Prolog
Als Dominik an diesem Morgen erwacht, ist er sicher, dass alles gut werden wird. Drei Monate hat er auf den großen Tag hingearbeitet. Getreu seinem Trainingsplan hat er lange langsame und kurze schnelle Läufe absolviert und zwischendurch einige Testwettkämpfe. In den vergangenen Tagen hat er das Training wie vorgesehen reduziert und fast nur noch Kohlenhydrate und Flüssigkeit zu sich genommen. Der Körper ist bereit und der Geist ist es auch. Heute Abend wird Dominik seinen ersten Marathon laufen.
Kilometer 0
Gemeinsam mit ein paar Tausend anderen Menschen steht Dominik im Startbereich des MLP-Mannheim-Marathons. Die von den Organisatoren vorgesehene Aufstellung in fünf verschiedenen Startblöcken ist längst Makulatur. Zwischen dem Start der Inlinerfahrer und dem Start des Marathons liegen gerade mal 10 Minuten sowie ein Nadelöhr in Form einer winzigen Fußgängerbrücke, sodass die Läufer froh sind, es überhaupt pünktlich in den Startbereich geschafft zu haben. Dominik sieht den Pacemaker für 3:59 Stunden vor sich und beschließt, sich noch ein wenig nach vorne zu schieben. Er hat sich vorgenommen, die Distanz in 3:45 Stunden zu bewältigen und das Wetter gibt ihm keinen Grund, die Zielzeit nach oben zu korrigieren: Eine dichte Wolkendecke und gelegentliche Regentropfen versprechen ein angenehmes Laufklima. Kaum, dass Dominik einen passend erscheinenden Platz gefunden hat, ertönt auch schon der Startschuss. Die Menge setzt sich in Bewegung und nach weniger als einer Minute überquert Dominik die Startlinie.
Kilometer 2
Die belebte Innenstadt lassen die Läufer schnell hinter sich, die Zuschauer sind nun zunehmend spärlicher gesät. Dominiks Forerunner zeigt eine Pace von 5:02 Minuten pro Kilometer an. Ein bisschen zu schnell im Hinblick auf die Zielzeit, für die eine Pace von 5:20 nötig wäre. Dominik versucht kurz, langsamer zu laufen, gibt es aber bald auf. Das Tempo fühlt sich leicht und gut an und Zeit zum Langsamerwerden bleibt noch genug. Die Strecke führt am Carl-Benz-Stadion vorbei, in dem gerade ein Fußballspiel läuft. Dominik konnte den SV Waldhof noch nie sonderlich leiden, aber als aus dem Stadion ein vermeintlicher Torjubel dringt, reißt das Adrenalin zum ersten Mal kurz die Kontrolle an sich - Dominik und viele der Mitläufer recken die Arme und schreien "Tor" - halb scherzhaft, halb als Ventil für die eigenen übersprudelnden Emotionen.
Kilometer 5
Die erste Wasserstation. Dominik greift sich einen Becher, verfällt in zügiges Gehen, um die zwei Schlucke trinken zu können und nimmt dann reibungslos seinen Laufschritt wieder auf. So wird er bei jeder der Stationen verfahren, die es von nun an ungefähr alle 2,5 Kilometer gibt. Immer abwechselnd wird entweder nur Wasser oder ein breiteres Programm angeboten, bei dem Dominik meistens zu einem rosafarbenen Elektrolytgetränk greift. Bei jeder dritten Station nimmt er kurz vorher ein Squeezy-Gel zu sich.
Kilometer 7
Nach einigen Kilometern in dünn besiedeltem Gebiet geht es durch Seckenheim, einen Mannheimer Vorort. Das ganze Dorf scheint auf den Straßen zu sein, um die Läufer zu bejubeln. Etliche Kinder strecken ihre Hände aus, um sich abklatschen zu lassen. Dominik macht den Spaß mit, er kann gar nicht anders. Seinem Tempo tut dies keinen Abbruch. Er muss vielmehr aufpassen, unter den Anfeuerungen nicht zu schnell zu werden. Aber er bleibt diszipliniert und zwingt sich, dass bei der Pace zumindest immer die 5 vorne steht.
Kilometer 9
Ein vielleicht acht Jahre altes Mädchen steht mit einem kleinen elektrischen Megaphon am Straßenrand und liest so viele Namen von den Startnummern vor wie sie kann: "Super, Stefan! Super, Jürgen!" Gehetzt schiebt sie hinterher: "Ihr seid alle super, aber ich schaff nur ein paar von euren Namen!" Dominik findet, sie ist auch super.
Kilometer 14
Auf dem Rückweg von Seckenheim lagen wieder ein paar Kilometer im Niemandsland, aber nun geht es zurück in die Mannheimer Innenstadt, wo nach wie vor tolle Stimmung herrscht. Dominik freut sich. Die belebten Abschnitte machen ihm am meisten Spaß und deshalb schwört er sich schon jetzt, nach einem Drittel seines Debüts, dass der nächste Marathon ein richtig großer sein muss. "Falls es einen nächsten gibt", bremst Dominik den eigenen Gedankenfluss.
Kilometer 16
Dominik hört seinen Namen. Nicht die Vollversion, die unter der Startnummer steht, sondern die Koseform, die nur seine engsten Freunde verwenden. Ein Blick nach links und es reicht gerade noch für ein kurzes Winken, als er merkt, dass er gerade an seiner Frau, seinem besten Freund und dessen Freundin vorbei läuft. Das gibt genau zur rechten Zeit den nötigen Auftrieb, um einen der ödesten Teile der Strecke zu bewältigen - die zwei Kilometer lange Brücke nach Ludwigshafen.
Kilometer 17
Auf der Brücke gibt es so gut wie keine Zuschauer, es ist zugig und jetzt werden auch noch die gelegentlichen Regentropfen immer dicker. Zum ersten Mal muss Dominik aufpassen, nicht langsamer zu werden. Es ist eine reine Kopfsache, körperlich ist er noch topfit und es gelingt ihm, sich wieder anzutreiben und einen Schnitt von 5:05 zu halten.
Kilometer 21
Ludwigshafen ist ein wenig enttäuschend. Auf den ersten Kilometern nach der Brücke war überhaupt nichts los und auch wenn um das Halbmarathontor in der Innenstadt ein bisschen Trubel herrscht, ist die Stimmung nicht mit der in Mannheim vergleichbar. Was soll's, denkt sich Dominik, die Hälfte ist geschafft und er fühlt sich nach wie vor gut. Wenn er so weiter liefe, rechnet er aus, käme er nach 3:35 Stunden ins Ziel. Dass das nicht passieren wird, ist ihm klar, aber der komfortable Vorsprung auf die gewünschten 3:45 ist sehr beruhigend.
Kilometer 26
Die Ludwigshafener Vororte entschädigen für die öde Innenstadt. In Rheingönheim und den anderen Örtchen ist die Stimmung genauso toll wie in den Mannheimer Stadtteilen. Auch hier säumen begeisterte Zuschauer die Straße und auch hier strecken die Kinder die Hände aus. So langsam merkt Dominik nun, dass jeder zusätzliche Schlenker zum Abklatschen wertvolle Energie kostet. Er macht aber erst recht weiter damit, denn ihm tun die Kinder leid, die nun von immer mehr Läufern einfach ignoriert werden. Ein bisschen Spaß muss doch wohl dabei sein!
Kilometer 32
Nur noch zehn Kilometer. Bisher lief alles rund, aber jetzt fängt Dominik an zu spüren, dass er das bisherige Tempo nicht bis zum Ende halten kann. Das macht ihm aber nichts, er hat es nicht anders erwartet und die Rechnung ist einfach: Bis hierher hat er 2:45 Stunden gebraucht, also muss er zur Erreichung seines Traumergebnisses nur noch die verbleibenden zehn Kilometer unter einer Stunde laufen. Das sollte eigentlich kein Problem darstellen.
Kilometer 36
Die letzten Kilometer bewältigte Dominik mit einer Pace von 5:30 bis 5:40, aber jetzt kommt wieder die große, öde Brücke. Genau die richtige Umgebung, um der einsetzenden körperlichen Erschöpfung einen Weg in den Kopf zu bahnen. Die Beine werden schwer und Dominik spürt, dass er nicht bis zum Ende durchlaufen kann. Er wechselt die Taktik: Von nun an gönnt er sich immer wieder kleine Gehpausen, die er so mit Laufphasen abwechselt, dass er insgesamt eine Pace von sechs Minuten pro Kilometer hält.
Kilometer 38
Endlich geht es wieder in die Mannheimer Innenstadt. Dominik fühlt sich durch die Stimmung beflügelt, aber mehr als das Wechselspiel von Laufen und Gehen ist nicht mehr drin. Es muss auch nicht mehr drin sein, denn auf diesem Weg wird er seine Wunschzeit erreichen.
Kilometer 40
Zurück am Wasserturm, endlich. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schlenker von zwei Kilometern vor dem Zieleinlauf. Doch Dominik steht die Erfahrung bevor, dass so ein kleiner Schlenker die Hölle sein kann. Nachdem er das Ziel schon förmlich gerochen hatte, führt die Strecke noch einmal komplett heraus aus dem belebten Teil der Stadt durch eine einsame Straße, die nicht enden will. Dominik versucht sich bewusst zu machen, dass das verbleibende Stück nicht der Rede wert ist, aber seine Beine sind anderer Meinung. Sie machen zu, komplett. Ober- und Unterschenkel, rechts und links. Sie versagen einfach den Dienst. Dominik kann nur noch gehen.
Kilometer 41,5
Dominik versucht mehrmals, doch noch einmal in den Laufschritt zu verfallen, aber ein Feuerwerk in seinen Schenkeln bremst ihn immer wieder aus. Schließlich schleicht er zum Bordstein und versucht, die Krämpfe heraus zu dehnen. Ein Grüppchen der an dieser Stelle seltenen Zuschauer wird auf ihn aufmerksam: "Kuck mal, der mit dem dunklen Oberteil - der wird doch nicht jetzt aufgeben?" Nein, wird er nicht. So viel ist klar. Dominik geht langsam weiter. Es sind höchstens noch 700 Meter, die würde er zur Not auf dem Zahnfleisch kriechen. Ein Mitläufer flüstert ihm beim Überholen ein paar Worte zu, so etwas wie "Komm, auf!" Das genügt Dominik als Motivation. Er nimmt alle Kraft zusammen und bringt tatsächlich etwas zu Stande, das so ähnlich aussieht wie Laufen - eine Art beidseitiges Humpeln unter tunlichster Vermeidung jeglicher Abrollbewegung. Die Forerunner-Auswertung wird später zeigen, dass dieser Endspurt mit einer Pace von 5:00 tatsächlich Dominiks schnellster Abschnitt im ganzen Lauf ist.
Kilometer 42,2
Dominiks Laufstil muss äußerst seltsam anmuten, doch er hat das Gefühl, dass der Jubel der Masse bei seinem Zieleinlauf sogar ein bisschen lauter wird. Vielleicht kommt ihm das in der Euphorie des Moments nur so vor, vielleicht sehen die Leute aber auch, dass sich da jemand über die letzten Meter mehr als die meisten anderen quält. Dominik ist das egal, genauso wie ihm auch egal ist, dass er seine Wunschzeit um gut zwei Minuten verfehlt hat. Er hat soeben seinen ersten Marathon geschafft und er ist mit einem gequälten, aber breiten Lächeln über die Zielmatte gelaufen - gelaufen! Das ist alles, was zählt.
Epilog
Zwei Tage später ist für Dominik die Qual der letzten Kilometer eine Erinnerung, die bereits zunehmend verblasst. Nur wenn er völlig ausgefallene, verrückte Dinge tut - zum Beispiel aus einem Auto aussteigen oder eine Treppe hinuntergehen -, dann machen ihm seine Beine für einen kurzen Augenblick noch einmal die schmerzhaften Momente jenes Abends bewusst. Er denkt dann immer an ein Schild, das er während des Marathons gesehen hat und dessen Bedeutung ihm erst hinterher richtig klar wurde: "Schmerzen vergehen - der Stolz bleibt!"