Schlüsselerlebnisse prägen sich mit der Jahreszahl ein. Bei Brian Adams war es der «Summer of ‘69» und der hat ihm ganz schön viel Geld eingebracht. Reich geworden bin ich auch; an Erfahrungen. Es war der Sommer 1981, als Rekrut Steiner in den Kafaz gesteckt wurde. So kurz wie der Begriff für den Kampfanzug daherkam, intern auch Vierfruchtpyjama oder einfach Kämpfer genannt, so ausführlich war dessen Ausführung. In einer Zeit als es noch keine ausgeklügelten Tragriemensysteme gab, nähte man weit mehr Taschen an dieses zweiteilige Kleidungsstück, als die meisten Politiker Latten am Zaun haben. Die Infanteristen mussten darin vom Schanzwerkzeug bis zur Handgranate so ziemlich alles versorgen und sahen dann wie ein völlig überladener Christbaum aus.
Als Betriebspionier der Übermittlungstruppen mit dem Betrieb von Funkfernschreibern beauftragt und damit nicht Teil der kombattanten Truppen, brauchte ich diese Taschen in erster Linie als Aufbewahrung für Armeefutterergänzungsnahrung. Bei meinen weiteren Diensten im schon etwas reiferen Alter wurde ich jeweils mit einem abgespeckten, aber immer noch in der gleichen Farbgebung daherkommenden Taz (Tarnanzug) ausgestattet. Noch später – ich war noch nicht aus der Reserve entlassen - wurde die Farbgebung angepasst und entspricht auch heute noch dem in den Innenstädten gesichteten, modischen Tarnlook. Dass ich jemals in einem solchen Gewand stecken würde, hielt ich damals nicht für möglich.
Manchmal kommt es anders. Zum zehnten Mal in Folge fasse ich (= mir wird ausgehändigt) den Lumpen (=Lappen), denn bei dem Marathon, der wieder auf dem Programm steht, ist er Pflichtausrüstung. Ich nehme am Frauenfelder Waffenlauf teil, der Krone der Waffenlauf-Schöpfung. Einstmals eine echt militärische Wettkampfform im Stil eines Biathlons; statt Sportausrüstung und Skis einfach in Armeekleidung und mit der persönlichen Waffe. Heute wird nur noch gelaufen und das Gewehr muss nicht einmal vollständig mitgetragen werden. Nur der Gewehrlauf muss sichtbar aus der Packung (=Rucksack mit allem, was mitgetragen wird) schauen und sie muss die geforderten 6,3kg wiegen. Die Damen dürfen mit einer 5kg-Packung ohne Gewehr mittun.
Wer noch einen im Familienbesitz hat, tritt mit dem Karabiner an, Leute meines Alters mit dem Stgw57 (=Sturmgewehr 57, wobei die Zahl die Jahreszahl der Einführung angibt…). Wer das aktuelle Schießeisen dabeihat, outet sich als Youngster.
Statt Einheitsgrößen sind bei der Ausgabe des Tenus („Tönnüü“= die Kleidung, z.B. auch Ausgangstenu) schön sortierte Varianten für lange, kurze, breite und schmale Läufer und Kombinationen davon im Angebot. Wie im Fachhandel wird Augenmaß genommen und mir passendes Beinkleid und die Jacke überreicht.
Ich schlendere über den Hof der Kaserne Frauenfeld und würde diesen Anblick beinah innerlich in schwarz-weiß sehen. Das alte Gemäuer an einem herbstlich trüben Tag wäre geeignet, depressive Verstimmung aufkommen zu lassen. Auch ohne Sonne habe ich heute aber meinen persönlichen Lichtblick. Nach einjähriger Absenz vom Laufzirkus versuche ich wieder mitzutun.
Umkleide sind die Korridore des Schlaftrakts, Platz gibt es genug, Kleiderhaken auch und keinen Feldwilli (=nette Bezeichnung für Feldweibel; es gab auch eine andere die mit Feldwi.. beginnt), der die Plankenordnung kontrolliert. Statt eines zu dem Bild durchaus passenden, von Schweißsockenantilopen (=Infanteristen) stammenden Modergeruchs, wabbert der Duft von Wärmesalben und Muskelöl durch die Gänge.
Bekannte Gesichter hier, ein Hallo dort. Alle Jahre wieder.
Dann wird zur Besammlung gerufen. Die Formation für das AV (=Antrittsverlesen) entspricht bei weitem nicht dem vor Jahren Gelernten. Da machen es die ausländischen Gäste aus Deutschland und Mazedonien besser. Die Waffenläufer nehmen die Achtungsstellung ein und werden dem Offizier gemeldet. Dann heißt es: „Waffenläufer, ruhn“ (=rühren), und wir werden begrüßt und dann wird zur Ehrung der Wiederholungstäter geschritten. Ab der zehnten Teilnahme wird man nach vorne gebeten und per Handschlag wird für die Treue gedankt und für die Leistung gratuliert.
Zum Spiel einer Blasmusik verschieben (=jegliche Standortänderung, zu Fuß, mit dem Rad oder auch motorisiert) wir zum Marktplatz. Hinter der Musik die Fahnenträger, dann die Gäste aus dem Ausland schön geordnet und dahinter die Schweizer Wehrmänner (heute offiziell AdA =Angehöriger der Armee), die es zu einem Großteil nicht mehr sind, im Bourbaki-Stil (=ungeordnete Truppenformation, nicht korrekt getragenes Tenu).
Punkt 10.00 Uhr lässt ein Riesenknall aus einer Haubitze die Scheiben der Umgebung erzittern. Das nenne ich einen Startschuss. Wer nicht mehr gut hört und nicht mehr der Flinkste ist, kann ihn nicht überhören und wird regelrecht auf die Strecke gepustet.
Die Startlinie aus Sägemehl erstreckt sich leicht gerundet über den ganzen Marktplatz: Wer mit dem Ausgang des Laufs etwas zu tun haben will, möchte beim trichterförmigen Übergang zur Straße vorne dabei sein. Mir ist es egal, als einer der letzten Läufer dort zu sein, das Dabeisein ist für mich in einer anderen Variante wichtig.
Die lang ansteigende Straße gleich zu Beginn ist nicht matchentscheidend und der Laufschritt nicht vorgeschrieben. Die unzähligen Marathons und Ultras in meiner Historie bewahren mich nicht vor einer ziemlichen Unsicherheit. Beginnt heute eine neue läuferische Zeitrechnung für mich oder wird es nur ein ehrenwerter Versuch, medizinische Fakten erfolglos beiseite zu schaffen?
Den Beginn der Strecke markiert eben diese eine langgezogene stetige Steigung, die jedes Jahr steiler zu werden scheint. Hier sind überall Zuschauer mit ihren Anfeuerungsrufen präsent. Nach einem flachen Zwischenstück kommen nach drei Kilometern die Kamelbuckel, dann geht es – bis zu Rückkehr an diesen Ort – weiter wellig durch die Thurgauer Landschaft.
Eingangs Matzingen steht eines der seltenen Erdhäuser. Nach der Querung eines Teils des Dorfes steigt die Strecke ordentlich an, Zeit für eine Gehpause. Oben wird mich eine der beiden Verpflegungsstellen auf der ersten Streckenhälfte erwarten. Im Wissen, dass mir nur zwei zu wenig sind, habe ich auch heute meinen Notriemen (=Von der Feldküche abgegebenes Verpflegungspaket zum Überbrücken bis zur nächsten ordentlichen Mahlzeit) dabei. Dieser kommt mehr in Form von Sportlernahrung als im militärischen Stil daher. Bundesziegel (= extrem trockener Keks) und Arschbarriere (= dunkle Schokolade, welche auch als Basis für ein Heißgetränk zum Einsatz kommen konnte) sind nicht dabei. Ich vertraue heute den Laborprodukten.
Langezogen ist die Straße bis Wängi, gesäumt von Landwirtschaftsland, dem heute jeglicher militärische Landschaden erspart bleibt. Erstes und markantes Gebäude ist das Alterszentrum. Die Veteranen des Aktivdiensts sind weggestorben und fehlen am Straßenrand. In einem weiteren Dorfteil halte ich Ausschau nach meinem ehemaligen temporären Vorgesetzten, Arbeitskollegen und Schulungsleiter Toni. Sein Nachname hat einen Buchstaben mehr als ein Kurzbegriff aus der Dienstzeit. Drei Buchstaben konnten vernichtende Kritik und Ausdruck der Ächtung sein und das Wiederholen ungeliebter Übungen bedeuten. NEF – nicht erfüllt. Noch bin ich zuversichtlich, dass ich heute meine selbst gestellt Aufgabe erfüllen kann.
Das Bahngleis muss gequert werden. Der Regionalzug hat Vortritt, ist aber nicht zur Stelle und erlaubt mir keine unauffällige Verschnaufpause, bevor es wieder Höhenmeter gibt. Eine Brücke bringt uns über die A1. Unter mir braust der Sonntagsverkehr, während ich zum vor mir liegenden langen Aufstieg schleiche. Die Führenden des eine halbe Stunde nach uns gestarteten Marathonfeldes der Zivilisten sind schon längst an mir vorbeigebraust.
Nächster Halt ist Eschlikon, wohin wir sanft hineinrollen und verpflegt werden. Hier haben wir Vortritt; nicht wir queren die Straße, sondern die Autos müssen den Läuferweg queren…
Das Gleiche in der nächsten Ortschaft Sirnach. Es geht über die Straße, dann auf einem schmalen Kiesweg unter der Bahnlinie hindurch und hoch. Entlang der Bahnlinie geht es wellig weiter bis in einen Wald. Ich weiß, dass nach diesem Stück purer Natur mein jährliches Waterloo kommt. Der Gehsteig bis zum Bahnhof kommt mir immer vor wie endlose Meilen in der kalifornischen Wüste; und endlich einmal in der Fußgängerzone von Wil angekommen, wartet noch die Erklimmung des Hügels, auf welchem die Altstadt angesiedelt ist.
Dieses Jahr ist es anders. Es ergibt sich, dass ich in Gesellschaft anderer Mitstreiten das Pflaster unter den Füssen habe und kurz vor dem Zentrum klopft mir Carmen auf die Schulter und ich habe das Bild vor Augen, wie wir im Sommer vor zwei Jahren beide mit Krücken bewaffnet zur Kaffeefahrt ausgeführt wurden. Schön, dass auch sie wieder im Laufzirkus dabei ist!
Durch das Stadttor hindurch geht es auf den Marktplatz, wo vor der Kulisse von Baronenhaus, Gericht- und Rathaus ein Verpflegungsposten aufgebaut ist. Nebst den zahlreichen Zuschauern tummeln sich viele nervöse Halbmarathonis in der Altstadt, die scharrend auf ihren Start warten und mir wenig später in der Fußgängerzone Gesellschaft leisten.
Das dauert nicht lange dann dürfen die Ganzdistanzler die breite Straße verlassen und auf einem Fußgängerweg weiterlaufen. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers hat mich wieder. Nicht für lange, denn ab Bronschhofen teilen wir uns die Strecke wieder. Wenig später ist ein Teil davon ein Abschnitt, auf welchem crossmäßig über eine Wiese gepflügt wird.
Ich bin umgeben von Halbdistanzlern und lasse mich von deren schnellerem Tempo mitziehen. Die Kilometer verfliegen regelrecht, dabei hatte ich ehrlich gesagt ziemlichen Bammel vor dem zweiten Teil meines vorgezogenen Comebacks. Zum Zug des Läuferfeldes kommen noch die Zuschauer, welche den Teilnehmern des Militärwettmarsches – so der offizielle Name für den Waffenlauf-Marathon – ganz besondere Aufmerksamkeit und Anfeuerung schenken.
Hinunter nach Lommis taucht ein mental wichtiges Kilometerschild auf. Vorne steht jetzt die Drei. Dies und die Tatsache, dass mein Knie bisher ohne im Geringsten zu mucken mitgemacht hat, gibt mir Extraschub. Auf der anderen Talseite wieder etwas in die Höhe, dann begrüßt mich zum zweiten Mal Pierre, auch er ein ehemaliger Arbeitskollege.
Ein Wirtschaftsweg entlang der Hügelflanke führt hinein nach Stettfurt. Fünf Sechstel sind geschafft und es gibt schon wieder Verpflegung für die Läufer und eine Festwirtschaft für die Zuschauer. Es folgen nochmals zwei unasphaltierte Kilometer und dann biegt die Strecke auf die Straße zu den Kamelbuckeln ein. Das Kamel ist zwischenzeitlich erwachsen geworden, die Buckel von heute Morgen kommen mir jetzt auf dem Rückweg jedenfalls höher und heftiger vor. Kurz nach dem Kilometerschild 38 gibt es nochmals zu trinken.
Mit Promille vertraute Zeitgenossen kennen sicher den Satz, dass Blau keine Farbe sei, sondern ein Zustand. In der Farbpalette gibt es noch eine Schattierung, für welche dies doppelt zutrifft: Feldgrau. Bevor Olivtöne in der Armee Einzug hielten, war alles feldgrau. Wenn wir Kisten mit diesem Anstrich herumschleppten wussten wir, dass mit größter Wahrscheinlichkeit schon der Großvater seine Hand an deren Griff geklammert hatte. Und je höher die Gewichtangabe war, umso weniger Griffe hatte die Kiste. 70kg und auf jeder Seite ein Griff, da sind die 6,3kg meiner Packung ein Klacks. Die Schultern sehen das mittlerweile anders, doch weitaus gelassener als befürchtet; es ist alles eine Frage des Trainings. Dafür hat am Himmel das den ganzen Tag allgegenwärtige Feldgrau spätherbstlichen Sonnenstrahlen weichen müssen. Wie ich aus dem Waldstück komme, sehe ich Frauenfeld vor mir, in ein warmes Licht getaucht.
Die restlichen drei Kilometer sind nun noch die Kür. Ich bin im Flow, daran können auch die wenigen kurzen Steigungen nichts ändern, denn der Trend ist ein anderer: abwärts. Dies in Kombination mit der Erkenntnis, dass ich wieder zurück im Geschäft bin, lässt es rollen und kitzelt doch noch etwas Leistungsdenken. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass noch etwas möglich ist.
An zahlreichen Halbmarathonis vorbei sprinte ich zur der in von der Sonne erstrahlten Ziellinie und überquere sie in 4:49:49,1. Fast drei Minuten schneller als vergangenes Jahr, als meine Kondition nach all den Ultras auf einem deutlich höheren Niveau war. Und erst noch ohne den kleinsten Schmerz im Knie zu verspüren. Ich bin einfach nur glücklich und wäre es auch, wenn ich eine Stunde länger gebraucht hätte.
Als Finishergeschenk gibt es traditionell wieder eine Medaille oder ein Glas lokalen Bienenhonigs, für mich zudem das Jubiläumsgeschenk für die zehnte Teilnahme, ein Zinnteller.
Während ich hier schreibe, lasse ich das vergangene Jahr Revue passieren: Vor zehn Monaten hat der Orthopäde nach der Diagnose die läuferische Insolvenz über mein Knie verhängt. Eine OP wollte er wegen des Einblutungsrisikos aufgrund meiner lebenslänglichen Blutverdünnung nicht vornehmen, zudem erklärte er die Mehrheit der Schäden als unumkehrbar.
In einer solchen Situation klammert man sich an jeden Strohhalm. Meiner war das mir empfohlene Buch „Die Arthrose-Lüge“. Es war richtungsweisend für mein weiteres Vorgehen und entpuppte sich nicht als Strohhalm, sondern als eine Scheune von Strohballen…
Leichtes Footing ab August, im September gezielte Einheiten auf dem Laufband, im Oktober dann erstmals 20km am Stück in der Einsamkeit Schwedens und nachher nochmals Laufbandtraining. Für einen Marathonneuling wäre dieses Minimum an Training nicht zu empfehlen. Ich habe mich darauf verlassen, dass der Körper sein Gedächtnis einsetzt und gestaunt, dass er weniger vergesslich ist als mein Hirn.
Warum mir das Marathonlaufen so wichtig ist? Darauf antworte ich mit der schlechtesten Antwort eines militärischen Vorgesetzten: „Ist so, weil ist so!“ mit der Steigerungsform „Ist so, weil ist so, weil war so!“
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