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Laufberichte

Mehr als nur Laufen

 

Am Samstagmorgen zeigte es mir auf Social Media eine Erinnerung an ein Posting von vor vier Jahren an. Reine Sache des Algorithmus, Zufall oder Schicksal? Auf jeden Fall war das Bild ein Wink mit dem Zaunpfahl. Auf den Wink folgte der Link, welcher mich von der Website der Veranstalter auf das Anmeldeportal führte.

Nach dem wunderbaren Lauferlebnis in Luzern vor drei Wochen war eine sonntägliche, herbstlich-sonnige Runde entlang Teilen der Strecke des Stockholm Marathons die einzige Laufeinheit, bevor mich der Rücken wieder plagte. Doch rechtzeitig auf die Erinnerung hin hat sich dieser wieder eines Besseren besonnen.

So stehe ich an diesem dritten Sonntag im November traditionellerweise in der Kaserne Frauenfeld bei der Ausgabe des Tarnanzugs an. Und irgendwie ist es anders als sonst. Sicherlich hat die zweimalige Absage wegen der Pandemie damit zu tun, auch wenn die üblichen Stammläufer einer nach dem anderen auftauchen. Noch nie sind mir so viele Gedanken beim Anziehen des Tarnflecks im Kopf herumgeschwirrt. Mein Verhältnis zur Armee, wie ich sie während fast zwei Jahrzehnten Dienstpflicht kennengelernt hatte, habe ich in früheren Berichten zum Frauenfelder beschrieben. Wie es heute wäre, kann ich nicht sagen.

 

 

Wie üblich werden die Waffenläufer zum Einstehen aufgefordert, um sie pünktlich 09.30 Uhr melden zu können. Die Formation hat noch erhebliches Verbesserungspotential, und auch die Erscheinung der Einzelnen entspricht nicht immer dem Reglement. Vorhanden ist aber in jedem Fall das, was zählt. Der Wille und das Wollen.

Nach den Ehrungen der Jubilare wird hinter der örtlichen Musikkapelle zum Marktplatz verschoben. Ja, so heißt das in der Schweizer Armee. Eine Ortsveränderung nennt sich Verschiebung, egal, ob man sich selbst schiebt oder geschoben wird. Hoffen wir, dass ich selbst den Schub erzeugen kann, bis ich am Nachmittag wieder in Frauenfeld ankomme.

Die Zeit zum Start wird genutzt für kurze Gespräche und Erinnerungsfotos. Hans, heute zum 52sten Mal am Start, wird von einem Journalisten interviewt. Einen Läufer sehe ich, der - freier Schuhwahl zum Trotz – in seinen Kampfstiefeln antritt.

Ein mächtiger Kanonendonner setzt die auf einer gekrümmten Linie nebeneinander aufgereihten ungefähr 170 Waffenläufer und Waffenläuferinnen in Bewegung. Dieses Geräusch fährt mir – obwohl ich es nur aus Friedenszeiten kenne - jedes Mal gehörig in die Knochen.

 

 

Bis zum Ende des Marktplatzes ist das Feld vor mir schon so schnell in Position gegangen, dass der Trichter zur Straße hin für mich keine Engstelle darstellt. Der Läufer mit Kampfstiefeln wird an dieser Stelle mit einem kapitalen Reifenschaden ausgebremst. Ich sehe, wie die dicke Sohle nur noch an der Schuhspitze festhält und er diesen Rest vom Leder zu reißen versucht.

Dann grüßt mich das Murmeltier. Mit einem kleinen Unterschied: Jedes Jahr kann ich schreiben, dass die Straße seit vergangenem Jahr länger geworden ist und ihre Steigung wieder um ein Prozent zugenommen hat.

Bei der Schulanlage wird es vorübergehend fast flach, bis die Kamelbuckel kommen, welche besonders auf dem Rückweg für einen letzten Kraftakt sorgen werden. Von hinten ertönt ein ungleichmäßiges Schrittgeräusch. Es ist der Läufer mit einem besohlten und einem unbesohlten Kampfstiefel, der seinen Ersatzschuhen entgegeneilt, die ihm jemand weiter vorne mittels Kuriers überreicht. Wenig später überholt er mich wieder; schnell und in Laufschuhen.

 

 

Das Wetter zeigt sich von seiner sonnigen Seite. Trotz vorüberziehenden Wolkenfeldern und gelegentlich auffrischendem Wind ist es angenehm zu laufen.

Nächster Fixpunkt ist das Erdhaus beim Dorfeingang von Matzingen. Beim Teletubby-Haus, wie es ein anderer Läufer nennt, geht es links ab und mit leichtem Gefälle weiter. Ausgangs Dorfes sind wieder positive Höhenmeter angesagt, welche am Ende der Steigung mit der ersten Verpflegungsstelle belohnt werden. Die Belohnung ist leider nicht vollständig. Entgegen den Gepflogenheiten vergangener Jahre und den Angaben zur Verpflegung auf der Webseite fehlt ein isotonisches Angebot. Zwar bin ich mit zwei Gels und einer Flasche Cola ausgerüstet, da es bis zur Halbmarathonmarke nur noch einen weiteren Verpflegungsposten gibt. Aber damit hatte ich nicht gerechnet.

„Noch ist nicht aller Tage Abend“, denke ich, trabe weiter und bin gespannt, ob Toni in Wängi wieder am Straßenrand steht. Wir sehen uns jeweils am Frauenfelder, sonst sind wir nur auf den sozialen Medien im Kontakt. Ich hätte mich gefreut, ihn zu sehen, doch heute hat er offensichtlich Wichtigeres auf dem Programm. Ich denke an die guten Erinnerungen aus unserer gemeinsamen beruflichen Vergangenheit und muss schmunzeln. Er war einer der Leiter eines mehrtägigen Führungsseminars in einem gepflegten Hotel mit hervorragendem kulinarischem Angebot in den Bergen. „Führen heißt…“ war der Beginn des Satzes, den wir vervollständigen sollten, und ich der gruppendynamische Sprengkörper, weil ich eine Karte mit dem Wort „DIENEN“ an die Pinwand heftete. Meine Erklärung, dass ich mit meinen Fähigkeiten den Mitarbeitern dienen möchte, ihre Fähigkeiten optimal zu entfalten, war den meisten anderen Führungskräften zu devot.

Stichwort „führen“: Noch bevor ich die zweistellige Kilometerzahl abgespult habe, überholt mich die Spitze des Männerfeldes des Marathons, eine Doppelführung. Abgesehen von einem kurzen Zwischenstück nach dem Kilometerschild geht es seit Wängi nur aufwärts. Der höchste Punkt der Strecke ist kurz nach Kilometer 12 erreicht, was nicht heißt, dass es nun flach weiter geht. Wie gewonnen, so zerronnen, ist in Sachen Höhenmeter angesagt. Immerhin sind bis zur Hälfte in Wil 370 von 520 Höhenmetern abgearbeitet. Die 6,3kg der Packung am Rücken und der Druck der Tragriemen auf den Oberkörper erschweren mir das Atmen in den Steigungen zusätzlich, denn meine Lungenfunktion ist immer noch nicht auf dem gleichen Niveau wie vor dem bösen C.

 

 

In Eschlikon muss ich feststellen, dass auch an diesem Verpflegungsposten kein isotonisches Getränk zur Verfügung steht. Dumm gelaufen, denn der Kopf sagt mir, dass der Körper es braucht.

Während ich immer wieder vom eine halbe Stunde nach uns gestarteten Marathonfeld überholt werde, nähere ich mich dem Kilometerschild 15 und der Ortschaft Sirnach. Dort, es geht schon aus dem Ort hinaus und hoch zum Wald, sind wie jedes Jahr Zuschauergruppen, welche diesen Anlass als Grund für ein geselliges Zusammenkommen in der Nachbarschaft nehmen. Ein Berner Sennenhund erwacht aus seiner Lethargie, kommt zum Erstaunen seines Besitzers mir entgegen und trottet ein Stück hinter mir her.

Nach dem Abschnitt im Wald geht es auf einem Radweg in Richtung Wil. Ich weiß was mich erwartet, und das beflügelt mich überhaupt nicht. Das Straßenstück von der Brücke über die A1 bis in die Innenstadt ist Ödland. Einer Maschinenladung Buntwäsche beim Drehen zuzusehen ist dagegen reinste Action.

Noch nie bin ich so spät auf der Marschtabelle in die Fußgängerzone eingebogen und ich sehe gerade noch die hintersten Startblöcke auf den ersten Metern der Halbmarathondistanz. Was das für mich und die zweite Streckenhälfte bedeutet, ist mir klar: Es wird eine einsame Angelegenheit.

Nochmals eine Steigung hoch ins historische Zentrum, dann durch das Stadttor hindurch auf den Marktplatz, der mir heute verwaist erscheint. Ebenso verwaist, vielmehr nicht existent, ist der Tisch mit isotonischem Getränk beim Verpflegungsposten.

 

 

Ohne die Masse der Halbmarathonis und den immer seltener von hinten aufrückenden Marathonis fehlen mir Ablenkung und das Gefühl mitgezogen zu werden. Und als fünf Kilometer nach Wil in St. Margrethen der nächste Verpflegungsposten kommt, fehlt auch dort ein isotonisches Getränk im Angebot. Der gesüßte Tee schmeckt mir zwar und etwas Banane füllt den Hohlraum im Magen. Obwohl ich spüre, dass ich dringend Salz bräuchte, verzichte ich auf Bouillon, da nicht sicher ist, ob sie tierische Bestandteile enthält oder nicht.

Einen weiteren Kilometer schlurfe ich so vor mich hin, dann komme ich zu einer Marathon-Läuferin, welche ich schon vorher gegen Krämpfe ankämpfend am Streckenrand sah. Eine Bekannte versorgt sie mit Getränk und auf eine Bemerkung meinerseits reagiert sie mit dem Angebot, mir auch etwas zu bringen. „Geh nur schon mal vor, ich bring es dann mit dem Rad hinterher“. Mein Körper fühlt sich leer und läuft auf der letzten Reserve, was sich jetzt beim Kreislauf bemerkbar macht. Ich habe echte Befürchtungen, was die Fähigkeit betrifft, denn Waffenlauf fortsetzen zu können, doch da kommt der Engel auf dem Zweirad schon angeflogen und versorgt mich mit Rivella.

Die erste Wirkung dieser Hilfsaktion ist erstmal im Kopf zu spüren und gibt mir die Zuversicht, dass der Körper auf diese Energiezufuhr ebenfalls positiv reagieren wird. Ich bedanke mich herzlich und marschiere weiter. 

Bei meiner Arbeit im Auslandtierschutz bekomme ich immer wieder zu hören, dass das doch das Problem als solches nicht beseitige und bloß ein Tropfen auf einen heißen Stein sei. „Für den einzelnen Hund ist es aber ein großer Unterschied, ob ihm geholfen wird oder nicht“, pflege ich dann zu antworten. Heute fühle ich mich als einer, der beinah vor die Hunde ging und für welchen die Hilfsbereitschaft einer einzelnen Person den Unterschied ausmacht.

Fürs Erste sind es diese Gedanken, die mich durchhalten lassen. Während ich langsam einen Fuß vor den anderen setze, gehen unzählige andere Bilder durch meinen Kopf, gleichzeitig rasend schnell und in Zeitlupe. Bisher sah ich mich als Teilnehmer am Frauenfelder Waffenlauf als Miterhalter einer Schweizer Tradition, der militärische Aspekt war im Hintergrund.

 

 

Während ich, lange nach Entlassung aus der Reserve, den Tarnfleck trage und freiwillig zum Zweck der körperlichen Ertüchtigung und des Wettkampfs mitmache (bei welchem ich Sieg und Ehre gerne den Schnellen und besser Trainierten überlasse), stecken Tausende unfreiwillig in solchen Kleidern, um für die Freiheit ihres souveränen Landes zu kämpfen. Junge, talentierte Menschen verlieren dabei ihr Leben, Eltern ihre geliebten Kinder und darüber hinaus leiden Zivilisten unter Zerstörung, Folter, sexueller Gewalt, Tod, Kälte und Entbehrung. Und ich jammere hier rum, weil mich der Veranstalter im Glauben gelassen hat, dass ich regelmäßig am Zaubertrank nippen könne.

Immerhin scheint sich mein Kreislauf zu stabilisieren und ich weiß, dass es ungefähr bei Kilometer 28 wieder einen Verpflegungsposten gibt. Und falls es an dieser Stelle wie jedes Jahr zuvor leckeren Kuchen gibt, wird es mir, mehr als jemals, eine Freude sein.

Es ist eine Freude, aber dem Argusauge der Sanitäter entgeht nicht, dass ich im marathonistischen Normalzustand anders aussehen würde. Mir wird Magnesium angeboten, was ich nach einer blitzschnellen Kosten-Nutzen-Rechnung ablehnen muss. Noch habe ich keine Muskelkrämpfe und das Risiko, mich wegen der Nebenwirkung des Magnesiums in die Büsche schlagen zu müssen, ist mir zu groß, zumal es in den kommenden Abschnitten viel freies Feld und Siedlungsgebiet gibt, wo wenig bis keine Büsche vorhanden sind oder diese in den Gärten der Häuser wachsen.

Ich trolle mich weiter und versuche, im Ultra-Schlurfgang zu laufen, obwohl ich mich wie eine der großen Tanne fühle, die in der Christbaumplantage entlang der Straße gerade für die Festzeit geschlagen wurden. Wie als Strafe, dass ich das nette Angebot der Samariter ausgeschlagen habe, beginnt nun tatsächlich eine Wade zu krampfen. Wann hatte ich das letzte Mal? Das muss mehr als hundert Marathons zurückliegen. So langsam dämmert mir, dass die Imbalance im Elektrolythaushalt nicht erst heute entstanden ist. Rückblickend komme ich zum Schluss, dass es gestern schon Anzeichen gab, denen ich keine Beachtung geschenkt habe, weil sie mich im Nicht-Laufmodus schlichtweg nicht beeinträchtigt haben.

Ohne Uhr am Handgelenk schätze ich, dass ich wandernd rechtzeitig zum Zielschluss zurück in Frauenfeld sein würde und damit kurz vor einer Ankunft mit dem Besenwagen. Mit dem ersten Schild mit der Drei als vordere Ziffer vor dem inneren Auge lasse ich es in Richtung Lommis rollen, immer dem Diktat der Wade gehorchend, das glücklicherweise an Strenge nachgibt.

Mit Betrieb auf der Strecke ist dieser Marathon schon anders zu laufen, dafür kann ich in der Stille der Landschaft das Wetter umso mehr genießen, bei welchem die Sonne den teilweise dunklen Wolken Paroli bietet und die Gegend in ein warmes Licht taucht.

Mit jedem weiteren Kilometer jenseits der Dreißig wird mein Wille stärker, diesen Lauf würdig zu beenden. Für mich heißt das, weiter auf den Körper zu hören und es nicht zuzulassen, mental unter dessen Stärke zu fallen. Mit den jungen Leuten, welche am Rande der Strecke ihren Umtrunk in der Herbstsonne mit lautstarker Anfeuerung genießen, flachse ich, dass ich extra wegen ihnen gemütlich unterwegs gewesen sei, damit sie länger feiern können. Weil ich sie auf den Fotochip gebannt habe, finden sie, dass es auch ein Bild von mir mit ihnen geben soll. Gesagt, getan. Wenn ich wollte, könnte ich noch eine Pulle Bier mit auf den weiteren Weg nehmen. Daraus schließe ich, dass sich meine äußere Erscheinung wieder verbessert hat. Oder denken sie, dass ich so bescheiden aussehe, dass mich ein Bier nicht noch mehr ruinieren kann? Egal, das Weiterlaufen fällt mir leichter und die Aussicht auf das baldige Erreichen von Stettfurt, letzte Station vor Frauenfeld mit dem Kilometerschild 35 und einer weiteren Tränke, tut ihr Übriges dazu.

 

 

Sieben Kilometer sind immer noch sieben Kilometer, hören sich aber nach weniger an, wenn es die letzten eines Marathons sind. Dass ich die Strecke kenne und deren Beschaffenheit, erleichtert es, mich von Kilometer zu Kilometer zu hangeln. Zwischen 36 und 37 begrüßt mich nicht nur ein Hund. Mit ihm sind einige Leute, den Transparenten nach zu schließen mit Verbindung zu einer IT-Firma, welche mir als private Versorgungsstelle einen Becher Cola reichen. Mit einem großen Dankeschön trabe ich weiter in Richtung Kamelbuckel, diesmal in der Gegenrichtung. Beim ersten, vier Kilometer vor dem Ziel, ist nochmals eine Versorgungsstelle eingerichtet. Mit einem Happen Schokoriegel und einem Becher Wasser im Bauch und den freundlichen Worten der Helferinnen im Ohr bin ich gut gerüstet für den Rest des Laufs. Zunächst bedeutet das die vollständige Bewältigung der Kamelbuckel.

Dass die letzten drei Kilometer fast ausschließlich flach oder mit Gefälle sind, macht es einfacher. Ich war nahe daran, vom Glauben abzufallen, vom Glauben, dass ich meinem Marathonkonto wieder ein Finish gutschreiben kann. Je näher ich der Kaserne komme, desto überzeugter bin ich, dass ich es notfalls auf allen Vieren über die Ziellinie schaffen würde, aber auch davon, dass es nicht so kommt. Das Klassement ist digital. Entweder bist du darin aufgeführt oder nicht, da spielt es keine Rolle, dass mein auf Video festgehaltener Zieleinlauf nicht einmal ansatzweise für Bonifikationspunkte für Grazie und Leichtigkeit in Betracht gezogen werden könnte.

Im Zielbereich sind nur noch wenige Leute anwesend und in der Halle sind die Siegerehrungen im Gang. Am Gabentisch gibt es kein Gedränge und ich nehme dankbar statt einer Medaille ein Glas Thurgauer Honig nach Hause.

Der Frauenfelder 2022 wird mir in Erinnerung bleiben. Das Körperliche und das Mentale. Es war Klausur und Meditation, Kirchgang und Marathon.

 

Informationen: Frauenfelder Marathon
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