Wir sind an dem legendären Ort, der unserem Lieblingssport seinen Namen gibt angelangt: Marathon. Die Griechen sind sich ihrer Historie wohl bewusst. Die Örtlichkeiten hier kommen mit Stadion, Hallen und Anlagen sportlich modern herüber.
Das niemand aus dem warmen Reisebus drängt, hat nur einen Grund: die Temperaturanzeige im Bus pendelt um 10 Grad Celsius. Sturm und Regen lassen sie uns jetzt auf drei Grad herunterfühlen. Und das in Griechenland, unglaublich. Zwei Stunden scharrt sich das Läufervolk in den nur spärlich vor Wind schützenden Ecken umeinander.
Aber die einigen tausend Läufer sind ihre Blicke wert. Weniger ihrer schlanken Körper, vielmehr ihrer multikulturellen Erscheinungen wegen. Denn hier trifft sich die ganze Läuferwelt: Italiener, Mexikaner, Dänen, Kenianer, Amerikaner, Japaner…
Die Griechen sind freilich in der Hauptzahl. Für unser einen südländisch genug, um beschaulich zu sein. Ein paar von ihnen haben sich kostümiert. In ihren antiken Kriegerkleidern machen sie uns den Ursprung dieses Laufes bewusst. 490 vor Christus lief der Bote Pheidippides von Marathon nach Athen, um den hier errungenen Sieg über die Perser zu verkünden. Der Legende nach soll er darauf tot zusammengebrochen sein.
Das allein reicht aus, um diesen Mythos auferstehen zu lassen. Marathon ist ein hartes Ding, er ist unser Läuferding, vor allem zwischen Marathon und Athen, jetzt, gleich, hier! Hoch über uns fackelt die olympische Flamme auf. Das ist zu den Eröffnungen der Olympischen Spiele seit 1936 wieder neu so Brauch. In Griechenland war das schon viel früher der Fall. Im zweiten Jahrtausend vor Christus soll es die ersten Olympiaden gegeben haben. Und nicht weit von hier wartet mit dem Ort Olympia der anschauliche Beweis für die antiken Spiele, bei denen auch schon sportlich in Stadien gelaufen wurde, auf. Der erste olympische Marathon der Neuzeit wurde 1896 gelaufen, hier.
Es wird zeitversetzt in sieben Blöcken gestartet. Die Läufer wurden mit ihren Startnummern bestimmten Blöcken zugeordnet. Da auch die Kleiderbeutelabgabe und das Dixi-Toiletten-Angebot gut organisiert waren, entsteht bei den mehr als 7 000 Startern kaum Stress. Für Stress sind die Griechen ja ohnehin nicht bekannt, auch darum mag ich sie.
Für das Wetter können sie ja nichts. Da es jetzt ans Laufen geht, ist die Kühle vielleicht sogar angenehmer als die eigentlich übliche Sonne mit oft mehr als 20 Grad. Die Begeisterung beim Start ist groß. Fremdländische Sprüche und Rufe, vor Anspannung und Vorfreude gezeichnete Gesichter. Ein Teilnehmer steht noch vor der Linie am Seitenrand in Yogahaltung auf dem Kopf.
Während Pheidippides wahrscheinlich auf staubigen Marmorpisten und in Sandalen unterwegs gewesen sein wird, laufen wir auf breiter Asphaltstraße und in dämpfenden Neutralschuhen. Während er nicht verpflegt worden sein dürfte, wurde uns neben verschwenderisch üppigen Wasser, auch Iso, Gels, Bananen und Kuchengebäck gereicht. Während er nach seinem Lauf starb, haben wir…
Nein, nein, ein Spaziergang ist die Strecke für den trainierten Jetztläufer nicht. Anfangs recht eben führt sie, den 490 vor Christus gefallenen Soldaten gedenkend, um deren Grabhügel herum, bevor sie bald zu steigen anfängt. Das Einteilen der Kräfte hat somit besonderes Gebot. Mit Zurückhaltung lassen sich weiter die Mitläufer und das Geschehen auf der Strecke bewusster wahrnehmen. Auch einige ausländische Läufer sind kostümiert. Besonders schön die zwei englisch sprachigen Damen in recht freizügiger antiker Toga und Lorbeerkranz auf dem Haupt. Zwei Frauen aus Finnland tragen dem Wetter entsprechend landestypische Mützen. Zwei weitere Damen laufen „L.A. to Athens“ und gedenken dabei „26.2 to Ouzo.“
Auch der Streckenrand bietet einige Abwechslung. Es geht durch dünn besiedelte Landschaft und kleinere Orte. Das mediterrane grüne Flair mit Palmen und Kakteen, mit Blumen und Feldern tut dem Auge gut. Zudem muten die zahlreichen Schilder exotisch an, auch geflaggt ist recht ordentlich. Die Ortsdurchläufe machen richtig Spaß. Da schwirren stimmungsvolle Sirtaki Klänge durch die Luft. Trotz des Wetters feuern einige Zuschauer lautstark an. International schallt immer wieder der griechische Akzent von „Bravo!“ ans Ohr. Und dabei den Griechen so wunderbar tief in die Augen blicken! Sie halten dem herzhaft und lange stand. Ja, auch deshalb mag ich die Griechen.
Seit Kilometer 10 führt die Strecke fast beständig leicht bergan. Das ist auch bei der Halbmarathonmarke noch der Fall. Doch jetzt das Tempo forcierend kraftvoll noch etwas steiler bergan. Nur hin und wieder flacht die Strecke ab. Das ist alles andere als langweilig. Es läuft gut und oft überholend ergibt sich hier und da ein Smaltalk mit einigen aus unserer Reisegruppe.
Bei Kilometer 30 gehen Strecke und Pensum spürbar in die Beine. Das Lotteriespiel im Kopf beginnt: Durchlaufen oder nicht? Der körperlichen und mentalen Erschöpfung vorbeugend, helfen die Energieschübe bei den Verpflegungsstellen jetzt ungemein.
Die letzten 10 Kilometer führt die Strecke beständig hinab. Das ist zwar weniger kraftraubend, geht aber ordentlich in die Beine. Wir sind auf Athener Stadtgebiet, aber noch lange, lange nicht im Ziel.
Athena, die Göttin der Weisheit und der Kriegskunst, gab der Stadt ihren Namen. Einst stritt sie mit dem Meeresgott Poseidon um den Besitz des attischen Landes und der Stadt. Die Versammlung aller Götter entschied, wer der Stadt das imponierendere Geschenk mache, sollte gewinnen und Namenspatron werden. Darauf bohrte Poseidon seinen Dreizack in den Boden der Akropolis und eine Salzquelle entsprang aus dem Fels. Athena aber trat mit dem Fuß auf die Erde, worauf sogleich der erste Ölbaum erwuchs. Die Göttin gewann, da sie die nützlichere Gabe beschert habe. Der Ölbaum gilt fortan als heilig. Seine Zweige gelten als Zeichen des Friedens und des Wohlstandes.
Das Laufen tut zunehmend weh. Doch vom Streckenrand kommt zunehmend Ansporn: Unter einer Brücke heizt eine Trommlergruppe ordentlich ein, das „Bravo, bravo!“ erschallt wachrüttelnd, dazu reichen Zuschauer den Läufern friedvolle Ölbaumzweige in die Hand. Bravo, ich mag die Athener.
Auf einer vorn flatternden, die gelaufenen Kilometern angebenden Flacke ist nur die 4 auszumachen. Dafür beten, dass die andere Zahl die 1 und nicht die 0 ist. Athena sei Dank, es ist die 41 km Marke. Einige Windungen durch die hier grün anmutende Stadt. Das Zuschauerspalier geleitet uns zum Panathinaikon-Stadion, dem Stadion der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896, das auf den Fundamenten eines bereits 330 vor Christus errichtete Stadions gebaut ist. Der Einlauf in diese von marmornen Sitzreihen umrahmten Sportarena ist gigantisch. Die Atmosphäre trägt, sie lässt förmlich fliegen. Woher kommen die Kräfte plötzlich? Ins Ziel stürmen, die Arme ausbreiten, die Welt umarmen.
Die Veranstaltung präsentiert sich auch im Zielgebiet am Nationalgarten als professionelle Großveranstaltung. Im Zappeion, einem Ausstellungssaal, fand schon am Vorabend eine vielfältige Marathonmesse statt. Die Startbeutel waren gut gefüllt, u.a. Funktions-Finish-Shirt, Laufmütze, Bauchtasche.
Auch sonst zeigt sich Athen dem Touristen in dieser politisch-wirtschaftlichen Krisenzeit als beschauliche Stadt. Ebenso schlugen uns auf der sich anschließenden und uns stark beeindruckenden antik geprägten Rundreise (Infos auf www.laufreisen.de ) über Delphi und die Halbinsel Peloponnes keine Unruhen entgegen. In Athen sahen wir lange Schlangen vor den Arbeitsämtern, in der Stadt Nafplio erlebten wir am Rande eine friedliche Demonstration mit.
Wir hörten bestätigt, dass die hausgemachte Krise von den politischen Kasten und ihrem einflussreichen Clan, welche jahrzehntelang die eigenen Kassen füllten und die Volkswirtschaft grob vernachlässigten, wesentlich verursacht wurde. Bedenklich ist, dass aktuell beim kleineren Mann die spürbareren Daumenschrauben angesetzt werden. Umso bemerkenswerter, dass uns bei allen Besuchen in Museen, Geschäften oder Tavernen die typisch zuvorkommend und bescheiden anmutende griechische Gastfreundlichkeit entgegenkam. Deshalb mag ich sie besonders, die Griechen.