Bei km 25 meint ein Däne, er sei jetzt fast 3 Stunden nur bergauf gelaufen. Genau so sehe ich das auch. Man trifft auch niemanden hier hinten im Feld, der einem das ausreden könnte, oder der einem etwas Hoffnung geben könnte, dass es einmal anders wird. Alle sind sie das erste Mal hier. Alle? Nicht alle. Dimitris ist jedes Jahr hier. Es ist sein liebster Marathon. Na ja, es ist auch sein einziger, weil es auch nur diesen einen für ihn gibt gibt. Alles andere seien nur „Long-Distance-Races“, meint der stolze Athener.
Zuschauer sind wenige an der Strecke. Bestimmt sind es mehr, wenn das Wetter besser ist. Annetta ist eine junge Frau, vielleicht 30 Jahre. Auch sie läuft ihren ersten Marathon. Bei der Metro-Station in Pallini (km 28) wird sie von ihrer ganzen Familie erwartet und gefeiert. Ihre kleine Tochter ist ganz aus dem Häuschen, der Papa hat Mühe, sie auf dem Arm zu halten. Der Opa will der Heldin die Jacke abnehmen, muss dafür aber gut 100 Meter neben ihr her rennen, denn Zeit sie keine zu verschenken.
Ich habe hier ganz andere Gedanken. Aus dem Rennen aus- und die Metro einsteigen? Es ist die Linie, die vom Flughafen in die Stadt führt. Ich kenne mich aus. Meine Beine schmerzen und die Motivation ist beim Teufel. Da kommt Konstantinos gerade recht. Was marathon4you auf meinem T-Shirt bedeutet, will er wissen. Die Griechen kommen mit ihrer Sprache außerhalb ihres Landes ja nicht so weit. Deshalb sprechen die meisten etwas englisch, zumindest so auf meinem Level. Ich erkläre es ihm. Dann will er wissen, wie viele Marathons ich schon gelaufen bin. Auch das kann ich ihm verständlich machen. Er staunt. Dann hat er aber DEN Hinweis parat: „Soon you are a original Marathon-Runner“. Genau – und wenn ich jetzt in die Metro steige, bin ich das nicht. Konstantinos staunt gleich noch mal. Ich lasse ihn nämlich hinter mir.
Wir sind längst in den Außenbezirken von Athen und noch immer ist von lärmenden Autos nichts zu sehen. Die Straße ist beidseitig gesperrt, obwohl nach wie vor nur die eine Fahrbahn von den Marathonis genutzt wird. Die Strecke ist jetzt flach oder hat leichtes Gefälle. Immer häufiger sieht man kleine Zuschauergruppen, die uns engagiert anfeuern. Dazu kommt, dass ich trotz müder Beine ohne Gehpausen unterwegs bin und jetzt unzählige Läuferinnen und Läufer überholen kann. Der Spaß kommt zurück.
Einige Läuferinnen und Läufer erkenne ich auch wieder. Den jungen Polen zum Beispiel, sein T-Shirt weist ihn aus Stettin kommend aus. Gleich am Anfang beim Grabhügel hat er mich mit lockeren, weitgreifenden Schritten überholt. Jetzt versucht er mir zu folgen, gibt das aber schnell wieder auf. Der hübschen, dunkelblonden Griechin im türkisfarbenen Laufröcken bin ich bei unserer ersten Begegnung vor 3 Stunden bestimmt nicht aufgefallen. Jetzt schon. Auch ihr soll ich als Pacemaker dienen. Aber nach einem Kilometer lässt sie mich ziehen.
Noch sieben Kilometer, ich bin obenauf. Das ist Laufen, wie ich es mag. Alles stimmt, nur die Zeit nicht. Und das ist mir jetzt egal. Irgendwo bei km 20 hat mich der Pacemaker für 5 Stunden überholt. Auf dem Fahrrad. Ich habe ihn ziehen lassen in der Gewissheit, ihn bald wieder zu sehen. Ein Irrtum. Ich habe mich in meinem Leben aber schon folgenschwerer getäuscht.
Noch zwei Kilometer. Freude kommt auf, pure Freude. Links geht es in eine von Orangenbäumen gesäumten Straße abwärts. Das Stadion ist nicht mehr weit. Medaillengeschmückte Läufer kommen mir entgegen, zeigen mir den erhobenen Daumen und das Victory-Zeichen, feuern mich an. Rechts oben sehe ich die Akropolis, vor mir das zur Straße hin offene historische Olympiastadion von 1896. Mein Traum wird wahr. Ich laufe in dieses Stadion ein wie einst Spiridon Louis. Stolz und glücklich. Der nüchterne, schmucklose Zweckbau aus weißem Marmor ist das schönste Stadion, das ich kenne. Die Zuschauer klatschen und versüßen meinen Zieleinlauf. Als ich kurz vor dem Zielbogen für ein Foto stehen bleibe, gibt es Sonderapplaus.
Ich denke an Konstantinos und sage vor mich hin: „Now I’m a original Marathon-Runner“. Zeitgleich bekomme ich die Medaille umgehängt, die Frau drückt mir die Hand und sagt: „Congratulation“.
Sollen sich andere Marathons um die Titel „Größter“, „Schönster“, „Schnellster“, „Stimmungsvollster“ streiten. Der Lauf von Marathon nach Athen ist das Original. Basta.
Noch ein Satz zur Strecke. So schlimm ist sie nun auch nicht. Ich bin halt nicht in Form. Stefano Baldini, Italien, ist bei seinem Olympiasieg 2004 auf gleicher Strecke 2:10:55 gelaufen und die diesjährige Siegerzeit ist auch nicht schlecht. Ein Landsmann ist sogar persönliche Bestzeit gelaufen: 3:06 Stunden. Ab km 32/33 ungefähr geht es leicht abwärts oder es ist flach. Wer sein Pulver dann noch nicht verschossen hat, ist im Vorteil.
Weitere Impressionen vom Ziel im Panathinaikos-Stadion
Marathonsieger
Männer
1 KIPKURUI JOSEPHAT KEN 2:13:44
2 KIPCHOM EDWIN KEN 2:14:18
3 MUASA MUTUKU PIUS KEN 2:14:39
Frauen
1 OZAKI AKEMI JPN 2:39:56
2 ESHETU DEGEFA BRUKTAYIT ETH 2:40:32
3 KOUHAN SVIATLANA BLR 2:40:54