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Laufberichte

Wenn die Nacht zum Tage wird

14.06.08

Der Bieler 100 km-Klassiker wird 50

Eine ganze Nacht lang die Natur erleben und frühmorgens beim ersten Vogelgezwitscher dem Sonnenaufgang entgegen zu laufen – allein schon diese Vorstellung hat etwas für sich. Es gibt eine ganze Menge Dinge, mit denen sich der Bieler 100 km-Lauf mystisch-romantisch verklären lässt. Und wenn ich jetzt zurück blicke, kann ich sagen: Ja – so ist es auch tatsächlich. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Denn der Bieler 100er ist andererseits eben nicht ein lauschiges Nachtläufchen, sondern für einen „Normalkost“ gewöhnten Marathonläufer vor allem eines: ein verdammt langer Kampf mit sich selbst, der einen in unbekannte Sphären der eigenen Physis und Psyche führt.

Für den jedoch, der wenigstens einmal das Wagnis eingehen will, sich an der magischen 100 km-Grenze zu versuchen, führt am Bieler 100er kaum ein Weg vorbei. Denn dieser Lauf ist aufgrund seiner langen Tradition und seines Bekanntheitsgrades, der sich auch in einem für die Distanz ungewöhnlich großen Teilnehmerzuspruch manifestiert, zumindest in Europa, vielleicht sogar weltweit, „der“ 100 km-Lauf schlechthin. Nicht zufällig lautet der bekannte, von der Laufikone Werner Sonntag geprägte Bieler Leitspruch: „Irgendwann musst du nach Biel“. Und die Rahmenbedingungen sind wohl nirgendwo so ideal: eine ausgezeichnete, ausgereifte Organisation, eine Topverpflegung unterwegs, und das alles auf einem Einrundenkurs.

2008 ist ein besonderes Jahr für Veranstalter wie Teilnehmer: 50 Jahre wird der Bieler 100er alt. Ein überaus beachtliches Jubiläum, das selbst unter den konventionellen Marathons bisher kaum ein Lauf erreicht hat. Wie so viele Schweizer Läufe ist auch der Bieler 100er aus der langen Tradition von Armeemärschen entstanden und auch in diesem Jahr gibt es unter anderem eine Sonderwertung für einen „100-km Militärpatrouillen-Wettkampf“. In der Tradition des Marschierens liegt auch die Erklärung für die in gewisser Weise beruhigende, üppig bemessene Zielzeit von 21 Stunden: Diese errechnet sich aus einem angenommenen Marschiertempo von 5 km/h plus einer Stunde Pause.

Informationen: Bieler Lauftage
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Im Jahre 1959 fand die Premiere mit gerade einmal 35 Teilnehmern statt (wovon 22 das Ziel erreichten). Danach nahm die Popularität des Laufes rasant zu. In den Hochzeiten des Laufes in den 70er- und 80er-Jahren erreichten bis zu 3.400 LäuferInnen (1983) das Ziel. Heute pendeln die Finisherzahlen zwischen 1.300 und 1.500, nicht eingerechnet die Teilnehmer an den diversen sonstigen, seit 1998 angebotenen (kürzeren) Laufdistanzen (10, 21, 42 km) und Staffelläufe (5er-Staffette, „Sie + Er“). Der 100er ist aber weiterhin der dominierende und rufprägende Lauf. Und diese Distanz ist es auch, die zum 50. Jubiläum einen Run auf die Teilnehmerplätze ausgelöst hat mit der Folge, dass sich 2008 doppelt so viele LäuferInnen wie üblich (fast 3000) allein für den 100er vorangemeldet haben. Bemerkenswert weiterhin: Die Schweizer sind dabei eine Minderheit im eigenen Lande – gut die Hälfte der Teilnehmer sind Deutsche.

Eine weitere Besonderheit der Veranstaltung ist, dass hier etwas erlaubt ist, was andere Langstreckenlaufveranstaltungen ausdrücklich untersagen: eine persönliche Fahrradbegleitung, allerdings nicht vom Start weg, sondern erst ab dem Ort Lyss bei km 23.

Das lange Warten auf den Start

Da der Bieler 100er traditionell an einem Freitag um 22 Uhr gestartet wird, habe ich mich entschieden, erst am Starttag anzureisen. Bereits am Vormittag begebe ich mich von München aus auf die knapp 400 km lange Fahrt, um vor dem Start noch genügend Zeit zum Ausruhen zu haben. Über die Autobahn ist Biel/ Bienne, im Kanton Bern direkt an der deutsch-französischen Sprachgrenze liegend, gut erreichbar. Von der Autobahnausfahrt Biel Ost ist es nicht weit zum Start- und Zielgelände rund um das Eissportstadion. Zu diesem Gelände gehört auch ein Sportplatz, auf dessen gepflegtem Rasen sich schon eine kleine Zeltstadt breit gemacht hat. Als erste Handlung vor Ort richte auch ich mir hier gegen 16 Uhr mein kleines Standquartier ein, ehe ich mich als „Biel-Novize“ daran mache, die Örtlichkeit zu erkunden.


Direkt neben dem Sportplatz finde ich die Curling-Halle, in denen lange Reihen von noch leeren Bänken als Massenumkleide für die Läufer sowie zahlreiche Massagetische und eine spezielle Abgabestelle für Wertsachen bereit stehen. Noch ist hier alles sehr ruhig. Im Duschzelt vor der Halle rauscht probeweise schon mal das Wasser aus zahllosern Duschköpfen.

Lebendiger ist es da schon in der nebenan gelegenen Eissporthalle, wo neben der kleinen Marathonmesse, die vor allem vom Ausrüster und Sponsor Mizuno bestritten wird, die Ausgabe der Startunterlagen stattfindet. Es gibt zahlreiche Schalter für die diversen Läufe sowie für die Nachmelder und die Anmeldung der begleitenden Radfahrer. Nur jeweils ein paar Leute stehen vor diesen Schaltern – bis auf einen, dem Schalter für den 100 km-Einzelläufer. Und vor diesem drängt sich der Großteil der Hallenbesucher in einer langen gewundenen Menschenschlange, deren Ende man fast schon suchen muss. Darauf, mir hier „die Beine in den Bauch stehen zu müssen“, bin ich nicht eingestellt und etwas missmutig reihe ich mich ein. Aber die Warterei ist dann doch recht kurzweilig, da ich von den zumeist Biel-erfahrenen Mitwartenden Einiges über den Lauf erfahre. Nach einer halben Stunde habe auch ich meine Startnummer und meinen Zeiterfassungschip. Direkt neben der Ausgabe entdecke ich den legendären Werner Sonntag, mit 82 Jahren ältester Teilnehmer und „Biel-Urgestein“, der geduldig und freundlich lächelnd sein neuestes Biel-Buch signiert.

An die Eissporthalle schließt sich das Festzelt an, wo man sich die letzte große Stärkung vor dem Lauf holen kann. Das hebe ich mir aber für später auf und mache erst einmal das, was die meisten anderen Bewohner der „Zeltstadt“ tun: hinlegen, dösen, ein wenig plauschen und ansonsten nichts tun. Das Wetter ist herrlich, die Nachmittagssonne wärmt, ein leichter Wind weht. Die Stimmung ist sehr entspannt, keinerlei Hektik oder Aufregung ist zu spüren, auch später nicht, als der Start näher rückt. Gegen 19 Uhr genehmige ich mir noch einen Teller Nudeln im gut besuchten Festzelt, dann lege ich mich wieder vor mein Zelt.

Innerlich macht sich bei mir aber nun doch zunehmend eine gewisse Unruhe breit, denn eine wirkliche Vorstellung von dem, auf was ich mich da einlasse, habe ich nicht. Normalerweise eher marginale Fragen, die angesichts der Distanz aber eine ganz andere Bedeutung bekommen, beschäftigen mich: Soll ich die leichten oder die etwas schwereren, dafür besser gedämpften Schuhe anziehen? Und überhaupt: was soll ich anziehen? Wie gut muss ich mich gegen die nächtliche Kälte schützen? Ich entscheide mich für das „Zwiebel“-Prinzip, d.h. ziehe drei dünne Funktionsshirts übereinander an, um flexibel reagieren zu können, und packe Austauschschuhe und -kleidung, insbesondere einen Pullover, in einen Rucksack. Diesen lasse ich vom Veranstalter zur Zwischendeponierung nach Kirchberg bei km 56 transportieren. Zum Glück stellt sich nicht die Frage nach einem Regenschutz; die Vorhersage verheißt eine trockene Nacht. In meinen Laufgürtel packe ich statt der Getränkefläschchen die Kamera, Handschuhe, Stirnlampe und ein paar Salztabellen für den Notfall.

Derart „gerüstet“ hält mich um 21.15 Uhr nichts mehr im Zelt und ich marschiere in Richtung des nahen Startgeländes. In der Curling-Halle herrscht Hochbetrieb. Dort kann ich meinen Rucksack für Kirchberg abgeben. Von überall her strömen die Läufer heran. Trotz der Betriebsamkeit kommt aber keine Hektik auf, wirken die Starter richtig gelassen, ganz anders als ich es schon bei „normalen“ Marathons erlebt habe. Viele kennen sich, es wird angeregt geratscht und gelacht; man merkt, dass der Bieler Lauf eine eingeschworene Fangemeinde hat. Zu meiner Überraschung treffe ich am Start, mit schwerer Kamera bewaffnet, marathon4you-Herausgeber Klaus Duwe. Auch wenn er selbst dieses Mal nicht aktiv mitläuft, so will auch er sich diesen Jubiläumslauf nicht entgehen lassen.

22 Uhr – km 0: Start in die Nacht

Während die letzte Dämmerung verschwindet, formiert sich kurz vor 22 Uhr im Scheinwerferlicht das Startfeld. Es wird etwas ruhiger, die Konzentration nimmt zu, letzte Grüße und Wünsche werden ausgetauscht. Die letzten 10 Sekunden werden heruntergezählt, ehe die Strecke mit einem lauten Knall für die wartende Läufermeute frei gegeben wird. Anfangs stockt der Läuferstrom. Etwa in der Mitte des Pulks stehend erreiche ich daher erst nach zwei Minuten die Startlinie. Aber was sind schon zwei Minuten bei 100 km, auch wenn diese bereits mein „Zeitkonto“ belasten, da in Biel die Endzeit ausschließlich brutto gemessen wird. Am Streckenrand stehend erblicke ich kurz die helmbewehrten und voller “Kampfmontur” angetretenden Eishockeyspieler, die traditionell die Startlinie vor dem Startschuss geschlossen hielten. Und dann heißt es auch für mich: Los geht’s.

Das Läuferfeld ist anfangs noch sehr dicht. Ich werde weit mehr als mir lieb ist in meinem Laufdrang gebremst, auch wenn mir mein Verstand sagt, dass das angesichts der Distanz überhaupt keine Rolle spielt und für mich so gut ist. Die ersten Kilometer geht es auf vornehmlich breiten, hell erleuchteten und für den sonstigen Verkehr gesperrten Straßen durch die Stadt, zunächst durch ruhige Vororte, dann ab km 3 ins belebtere Zentrum hinein und im winkeligen Kurs durch die Fußgängerzone. Aus den Lokalen heraus werden wir neugierig beobachtet, an einigen Stellen haben sich auch Zuschaueransammlungen gebildet, die uns anfeuern. Aber so richtige Feierstimmung herrscht nicht – da hatte ich mir irgendwie etwas mehr erwartet. Südlich des Zentrums wird es schnell wieder ruhiger. Noch in Biel erwartet uns die erste von 17 Verpflegungsstationen entlang der Strecke. Es wird die einzige sein, die ich auslasse.

Bei km 7 erreichen wir die Nachbargemeinde Port, was insofern erwähnenswert ist, als uns hier eine erste Konditionsprüfung in Form einer 2 km langen Steigung erwartet. Diese Steigung gehen fast alle um mich herum (noch) im Laufschritt an und auch ich nehme diese Hürde (noch) locker. Aber ich bekomme schon einmal eine Vorstellung davon, dass die 650 Höhenmeter, die sich über die 100 km verteilen, nicht so ganz ohne sind. Dem Scheitelpunkt des Anstiegs folgt ein 1 km langer jäher Abstieg. In vielen Windungen schraubt sich die Straße hinab in den Weiler Jens. Ich lasse mich wider jede Vernunft vom Tempo einiger Läufer mitreißen und hoffe nur, dass ich diese muskuläre Belastung später nicht noch bereuen muss. In Jens (km 10) erwartet uns nicht nur die nächste Verpflegungsstelle, sondern erstmals eine Art Freiluftfest vor einer Dorfgaststätte, etwas, was mir im weiteren Verlauf der Nacht noch öfter begegnen wird. An langen Tischen und Bänken sitzen die Menschen auch zu dieser späten Stunde – es ist kurz vor 23 Uhr – noch draußen, feiern und feuern nebenbei die vorüber ziehenden Läufer an.


Nach Jens wird es richtig einsam. In kilometerlangen Geraden zieht sich der zunächst noch asphaltierte, später geschotterte Weg schier endlos durch eine Ebene aus Wiesen und Feldern. Der zunehmende Halbmond strahlt in dem offenen Gelände so viel Helligkeit ab, dass der Einsatz von Stirnlampen an sich unnötig ist. Weit vor und hinter mir sehe ich dennoch die Lichtpunkte der Lampen auf und ab tanzen. Das Laufen wird hier geradezu meditativ. Nur selten gibt es einen, dann allerdings abrupten, Richtungswechsel. Soweit nicht Streckenposten an „neuralgischen Punkten“ wachen, weisen die für Biel typischen, mit blinkenden Taschenlampen versehenen, weiß-roten Hinweisschilder den richtigen Weg.

Km 17: Fiesta in Aarberg

Um kurz nach 23:30 Uhr erreiche ich bei km 17 das Städtchen Aarberg. In den Straßen ist es zunächst noch ruhig. Das ändert sich jedoch schlagartig, als wir das Wahrzeichen der Stadt, die 450 Jahre alte, überdachte Holzbrücke über den Aare-Kanal erreichen. Entlang der Brüstung dieser wunderschönen, aus Holzstämmen kunstvoll gezimmerten Brücke stehen die Menschen Spalier und applaudieren den Ankömmlingen. Das gibt uns aber nur einen Vorgeschmack auf das, was uns am Brückenende erwartet. Hier mündet die Brücke in das langgezogene Oval des Marktplatzes, das gesäumt wird von einer geschlossenen Reihe mittelalterlicher Bilderbuchfassaden, deren Farbenpracht durch das Licht zahlreicher Strahler noch mehr betont wird. Es müssen Hunderte, vielleicht sogar – zumindest gefühlsmäßig - Tausende gewesen sein, die uns einen begeisternden Empfang bereiten. Der ganze Platz scheint von einer einzigen riesigen Fiesta beherrscht zu sein. Was für eine Stimmung, was für ein Anblick! Und doch: Letztlich erscheint mir das Ganze im Nachhinein nur wie ein kurzer Spuk – wenn auch ein sehr schöner. Keine zwei Minuten dauert es und mich umhüllt wieder die Ruhe einer nächtlichen Kleinstadt und wenig später die Dunkelheit der Nacht.

Km 23: Lyss – die Radler kommen

Auf kleinen Sträßchen durch Wald und Wiesen geht es weiter nach Lyss. Auch hier erscheint der Ort zunächst scheinbar ausgestorben. Erst im Ortzentrum (km 23) wird es richtig lebendig. Auch wenn Lyss nicht ganz so malerisch und der Andrang nicht ganz so überwältigend wie in Aarberg ist, so werden wir doch auch hier lautstark begrüßt. Vor allem erwarten uns auch mehrere hundert Radfahrer, die ab der Ortsmitte dichtgedrängt beidseitig der Laufstrecke aufgereiht lauern, konzentriert nach dem Läufer bzw. der Läuferin Ausschau haltend, für den sie sich die Nacht um die Ohren schlagen wollen. Schon fast ein wenig amüsiert mich der Umstand, dass einige aufgepackt sind wie zu einer Expedition.

Informationen: Bieler Lauftage
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Gleich hinter Lyss lauert für Läufer wie Radfahrer die nächste Herausforderung in Form einer weiteren ordentlichen Steigung. Fast alle Läufer nehmen diese kraftökonomisch im flotten Marschtempo, einige Radfahrer schließen sich dem an und schieben ihr Gefährt, andere scheinen nach dem langen Warten auf die Läufer überschüssige Energie abbauen zu müssen und strampeln bergan. Danach geht es auf kleinen Nebensträßchen und gut belaufbaren Wirtschaftswegen in stetigem leichten Auf und Ab durch Wiesen, Felder und Wälder. 

Die Hereinnahme der Radfahrer verleiht dem Lauf eine neue Stimmung. Von Vorteil ist, dass sich die Ausleuchtung der Strecke durch das zusätzliche Licht verbessert, andererseits bringen die Radfahrer auch eine gewisse Unruhe mit sich, zumal einige wie Hummeln um uns herumschwirren. Beeindruckend ist der Blick, wenn man bisweilen bis zum Horizont das schier endlose Band zahlloser Lichter von Stirn- und Fahrradlampen beobachten kann. Auf den Einsatz meiner eigenen Stirnlampe verzichte ich aber weiterhin.

Es wird zunehmend kühler. Und ich werde immer müder, fange an zu gähnen. Bei km 30 merke ich, wie mir Kraft und Lust abhanden kommen. Ich fange an zu marschieren, zunächst nur auf den leichten Berganpassagen, dann auch auf Flachstücken. Frustriert nehme ich zur Kenntnis, wie mich immer mehr Läufer überholen. Die etwas später gestarteten Marathonläufer, die nun auch vorbei ziehen, kommen mir fast schon vor wie Sprinter. Was mich insbesondere belastet, ist die Erkenntnis, dass dieser Einbruch schon so früh kommt. Ich hätte ihn im letzten Streckendrittel erwartet, aber doch nicht schon jetzt! 30 km  - das ist eine Distanz, die ich sonst ab und an am Wochenende locker vor dem Frühstück laufe. Die Aussicht, dass noch gut zwei Drittel der Wegstrecke vor mir liegen, lassen bei mir erhebliche Zweifel über die Machbarkeit der 100 km-Distanz aufkommen. Kurz überlege ich gar, die nächste „offizielle“ Ausstiegsmöglichkeit bei km 38,5 zu nutzen und Biel „abzuhaken“. 

Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass die Ausstiegsquote bei den Teilnehmern des 100 km-Laufs immerhin durchschnittlich 20 % beträgt und die Vorstellung, zu diesen gehören, behagt mir gar nicht. Aber was soll ich machen, wenn es eben gar nicht geht? Ich rechne gedanklich hoch, wie lange es wohl dauern würde, ab hier nur noch zu marschieren. Ich komme dabei auf 14 weitere Stunden – das ist alles andere als motivierend.

Von den kleinen Orten unterwegs – Ammerzwil, Grossaffoltern, Scheunenberg – bekomme ich nicht viel mit. Ich schleppe mich mehr schleichend als laufend von einer Versorgungsstelle zur anderen. Diese erscheinen mir immer mehr als „Inseln des Lichts und des Glücks“, die ich eigentlich gar nicht verlassen mag. Die Versorgung, die geboten wird, ist optimal. Überall gibt es neben Wasser ein Isogetränk und Sporttee, ab km 17,7 zudem Cola und ab km 31 warme Bouillon, was gerade für die Regulierung des Salzhaushalts aufgrund des Schweißverlustes wichtig ist. Als Festnahrung stehen Obst (Bananen, Äpfel, Orangen) und Brot bereit, an jeder zweiten Station ab km 26,5 zudem Energy-Food in Form diverser Riegel, Kekse und auch Gels.

Km 38,5: Oberramsern – Die erste Etappe ist geschafft

Es ist 1:50 Uhr, als ich in Oberramsern über die piepende rote Matte, mit der elektronisch die erste Zwischenzeit offiziell erfasst wird, gehe – wie gesagt gehe, nicht laufe. Auch das ist etwas Neues für mich. Ich bin noch nie über eine Zeitmatte gegangen, aber es drückt doch ganz gut meine Gemütslage aus. 3:50 Std. bin ich nun unterwegs. Relativ viel Trubel herrscht hier, wohl auch deshalb, weil Oberramsern zugleich das Ziel der Marathonläufer ist, die die Differenz zu den vollen 42,2 km durch eine Zusatzschleife in Biel ausgeglichen haben. Wie ich später feststellen werde, sind es aber gerade mal 210 LäuferInnen, die den Marathon beendet haben, und die spezielle Ableitung in Richtung Marathon-Ziel wird dementsprechend wenig frequentiert. Für die 100 km-Läufer ist Oberramsern die erste von drei Stationen entlang der Strecke, an denen man „aussteigen“ kann, dann in eine Teilstrecken-Sonderwertung kommt und eine direkt Shuttlebus-Verbindung zurück nach Biel hat. Nur das Finisher-Shirt gibt’s dann nicht. Für mich ist ein so früher Ausstieg aber kein Thema mehr, vielmehr versuche ich es mir an der Verpflegungsstation gut gehen zu lassen.

Hinter Oberramsern setzt sich meine Schleicherei durch Wiesen und Felder fort, mal über kleine Nebenstraßen, mal über Schotterwege. Die beleuchteten Wegweiser halten uns auf dem richtigen Weg. Aber ich achte eigentlich nicht weiter darauf, sondern trotte nur den anderen hinterher. So komme ich auf einen schmalen Feldweg entlang eines Baches. Auf einmal höre von der anderen Seite des Bachlaufs aufgeregte Stimmen von Fahrradfahrern, die etwas von „falscher Strecke“ rufen. Und tatsächlich: Irgendjemand aus der möglicherweise unterbrochenen Läuferkette hatte nicht aufgepasst und eine falsche Abzweigung genommen – und alle anderen sind hinterher gelaufen. Auch das noch! Zum Glück ist dieses Malheur noch rechtzeitig aufgefallen, sodass mein Umweg nur 2 Mal ca. 200 m betrug. Andere mussten noch weitere Umwege in Kauf nehmen.

Ab km 41 erwartet uns die dritte große Steigung. Die Straße führt gar nicht mal steil empor, aber dafür permanent und das über mehrere Kilometer. Es beruhigt mich geradezu, dass auch bei meinen Mitläufern die Marschiererei nun kollektiv angesagt ist. Es ist ruhig geworden um mich herum und der Strom der Läufer zieht sich zunehmend auseinander. Wenn tatsächlich mal jemand flotteren Schrittes angetrabt kommt, dann ist es eigentlich immer nur ein noch frischer Staffelläufer aus einer der 5er-Staffeln.

Die Zeit und die Kilometer ziehen sich. Etzelkofen und Jegenstorf heißen die kleinen Orte, durch die wir kommen, und noch immer wird so spät in der Nacht vor vereinzelten Gastwirtschaften gefeiert. Mit zunehmender Uhrzeit werden die Gäste allerdings weniger, die wenigen dafür aber umso lauter, weil betrunkener. Aber die Gaststätten bleiben geöffnet.

Ab km 45 wird das Laufen wieder einfacher, denn nun ist die Strecke wieder leicht abschüssig oder zumindest eben. Ich merke, dass ich mich so langsam stabilisiere und wieder in einen gleichmäßigen Schritt komme, ohne mich schon nach kurzer Zeit überfordert zu fühlen. Auf Schotterwegen geht es weiter durch die einsame Natur, meist durch Felder, ab und an durch Waldstücke. Nach wie vor komme ich ohne Stirnlampe aus und ich vermisse sie auch nicht, denn das Licht hätte zwar sicher die Strecke unmittelbar vor mir besser ausgeleuchtet, andererseits hätte ich dann wohl nichts mehr von der zumindest schemenhaft erkennbaren Landschaft um mich herum gesehen und wäre allein auf den Lichtkegel fixiert.

Vorfreude kommt bei mir in Erwartung des 50 km-Schildes auf. Alle 5 km sind beleuchtete Schilder aufgestellt, die die erreichten km ausweisen. Das Problem ist nur: das Schild will einfach nicht kommen, soweit ich auch den Horizont absuche und obwohl ich es schon längst erwartet hätte. Habe ich da etwa etwas übersehen? Gefühlsmäßig bin ich schon ein paar Kilometer weiter, als es dann doch – um Punkt 3:30 Uhr - auf einmal neben der Strecke auftaucht. 5:30 Stunden bin ich nun unterwegs und ich denke mir, dass das angesichts der vielen Marschiererei doch nicht so arg langsam ist. Doch wie sieht die zweite Hälfte aus? Das Gefühl der Freude, die Hälfte „gepackt“ zu haben, mischt sich mit dem etwas mulmigen Gefühl, diese Distanz nochmals zurück legen zu müssen. Wieder „rattert“ es in meinem Kopf: Etwa 10 Stunden bräuchte ich noch, wenn ich ab hier nur noch marschieren würde, käme dann insgesamt auf 15:30 Stunden und wäre damit um 13:30 im Ziel, mitten in der Mittagshitze. Dieser Gedanke gefällt mir gar nicht – aber ich merke auch: ich muss ja nicht alles marschieren, vor allem nicht jetzt. Ich werde und will weiterlaufen, soweit und solange es geht. Ich beschließe, nur noch in Etappen zu denken, immer nur bis zur nächsten Verpflegungsstation und bis zum Ende der nächsten 5 km-Etappe. Und um es gleich vorweg zu nehmen  - es hilft.

Die nächsten Kilometer bis km 55 ziehen sich hin, umso mehr, als keine weitere Versorgungsstation Abwechslung bietet und um mich herum nur Dunkelheit und Einsamkeit herrscht, sieht man einmal von den wenigen Mitläufern und Radbegleitern ab. Aber ich laufe dennoch, und je länger ich das durchhalte, umso motivierter bin ich wiederum, weiterzulaufen. Und ich schaffe es tatsächlich, bis km 55 durchzuhalten. Zur „Belohnung“ und Regeneration könne ich mir nun einen weiteren Kilometer Fußmarsch, zumal ich weiß: Kirchberg ist nicht mehr weit – das Rauschen der an Kirchberg vorbeiführenden Autobahn A1 ist schon gut zu hören.

Km 56: Kirchberg – das Tor zum „Ho Chi Minh-Pfad“

Es ist 4:20 Uhr, als ich die hell erleuchtete, große Versorgungsstation von Kirchberg bei km 56 erreiche. Kirchberg ist die wohl größte und, von Biel aus gesehen, östlichste Station entlang der Strecke. Auch hier wird die Zwischenzeit wieder per Chip erfasst und auch hier besteht die Möglichkeit des vorzeitigen Ausstiegs mit Rückfahrgelegenheit. Die Versorgungsstation ist besonders gut ausgestattet und entsprechend ist der Andrang, zumal sich viele Läufer zur „Halbzeit“ die Zeit für ein längeres Päuschen gönnen und an den bereit gestellten Bänken und Tischen Platz nehmen. Das Hinsetzen erspare ich mir wohlweislich, ahnend, wie schwer das Aufstehen und Weiterlaufen danach sein könnte. Aber bei der Getränke- und Nahrungsaufnahme lasse auch ich mir mehr Zeit als sonst. Ein Rotkreuz- und ein Massageservice ergänzen das Angebot, dazu kann man bei Bedarf auf das deponierte Gepäck zugreifen – oder, wie ich, es auch sein lassen, denn ich habe alles, was ich brauche, und kalt ist mir keineswegs.

Informationen: Bieler Lauftage
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Kirchberg markiert zudem den Zugang zu einem besonderen Streckenabschnitt, der aufgrund seiner Beschaffenheit nur den Läufern vorbehalten ist. Die Begleitradler müssen ihn also umfahren und können erst bei km 65 wieder dazu stoßen. Dieser Streckenabschnitt trägt den inoffiziellen, wenn auch in Kreisen der Bielläufer gängigen Namen „Ho Chi Minh-Pfad“ und ich bin schon gespannt, was sich dahinter verbirgt. Auf der Karte ist zumindest soviel zu erkennen, dass der Weg dem schnurgeraden Verlauf des Flusses Emme folgt. Unter der Autobahn hindurch müssen wir zunächst einmal jedoch am weniger malerischen Gewerbegebiet Kirchbergs vorbei, ehe wir in einen dichten Wald eintauchen und auf einen angelegten, sandigen Weg geleitet werden, der direkt dem Ufer der rauschenden Emme folgt.

In der ersten Morgendämmerung erkenne ich die Umrisse einer scheinbar unberührten, tatsächlich urwaldartig wuchernden Waldlandschaft, durch die wir, begleitet vom Fluss und vom Gezwitscher der ersten Vögel, traben.

Es gefällt mir auf Anhieb. Vom sorgfältig gepflegten Uferweg werden wir schon nach wenigen hundert Metern nach rechts abgeleitet und finden uns kurz darauf auf einem plattgetrampelten Wiesenweg wieder. Dieser wiederum mündet in einen engen, holprigen, durch hohe kantige Steine und Wurzeln äußerst stolperanfällligen Pfad. Der Fluss ist parallel zum Weg in der Nähe, aber wir können ihn durch den wildwuchernden Dschungel nicht sehen. Das kommt nun meiner klischeehaften Vorstellung eines “Ho Chi Minh-Pfads” schon recht nahe. Aufgrund meines Faibles für Naturtrails bin ich hier voll in meinem Element und vor lauter Begeisterung kommt es mir vor, als würde ich trotz des schwierigen Untergrunds nur so dahin fliegen. Andere sehen das zugegebenermaßen anders, staksen trotz Stirnlampe vorsichtig dahin, manche leise vor sich hinfluchend; einer brüllt seinen Frust mit einem “Sch...weg” laufhals aus sich heraus. Ich husche nur vorbei und genieße den heller werdenden, im trüben Morgenleicht geradezu verwunschen wirkenden Wald.

Ein paar Kilometer weiter schwenkt unser Weg zum Ufer der Emme zurück und ist ab dort wieder kommod präpariert. Ich bedauere es fast ein wenig, doch ist die Flusslandschaft weiterhin wunderschön. Bei km 62,5 empfängt uns die nächste Verpflegungsstation in besonders geschützter Lage unter einer niedrigen Brücke. Ich bin nach dieser für mich schönsten Passage der Strecke richtig gut drauf - wie weggeblasen scheinen die Beschwernisse der Nacht zu sein. Jenseits der Brücke folgt der Weg weiter der Emme, aber durch eine stärker aufgelockerte Wald- und Wiesenlandschaft und zunächst - richtig harmlos - auf einem schmalen, schnurgeraden Asphaltweg, der zum Glück dann wieder in einen Naturweg übergeht.


Bei km 66 erwartet uns schon ein dichter Pulk von Begleitradlern am Wegesrand, erwartungsfroh die Einlaufenden nach dem oder der Richtigen absuchend. Noch ein Stück weiter geht es entlang der Emme, aber mit der lauschigen Verpflegungsstation nahe Gerlafingen bei km 67 endet leider die Flussepisode. Wir queren den Fluss über eine weit geschwungene Metallbrücke und sind kurz darauf in Gerlafingen.

Wir durchlaufen das noch morgendlich ruhige Dorf und folgen einer breiteren Straße, die wir uns leider auch mit dem - wenn auch zu dieser Zeit sehr geringen - Autoverkehr teilen müssen. Zudem geht es zunehmend wieder bergan. Von dieser Hauptstraße zweigt jedoch schon bald nach dem Weiler Lüterkofen ein kleine, komplett verkehrsgesperrte Nebenstraße ab. Bis weit in die Ferne kann man sehen, wie sich das Asphaltband dieses Sträßchens in einem sanften Auf und Ab über die weiten Wiesen und Felder gen Westen zieht und sich darauf Mensch und Rad mit viel Platz einträchtig und gemächlich fortbewegen.

Auch ich finde mein Idealtempo, gerade so schnell, dass es mich möglichst wenig anstrengt, aber doch so, dass ich merklich vorwärts komme. Langsam, aber stetig fließen die Kilometer dahin. Gegen 6:30 Uhr bricht die Morgensonne zwischen den Wolken hervor und taucht die Landschaft in satte Farben. Noch ist sie zum Glück schwach und ich empfinde die wohlige Wärme der ersten Strahlen als sehr angenehm. Nicht unglücklich bin ich allerdings, dass die Wolken weiterhin weitgehend die Oberhand behalten.

Km 76, 5: Bibern - die letzte Etappe beginnt

Um 7:10 erreiche ich das Dorf Bibern. Gut 9 Stunden bin ich nun unterwegs und gut 3/4 der Strecke sind geschafft. In Bibern wird letztmals die Zwischenzeit erfasst und wer nicht mehr kann, der hat auch hier die Möglichkeit zum Ausstieg. Doch wer es bis hierher geschafft hat, für den dürfte das kaum mehr ein Thema sein. An der Versorgungsstation in Bibern langen alle noch einmal kräftig zu - denn hinter Bibern erwartet uns die letzte große Berganpassage.

Das Gefühl des Anstiegs ist für mich nun jedoch ein ganz anderes als in der letzten Nacht bei der langen Steigung hinter Oberramsern. Wie alle anderen marschiere ich die Straßenwindungen hinauf, aber die Gewissheit, dass ich die 100 km nun schaffen werde, motiviert mich. Die Steigung währt allenfalls einen Kilometer, dann ist schon der Scheitelpunkt erreicht. Durch den Wald geht es auf der Straße nun steil, Schleife um Schleife hinab. Immer weiter und weiter, viel länger, als wir zuvor bergan zurücklegen mussten. Des Rätsels Lösung ist: wir laufen hinab ins tiefer gelegene Tal der Aare. Ich lasse es laufen und versuche gleichzeitig so locker wie möglich zu bleiben, um die Muskeln nicht zu überstrapazieren.

Schneller als gedacht erreiche ich um 7.30 Uhr den km 80 und nicht weit dahinter die Verpflegungsstelle in Arch. Von der Straße zweigen wir vor dem Fluss nun auf einen flachen, staubigen Uferweg ab, der den Windungen des breiten Flusses in Richtung Westen folgt. Es ist ein sehr entspanntes Laufen, stets in unmittelbarem Blickkontakt zum Flussidyll auf der einen Seite und über die immer wieder variierenden Feldkulturen auf der anderen Seite. Hohe Bäume säumen das Ufer, Boote ankern am jenseitigen Ufer vor in die Natur eingebetteten Häusern. Langsam und träge fließt das Wasser dahin, und ebenso langsam bewegt sich das weit auseinander gezogene Läuferfeld, das man bisweilen bis weit in die Ferne beobachten kann, fort. Eine friedliche Stille umgibt mich. Die Sonne strahlt nun stärker, aber es ist noch gut auszuhalten. Ich genieße diese ruhige, entspannende Szenerie und hoffe nur, dass sie noch möglichst lange anhält, denn das Laufen fällt mir hier wesentlich leichter als auf den Straßen.

Das Städtchen Büren an der Aare bei km 88 unterbricht das Naturidyll, aber auf durchaus angenehme Weise, nicht nur wegen der Versorgungsstation unmittelbar vor der pittoresk den Fluss überspannenden Holzbrücke. Ich bedauere es fast ein wenig, dass wir vom Flussufer aus letztlich wenig von dem hübschen, bereits im Mittelalter begründeten Ort mitbekommen. Hinter Büren queren wir den Fluss und passieren die beeindruckenden Pflanzenbestände einer Großgärtnerei, ehe wir erneut auf das Flussufer stoßen, nur eben nun auf der anderen Flussseite, und weiter diesem folgen. Ich spüre, wie mir die Hitze zunehmend den Schweiß aus den Poren treibt und befreie mich von zwei meiner drei Hemdschichten.

Es ist 8:45 Uhr, als ich die 90 km-Marke passiere. Noch 10 km. Ein Weilchen dürfen wir noch am Fluss verbringen, ehe der Weg abschweift und über offenes Gelände der am Horizont rauschenden Autobahn A5 entgegen strebt. Parallel und etwas erhöht folgen wir schließlich dem Verlauf der teilweise untertunnelten Autobahn durch vor allem waldiges Gebiet. So erleben wir die Autobahn primär als weniger störendes unsichtbares Hintergrundgeräusch. Zwei Verpflegungsstationen auf diesen letzten 10 km bei km 94 und 96,5 bilden die Höhepunkte des optisch eher reizarmen letzten Streckenteils und ich bin froh, dass es sie gibt.

War mir meine Endzeit bisher letztlich egal und nur das bloße Durchkommen mein Ziel, so weckt ein Blick auf die Uhr bei km 95 dann doch meinen Ehrgeiz: Es ist 9:25 Uhr. Wenn ich die letzten 5 km in 35 Minuten schaffen würde, käme ich noch auf eine Endzeit von unter 12 Stunden. Ermutigt durch das positive Lauferlebnis der letzten Stunden nehme ich diese Herausforderung an. Mir gelingt es das Tempo etwas zu forcieren, ohne das Gefühl zu bekommen, der Mehrenergieaufwand wirke nur als Strohfeuer. Das motiviert mich zusätzlich, denn ich hätte mir nie im Leben zugetraut, nach 95 km noch so zu laufen. Wie bei den ersten 5 km sind auf den letzten 5 km die einzelnen Kilometer durch eigene Schilder ausgewiesen. Das ermöglicht mir eine gute Zeitkontrolle. Bald kann ich in der Ferne schon die baulichen Ausläufer Biels erkennen. Da das Start- und Zielgelände im Osten der Stadt ist, weiß ich, dass es, einmal in Biel angekommen, nur noch ein Katzensprung bis ins Ziel ist.


Beim Schild „99 km“ mache ich schnell noch ein Bild von mir und dem Schild – das hatte ich mir schon lange vorgenommen und die Zeit dafür musste einfach sein. Den letzten Kilometer spule ich ab wie die Kilometer vorher. Kurz darauf höre ich bereits den die Einläufer über Lautsprecher begrüßenden Zielmoderator, wenig später sind die ersten Fähnchen und Absperrungen des Zielraumes und die ersten Zuschaueransammlungen zu sehen. Dann geht alles ganz schnell. Auf der abschließenden Geraden freue ich mich, wieder Klaus Duwe zu erblicken, der mir fotografierend seine Glückwünsche zuruft. Dann habe ich den Bogen des Zieleinlaufs vor mir – meine ich zumindest. Ich stutze ein wenig, denn erst unter dem Bogen bemerke ich, dass das noch gar nicht das Ziel ist, sondern die Strecke noch einen Knick macht und erst gut 100 m weiter ins eigentliche Ziel mündet. Unter dem Applaus der dicht die Banden bevölkernden Zuschauer und – wie auch alle anderen LäuferInnen - persönlich vom Moderator begrüßt begebe ich mich auf das nun wirklich allerletzte Wegstück, über den ausgerollten blauen Zielteppich hinweg, hinein ins Ziel.

Km 100: Es ist geschafft

11 Stunden 57 Minuten 34,5 Sekunden – das ist die Bruttozeit, die für mich gemessen wird. Ich habe es nicht nur geschafft anzukommen, sondern auch unter 12 Stunden zu bleiben. Ich bin einfach nur „happy“, fühle mich ausgezeichnet und überhaupt nicht überanstrengt – jedenfalls in diesem Moment.


Im Zielraum bekommen wir gegen Rückgabe des Chips die Medaillen ausgehändigt. Die Jubiläumsmedaille ist besonders groß, das „Styling“ dafür – sagen wir es einmal vorsichtig – diskussionswürdig. Die in diesem Jahr lime-farbenen Finisher-Shirts, die wir in der Eissporthalle erhalten, sind dafür umso chicer. In der Curling-Halle hole ich mir das aus Kirchberg rücktransportierte Gepäck und genieße es, im Duschzeit den Schweiß der letzten 12 Stunden abperlen zu lassen.

Zur Ruhe gekommen merke ich aber auch, dass die lange Nacht durchaus ihre Spuren hinterlassen hat. So kostet es mich viel Überwindung, mich aus der Sitzposition wieder in Vertikale hoch zu wuchten und auch mein Gang wird zunehmend staksiger und beschwerlicher. Aber es ist mir völlig egal. Die Euphorie über die erstmalige Bewältigung der 100 km lässt alles andere in den Hintergrund treten. Und vor meinem Zelt auf der Wiese in der Sonne liegend kann ich dieses Gefühl in vollen Zügen genießen.

2.348 Läufer und Läuferinnen erreichen beim Jubiläumslauf in der Soll-Zeit von 21 Stunden das Ziel des 100ers, darüber hinaus werden 401 Teilnehmer des 100ers in den drei Sonderwertungen für „Aussteiger“ bei km 38,5, km 56,1 und km 76,6 geführt – damit beträgt die Ausstiegsquote nur 14,6 %. Schnellster ist in diesem Jahr der „local hero“ Walter Jenni aus Oberwil bei Büren, der die 100 km in sage und schreibe 6:49 Std. herunter reißt; er ist damit fast 40 Minuten schneller als der Zweite. Bei den Frauen hat die Winterthurerin Sonja Knöpfli mit 7:54 Std. die Nase vorn. Werner Sonntag mit seinen 82 Jahren erreicht das Ziel nach 19:49 Stunden und lässt damit noch 28 LäuferInnen hinter sich. Dazu kann ich in Biel- /Bienne-scher Sprachmanier nur sagen: Hut ab /chapeau.

Ein paar letzte Worte

Ich habe es in keinster Weise bereut, in Biel an den Start gegangen zu sein. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, diesen ganz besonderen Lauf mit allen Tiefen und Höhen zu erleben. Die Streckenführung ist durchaus anspruchsvoll, aber die in allen Belangen hervorragende Organisation unterstützt den Läufer dabei, ein unvergessliches (Nacht-)Laufabenteuer zu erleben. Ich weiß zwar nicht, ob ich, wie so viele andere Läufer, Stammgast in Biel sein werde – dafür gibt es einfach noch zu viele andere reizvolle Läufe zu entdecken. Aber nichts bringt es besser auf den Punkt als der schon erwähnte Bieler Leitspruch: „Irgendwann musst du nach Biel“.

 

Informationen: Bieler Lauftage
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