich denke nicht mehr ans Laufen?!? Die Uhr zeigt kurz vor 8 Uhr morgens an. Das Ziel, vor 9 Uhr anzukommen, ist aber noch erreichbar.  Ich lege trotzdem Fotopausen auf den Brücken über die Aare ein und kann mich langsam dazu überreden, weiterzulaufen. Ich warte geduldig ab, bis die Schlussstrecke wieder über Naturboden führt und plane, danach das letzte Teilstück durchzulaufen und in der geplanten Marschtabelle von 5:50. geplanter Schluss-Sprint könnte man sagen.

Das, obwohl mein „Albtraum“ Pieterlen auf mich wartet. Die Laufstrecke in den Wald hinauf. Man kann darüber lächeln, wenn man ihn sonst, die restlichen 364 Tage im Jahr sieht. Doch mit 94 kilometern in den Knochen ist das ein ziemlich steiler „Berg“. Doch wie gesagt, alles Naturboden und wie Samt zu meinen Knien, die sich beruhigt haben.    

Verpflegungsstelle Pieterlen, km94.

Die letzte Verpflegungsstelle (km96,5) liess ich links liegen. Die Waldstrecke ist recht hügelig, doch ich kann problemlos diese durchdrücken. Keine Muskelkrämpfe in Sicht, so dass ich den letzten 4 Kilometern gelassen entgegenschauen kann und das Tempo weiter verschärfe. Ich überrolle wieder viele bekannte „Gesichter“ der letzten Stunde, Läufer die nun Ihrem Tempo und der Wegstrecke Tribut zollen und ihrerseits Gehpausen einlegen müssen. Kilometer 97. Der Countdown kann beginnen. Es „fägt“ wie man so schön auf schweizerdeutsch sagt. Ich „schwebe“ wie auf einer Wolke Richtung Ziel. Kilometer 98,5. Nun verlassen wir den Wald Richtung km 99. Zunächst noch die obligate „Baustelle“, die bis Kilometer 99 geführt.

Diesmal kein Pflichtfoto, aber ein erlösender Schrei, den ich dem Kilometer 99 entgegen rufe. 

Der letzte Kilometer. Einige hundert Meter geradeaus. 100 Kilometer können so kurz sein. Die Zuschauermenge (meist Begleitungen und Läufer, die schon am Ziel angekommen sind) erwartet uns. Geschafft.  

Am Ziel die obligate Medaille (sorry für die Läufer die zu spät angekommen sind und keine mehr bekommen haben). Die Bank in der Sonne. Eine Coca-Cola als Belohnung. Der Austausch mit den Läuferkollegen, die den Lauf miterleben durften. Glück und ein Strahlen, wie man es nur nach einem Marathon in den Gesichtern lesen darf. 

Für das T-Shirt musste man dieses Jahr lange anstehen; eine Mühe die sich aber gelohnt hat, nachdem wir erfahren mussten, dass leider nicht alle Läufer eines bekommen haben. Die obligate Dusche und zurück zum Auto, Richtung Heimat. Bis auf die Medaillen und Shirt eine perfekte Organisation des Komitees, dass man nicht oft genug loben kann. 

Der Tag danach.

Relaxing und Belohnung. Pizza und Bier am Zuger See, 2 Stunden in der Sonne liegen auf dem Steg. So lässt es sich aushalten. Als Ausgleich wird Velo gefahren. Für 2 Stunden geht’s dann noch in die Therme und Sprudelbad zur Massage. Am Abend in Zug ist dann Zythturm-Triathlon, wir feuern die schweizer Juniorinnen an und wünschen viel Glück für Seoul. 

Der Abend danach

Eigentlich geht’s mir blendend. Mittlerer Muskelkater am Zwerchfell, leichte Schmerzen am Knie, wenn ich versuche durchzubeugen. Das bekannte „Rückwärts geht es bedeutend besser“ Gefühl besonders beim Treppensteigen. Ich verfluche die 3 Stockwerke zuhause und entscheide mich trotzdem für die Hängematte im Dachgeschoss. Die Sehnen und Bänder in den Füssen und Beinen sind doch recht steif geworden. 

Die Katzen versuchen daraus Erfolg zu schlagen, greifen im Bett liegend meine Füsse an – dabei kann ich mich wirklich nicht mehr wehren.

Zeit zur Flucht. Am Sonntagmorgen geht’s mit dem Flieger nach Tokyo, das bedeutet, dass ich mich mindestens 10 Stunden nicht bewegen muss und dabei noch bedient werde… SWISS sei dank.

Ein paar „Dankeschöns“: an meine Velobegleitung Brigitte, die Anfeuerungen per mail von Aschi, Olivia, Nadja, von Herrn Both per SMS, mit Regula an der Strecke. Es ist nämlich sehr viel schwieriger 100km in der Nacht zu begleiten oder einige Stunden einen Läufer abzuwarten, als selbst zu laufen. Und ein globales DANKE geht an die vielen Daumendrücker - Ihr seht, es hat wieder geholfen. Das Ergebnis (10:55:33 h) ist unwichtig, die Parole heisst: Spass haben und ankommen

Was bewegt jemanden, Biel zu Laufen? Was bleibt? Während des Laufes kommen sicherlich bei jedem Läufer die Gedanken „wofür?“. Zweifel sollten aber nicht aufkommen. Obwohl die 100km für Füsse, Knie und die Zwerchfellmuskulatur eine sehr hohe Belastung darstellen: Biel ist ein Erlebnis. Die Organisation ist Klasse, mit wirklich sehr moderaten Startgebühren (trotz der vielen Kritiken dieses Jahr, welche ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann.)

Wer jetzt entgegnet, man könnte einen 100 km Lauf nicht mit Marathon vergleichen? Aber warum nicht? Er ist einfach „nur länger“ und damit kann man Ihn auch länger geniessen. Grundregel ist: gemütlich angehen, Geh-und Verpflegungspausen, Massagen an der Strecke falls erforderlich, dann kommt jeder in Biel auch an. Die Belastungen auf den Bewegungsapparat sind geringer als bei einem schnellen Stadtmarathon, aus meiner subjektiven Sicht beschrieben. Damit auch mein Aufruf an alle, sich einfach mit dieser Herausforderung geistig auseinander zu setzen.

Der Lauf in der Nacht, 3/4-Vollmond bis Vollmond, die sehr gelungene Streckenführung, die Ruhe, der erwachende Morgen mit den ersten Vogelgezwitscher in Gerlafingen, und natürlich die Landschaft. Nicht zu vergessen: die Zuschauer welche sich ebenfalls die Nacht um die Ohren schlagen, die Stimmung an der Strecke, und natürlich all die Freunde, welche den Läufer – im Gedanken oder an der Strecke – unterstützen bei der grossen Herausforderung Biel. Biel 2009 – wir kommen wieder!

 

Informationen: Bieler Lauftage
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