Die ganze Woche war es frühlingshaft warm, aber am 9. April meldet sich das Schmuddelwetter zurück. Zum Glück hält sich der Regen nach dem Start in Grenzen. Vom Schlossplatz an der Kyffhäuser Therme aus geht es durch Bad Frankenhausen. Auf der Straße klatsche ich meine Frau Gabi ein letztes Mal ab. Mit einem guten Gefühl im Bauch laufe ich inmitten von 250 Berglaufenthusiasten aus der Stadt hinaus.
Auf der Landstraße bedrängen mich dann doch wieder Ängste. Wie immer schlief ich die Nacht vor dem Marathon schlecht. Dann zwickt meine rechte Wade bereits nach den ersten Kilometern. Ich unterhalte mich mit einem Läufer aus Jena. Wir vergleichen Kyffhäuser und Rennsteig und decken unser Wintertraining auf. Er trainiert für den Supermarathon am Rennsteig. Für mich war dieser Kyffhäuser das saisonale Ziel.
Wir laufen an der sagenumwobenen Barbarossahöhle vorbei. Tief im Berg sitzt Kaiser Barbarossa schlafend an einem marmornen Tisch. Dort harrt er seiner Wiederkehr, um allenthalben Ordnung zu schaffen.
Nachdem wir uns warm gelaufen haben, geht es nach 10 Kilometern richtig rein in den Kyffhäuser. Der Kulpenberg ist mit 473 Metern der höchste. Doch die Höhenmeter sind nicht das Schlimme an der Strecke. Schlimm ist das häufig sehr steile Auf und Ab. Dazu sind die Pfade zum Teil schlammig. Am Wegrand tun sich gefährliche Abhänge auf.
Immerhin zwickt meine Wade auf dem Waldbodenuntergrund nicht mehr. Schneegraupel setzt ein. Gestern erhielt ich Handschuhe am Sportgeschäftsstand von Waldemar Cierpinski. Sie sind zu dünn. Nur an den Händen friere ich richtig.
Auf einem der schlammigen Wege kommt dann er, Klaus Hartmann vom LT Gutsmuths Berlin. Dicht hinter mir tapst er durch den Schlamm. Anfangs nervt mich das. Weiß ich doch nicht, ob der aufspritzende Dreck, der mir hinten in die Schuhe fällt, von ihm oder mir stammt. Einen Augenblick denke ich an Gollum aus „Herr der Ringe.“ In der Tat kann das bergig klamme Ambiente an abenteuerliche Gratwanderungen durch verschlungene Landschaften erinnern. „Wir tun es freiwillig“, entgegnet Klaus, als ich eine Bemerkung auf die Bergtortour hin fallen lasse.
Klaus lässt sich von mir ziehen und das treibt mich an. Der für mich kraftvolle Schritt kann die Basis für eine gute Zielankunftszeit sein. Oder wird er der Grund für einen vorzeitigen Zusammenbruch? Nicht nur den Läufer aus Jena lassen wir hinter uns.
Die Hälfte ist geschafft und wir laufen zum Kyffhäuser Denkmal hinauf. Dort thront Barbarossa in Sandstein geschlagen schlafend mit lang wallendem Bart. Und über ihm Wilhelm, der erste, ein aus Kupfer getriebenes Reiterstandbild. Wir bekommen Stempel auf unsere Startnummer und passieren eine Wendemarke.
Bergab ist Klaus schneller als ich. Ich beherrsche meinen Ehrgeiz und lasse ihn ziehen. Doch der nächste Anstieg lässt nicht lange auf sich warten. Ich schließe auf, laufe am gehenden Klaus vorbei. Einige Male überholt Klaus mich bergab und ich ihn bergauf.
Nahezu der gesamte Nord- und Zentralteil des Gebirges ist mit Wald bedeckt. Die Rotbuche herrscht vor. Baumstammstapel lagern an den breiter werdenden Wegen. Harzgeruch liegt in der Luft. Vor mir huscht etwas über den Weg, eine Wildkatze vielleicht.
Nach 30 Kilometern geht es beinahe fünf Kilometer lang recht steil hinab. Klaus ist weg und auch einige andere ziehen an mir vorbei. Ich habe damit zu tun, mich auf das brüchig karstige Steingeröll zu konzentrieren. Auch die Angst vor dem Mann mit dem Hammer sitzt mir im Nacken.
Endlich, in Udersleben, bin ich unten. Ich stärke mich an einem der insgesamt sehr gut bestückten und den Verhältnissen angepassten Verpflegungspunkten mit einer halben Banane und einem Becher warmen gesüßten Tee. Noch sieben Kilometer bis zum Ziel und die müssten problemlos zu schaffen sein.
Ich weiß, was jetzt kommt. Für fast vier Kilometer geht es noch einmal hinauf. Motiviert steige ich ein. Doch sofort zwickt es auf der asphaltierten Steigung in beiden Oberschenkeln vorn. Ein Alptraum. Beim Rennsteig gebot er mir auf den letzten Kilometern längere Gehpausen. Heute wieder? Nein. Ich nehme Tempo raus und zuckele hinauf. Dass ich es schaffe, schiebe ich auf die letzte Verpflegung und auf den wiesenartigen Untergrund am Naturflughafen. Sogar am gehenden Klaus zuckele ich vorbei.
Immer wieder greife ich zu meiner Getränkeflasche mit gesüßtem Hagebuttentee. Auf der Höhe, drei Kilometer vor dem Ziel, die letzte Getränkestelle. Begierig trinke ich den warmen süßen Tee.
Das Panoramamuseum wird sichtbar. Der zylindrische Zweckbau wurde zu DDR-Zeiten für das Monumentalgemälde von Werner Tübke über den Bauernaufstand um Thomas Münzer errichtet.
Wir laufen zwei Kilometer den steilen Schlachtberg nach Bad Frankenhausen hinab. Klaus sowie Dr. Rüdiger Birr aus Halberstadt überholen mich. Ich höre eine Kirchenturmglocke dreimal schlagen. Ist das die mit vier Metern aus dem Lot stehende Oberkirche? Diese hat den schiefsten Turm Deutschlands. Das Ziffernblatt der Kirchturmuhr zeigt eine volle Dreiviertelstunde an und mir wird klar, dass ich unter vier Stunden bleiben werde. Glücksgefühle schon vor dem Ziel.
Der letzte Kilometer durch die Stadt führt nur leicht bergab. Ich überhole Dr. Birr und kurz vor dem Ziel auf dem Schlossplatz auch Klaus. Nach 3:52:46min falle ich Gabi in die Arme.
Dann reiche ich Klaus die Hand. Er ist Jahrgang 1951 und will in sechs Wochen am Rennsteig den Supermarathon über 73 Kilometer in Angriff nehmen. Hut ab, vor Klaus und vor allen anderen, die gleiches vorhaben. Für mich hat der Kyffhäuser-Bergmarathon durch das kleinste Gebirge Deutschlands Superlative genug.