Der Bieler 100 km-Klassiker wird 50
Eine ganze Nacht lang die Natur erleben und frühmorgens beim ersten Vogelgezwitscher dem Sonnenaufgang entgegen zu laufen – allein schon diese Vorstellung hat etwas für sich. Es gibt eine ganze Menge Dinge, mit denen sich der Bieler 100 km-Lauf mystisch-romantisch verklären lässt. Und wenn ich jetzt zurück blicke, kann ich sagen: Ja – so ist es auch tatsächlich. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Denn der Bieler 100er ist andererseits eben nicht ein lauschiges Nachtläufchen, sondern für einen „Normalkost“ gewöhnten Marathonläufer vor allem eines: ein verdammt langer Kampf mit sich selbst, der einen in unbekannte Sphären der eigenen Physis und Psyche führt.
Für den jedoch, der wenigstens einmal das Wagnis eingehen will, sich an der magischen 100 km-Grenze zu versuchen, führt am Bieler 100er kaum ein Weg vorbei. Denn dieser Lauf ist aufgrund seiner langen Tradition und seines Bekanntheitsgrades, der sich auch in einem für die Distanz ungewöhnlich großen Teilnehmerzuspruch manifestiert, zumindest in Europa, vielleicht sogar weltweit, „der“ 100 km-Lauf schlechthin. Nicht zufällig lautet der bekannte, von der Laufikone Werner Sonntag geprägte Bieler Leitspruch: „Irgendwann musst du nach Biel“. Und die Rahmenbedingungen sind wohl nirgendwo so ideal: eine ausgezeichnete, ausgereifte Organisation, eine Topverpflegung unterwegs, und das alles auf einem Einrundenkurs.
2008 ist ein besonderes Jahr für Veranstalter wie Teilnehmer: 50 Jahre wird der Bieler 100er alt. Ein überaus beachtliches Jubiläum, das selbst unter den konventionellen Marathons bisher kaum ein Lauf erreicht hat. Wie so viele Schweizer Läufe ist auch der Bieler 100er aus der langen Tradition von Armeemärschen entstanden und auch in diesem Jahr gibt es unter anderem eine Sonderwertung für einen „100-km Militärpatrouillen-Wettkampf“. In der Tradition des Marschierens liegt auch die Erklärung für die in gewisser Weise beruhigende, üppig bemessene Zielzeit von 21 Stunden: Diese errechnet sich aus einem angenommenen Marschiertempo von 5 km/h plus einer Stunde Pause.
Da der Bieler 100er traditionell an einem Freitag um 22 Uhr gestartet wird, habe ich mich entschieden, erst am Starttag anzureisen. Bereits am Vormittag begebe ich mich von München aus auf die knapp 400 km lange Fahrt, um vor dem Start noch genügend Zeit zum Ausruhen zu haben. Über die Autobahn ist Biel/ Bienne, im Kanton Bern direkt an der deutsch-französischen Sprachgrenze liegend, gut erreichbar. Von der Autobahnausfahrt Biel Ost ist es nicht weit zum Start- und Zielgelände rund um das Eissportstadion. Zu diesem Gelände gehört auch ein Sportplatz, auf dessen gepflegtem Rasen sich schon eine kleine Zeltstadt breit gemacht hat. Als erste Handlung vor Ort richte auch ich mir hier gegen 16 Uhr mein kleines Standquartier ein, ehe ich mich als „Biel-Novize“ daran mache, die Örtlichkeit zu erkunden.
Während die letzte Dämmerung verschwindet, formiert sich kurz vor 22 Uhr im Scheinwerferlicht das Startfeld. Es wird etwas ruhiger, die Konzentration nimmt zu, letzte Grüße und Wünsche werden ausgetauscht. Die letzten 10 Sekunden werden heruntergezählt, ehe die Strecke mit einem lauten Knall für die wartende Läufermeute frei gegeben wird. Anfangs stockt der Läuferstrom. Etwa in der Mitte des Pulks stehend erreiche ich daher erst nach zwei Minuten die Startlinie. Aber was sind schon zwei Minuten bei 100 km, auch wenn diese bereits mein „Zeitkonto“ belasten, da in Biel die Endzeit ausschließlich brutto gemessen wird. Am Streckenrand stehend erblicke ich kurz die helmbewehrten und voller “Kampfmontur” angetretenden Eishockeyspieler, die traditionell die Startlinie vor dem Startschuss geschlossen hielten. Und dann heißt es auch für mich: Los geht’s.
Das Läuferfeld ist anfangs noch sehr dicht. Ich werde weit mehr als mir lieb ist in meinem Laufdrang gebremst, auch wenn mir mein Verstand sagt, dass das angesichts der Distanz überhaupt keine Rolle spielt und für mich so gut ist. Die ersten Kilometer geht es auf vornehmlich breiten, hell erleuchteten und für den sonstigen Verkehr gesperrten Straßen durch die Stadt, zunächst durch ruhige Vororte, dann ab km 3 ins belebtere Zentrum hinein und im winkeligen Kurs durch die Fußgängerzone. Aus den Lokalen heraus werden wir neugierig beobachtet, an einigen Stellen haben sich auch Zuschaueransammlungen gebildet, die uns anfeuern. Aber so richtige Feierstimmung herrscht nicht – da hatte ich mir irgendwie etwas mehr erwartet. Südlich des Zentrums wird es schnell wieder ruhiger. Noch in Biel erwartet uns die erste von 17 Verpflegungsstationen entlang der Strecke. Es wird die einzige sein, die ich auslasse.
Bei km 7 erreichen wir die Nachbargemeinde Port, was insofern erwähnenswert ist, als uns hier eine erste Konditionsprüfung in Form einer 2 km langen Steigung erwartet. Diese Steigung gehen fast alle um mich herum (noch) im Laufschritt an und auch ich nehme diese Hürde (noch) locker. Aber ich bekomme schon einmal eine Vorstellung davon, dass die 650 Höhenmeter, die sich über die 100 km verteilen, nicht so ganz ohne sind. Dem Scheitelpunkt des Anstiegs folgt ein 1 km langer jäher Abstieg. In vielen Windungen schraubt sich die Straße hinab in den Weiler Jens. Ich lasse mich wider jede Vernunft vom Tempo einiger Läufer mitreißen und hoffe nur, dass ich diese muskuläre Belastung später nicht noch bereuen muss. In Jens (km 10) erwartet uns nicht nur die nächste Verpflegungsstelle, sondern erstmals eine Art Freiluftfest vor einer Dorfgaststätte, etwas, was mir im weiteren Verlauf der Nacht noch öfter begegnen wird. An langen Tischen und Bänken sitzen die Menschen auch zu dieser späten Stunde – es ist kurz vor 23 Uhr – noch draußen, feiern und feuern nebenbei die vorüber ziehenden Läufer an.
Um kurz nach 23:30 Uhr erreiche ich bei km 17 das Städtchen Aarberg. In den Straßen ist es zunächst noch ruhig. Das ändert sich jedoch schlagartig, als wir das Wahrzeichen der Stadt, die 450 Jahre alte, überdachte Holzbrücke über den Aare-Kanal erreichen. Entlang der Brüstung dieser wunderschönen, aus Holzstämmen kunstvoll gezimmerten Brücke stehen die Menschen Spalier und applaudieren den Ankömmlingen. Das gibt uns aber nur einen Vorgeschmack auf das, was uns am Brückenende erwartet. Hier mündet die Brücke in das langgezogene Oval des Marktplatzes, das gesäumt wird von einer geschlossenen Reihe mittelalterlicher Bilderbuchfassaden, deren Farbenpracht durch das Licht zahlreicher Strahler noch mehr betont wird. Es müssen Hunderte, vielleicht sogar – zumindest gefühlsmäßig - Tausende gewesen sein, die uns einen begeisternden Empfang bereiten. Der ganze Platz scheint von einer einzigen riesigen Fiesta beherrscht zu sein. Was für eine Stimmung, was für ein Anblick! Und doch: Letztlich erscheint mir das Ganze im Nachhinein nur wie ein kurzer Spuk – wenn auch ein sehr schöner. Keine zwei Minuten dauert es und mich umhüllt wieder die Ruhe einer nächtlichen Kleinstadt und wenig später die Dunkelheit der Nacht.
Km 23: Lyss – die Radler kommen
Auf kleinen Sträßchen durch Wald und Wiesen geht es weiter nach Lyss. Auch hier erscheint der Ort zunächst scheinbar ausgestorben. Erst im Ortzentrum (km 23) wird es richtig lebendig. Auch wenn Lyss nicht ganz so malerisch und der Andrang nicht ganz so überwältigend wie in Aarberg ist, so werden wir doch auch hier lautstark begrüßt. Vor allem erwarten uns auch mehrere hundert Radfahrer, die ab der Ortsmitte dichtgedrängt beidseitig der Laufstrecke aufgereiht lauern, konzentriert nach dem Läufer bzw. der Läuferin Ausschau haltend, für den sie sich die Nacht um die Ohren schlagen wollen. Schon fast ein wenig amüsiert mich der Umstand, dass einige aufgepackt sind wie zu einer Expedition.
Es ist 1:50 Uhr, als ich in Oberramsern über die piepende rote Matte, mit der elektronisch die erste Zwischenzeit offiziell erfasst wird, gehe – wie gesagt gehe, nicht laufe. Auch das ist etwas Neues für mich. Ich bin noch nie über eine Zeitmatte gegangen, aber es drückt doch ganz gut meine Gemütslage aus. 3:50 Std. bin ich nun unterwegs. Relativ viel Trubel herrscht hier, wohl auch deshalb, weil Oberramsern zugleich das Ziel der Marathonläufer ist, die die Differenz zu den vollen 42,2 km durch eine Zusatzschleife in Biel ausgeglichen haben. Wie ich später feststellen werde, sind es aber gerade mal 210 LäuferInnen, die den Marathon beendet haben, und die spezielle Ableitung in Richtung Marathon-Ziel wird dementsprechend wenig frequentiert. Für die 100 km-Läufer ist Oberramsern die erste von drei Stationen entlang der Strecke, an denen man „aussteigen“ kann, dann in eine Teilstrecken-Sonderwertung kommt und eine direkt Shuttlebus-Verbindung zurück nach Biel hat. Nur das Finisher-Shirt gibt’s dann nicht. Für mich ist ein so früher Ausstieg aber kein Thema mehr, vielmehr versuche ich es mir an der Verpflegungsstation gut gehen zu lassen.
Hinter Oberramsern setzt sich meine Schleicherei durch Wiesen und Felder fort, mal über kleine Nebenstraßen, mal über Schotterwege. Die beleuchteten Wegweiser halten uns auf dem richtigen Weg. Aber ich achte eigentlich nicht weiter darauf, sondern trotte nur den anderen hinterher. So komme ich auf einen schmalen Feldweg entlang eines Baches. Auf einmal höre von der anderen Seite des Bachlaufs aufgeregte Stimmen von Fahrradfahrern, die etwas von „falscher Strecke“ rufen. Und tatsächlich: Irgendjemand aus der möglicherweise unterbrochenen Läuferkette hatte nicht aufgepasst und eine falsche Abzweigung genommen – und alle anderen sind hinterher gelaufen. Auch das noch! Zum Glück ist dieses Malheur noch rechtzeitig aufgefallen, sodass mein Umweg nur 2 Mal ca. 200 m betrug. Andere mussten noch weitere Umwege in Kauf nehmen.
Ab km 41 erwartet uns die dritte große Steigung. Die Straße führt gar nicht mal steil empor, aber dafür permanent und das über mehrere Kilometer. Es beruhigt mich geradezu, dass auch bei meinen Mitläufern die Marschiererei nun kollektiv angesagt ist. Es ist ruhig geworden um mich herum und der Strom der Läufer zieht sich zunehmend auseinander. Wenn tatsächlich mal jemand flotteren Schrittes angetrabt kommt, dann ist es eigentlich immer nur ein noch frischer Staffelläufer aus einer der 5er-Staffeln.
Die Zeit und die Kilometer ziehen sich. Etzelkofen und Jegenstorf heißen die kleinen Orte, durch die wir kommen, und noch immer wird so spät in der Nacht vor vereinzelten Gastwirtschaften gefeiert. Mit zunehmender Uhrzeit werden die Gäste allerdings weniger, die wenigen dafür aber umso lauter, weil betrunkener. Aber die Gaststätten bleiben geöffnet.
Ab km 45 wird das Laufen wieder einfacher, denn nun ist die Strecke wieder leicht abschüssig oder zumindest eben. Ich merke, dass ich mich so langsam stabilisiere und wieder in einen gleichmäßigen Schritt komme, ohne mich schon nach kurzer Zeit überfordert zu fühlen. Auf Schotterwegen geht es weiter durch die einsame Natur, meist durch Felder, ab und an durch Waldstücke. Nach wie vor komme ich ohne Stirnlampe aus und ich vermisse sie auch nicht, denn das Licht hätte zwar sicher die Strecke unmittelbar vor mir besser ausgeleuchtet, andererseits hätte ich dann wohl nichts mehr von der zumindest schemenhaft erkennbaren Landschaft um mich herum gesehen und wäre allein auf den Lichtkegel fixiert.
Vorfreude kommt bei mir in Erwartung des 50 km-Schildes auf. Alle 5 km sind beleuchtete Schilder aufgestellt, die die erreichten km ausweisen. Das Problem ist nur: das Schild will einfach nicht kommen, soweit ich auch den Horizont absuche und obwohl ich es schon längst erwartet hätte. Habe ich da etwa etwas übersehen? Gefühlsmäßig bin ich schon ein paar Kilometer weiter, als es dann doch – um Punkt 3:30 Uhr - auf einmal neben der Strecke auftaucht. 5:30 Stunden bin ich nun unterwegs und ich denke mir, dass das angesichts der vielen Marschiererei doch nicht so arg langsam ist. Doch wie sieht die zweite Hälfte aus? Das Gefühl der Freude, die Hälfte „gepackt“ zu haben, mischt sich mit dem etwas mulmigen Gefühl, diese Distanz nochmals zurück legen zu müssen. Wieder „rattert“ es in meinem Kopf: Etwa 10 Stunden bräuchte ich noch, wenn ich ab hier nur noch marschieren würde, käme dann insgesamt auf 15:30 Stunden und wäre damit um 13:30 im Ziel, mitten in der Mittagshitze. Dieser Gedanke gefällt mir gar nicht – aber ich merke auch: ich muss ja nicht alles marschieren, vor allem nicht jetzt. Ich werde und will weiterlaufen, soweit und solange es geht. Ich beschließe, nur noch in Etappen zu denken, immer nur bis zur nächsten Verpflegungsstation und bis zum Ende der nächsten 5 km-Etappe. Und um es gleich vorweg zu nehmen - es hilft.
Die nächsten Kilometer bis km 55 ziehen sich hin, umso mehr, als keine weitere Versorgungsstation Abwechslung bietet und um mich herum nur Dunkelheit und Einsamkeit herrscht, sieht man einmal von den wenigen Mitläufern und Radbegleitern ab. Aber ich laufe dennoch, und je länger ich das durchhalte, umso motivierter bin ich wiederum, weiterzulaufen. Und ich schaffe es tatsächlich, bis km 55 durchzuhalten. Zur „Belohnung“ und Regeneration könne ich mir nun einen weiteren Kilometer Fußmarsch, zumal ich weiß: Kirchberg ist nicht mehr weit – das Rauschen der an Kirchberg vorbeiführenden Autobahn A1 ist schon gut zu hören.
Km 56: Kirchberg – das Tor zum „Ho Chi Minh-Pfad“
Es ist 4:20 Uhr, als ich die hell erleuchtete, große Versorgungsstation von Kirchberg bei km 56 erreiche. Kirchberg ist die wohl größte und, von Biel aus gesehen, östlichste Station entlang der Strecke. Auch hier wird die Zwischenzeit wieder per Chip erfasst und auch hier besteht die Möglichkeit des vorzeitigen Ausstiegs mit Rückfahrgelegenheit. Die Versorgungsstation ist besonders gut ausgestattet und entsprechend ist der Andrang, zumal sich viele Läufer zur „Halbzeit“ die Zeit für ein längeres Päuschen gönnen und an den bereit gestellten Bänken und Tischen Platz nehmen. Das Hinsetzen erspare ich mir wohlweislich, ahnend, wie schwer das Aufstehen und Weiterlaufen danach sein könnte. Aber bei der Getränke- und Nahrungsaufnahme lasse auch ich mir mehr Zeit als sonst. Ein Rotkreuz- und ein Massageservice ergänzen das Angebot, dazu kann man bei Bedarf auf das deponierte Gepäck zugreifen – oder, wie ich, es auch sein lassen, denn ich habe alles, was ich brauche, und kalt ist mir keineswegs.
Um 7:10 erreiche ich das Dorf Bibern. Gut 9 Stunden bin ich nun unterwegs und gut 3/4 der Strecke sind geschafft. In Bibern wird letztmals die Zwischenzeit erfasst und wer nicht mehr kann, der hat auch hier die Möglichkeit zum Ausstieg. Doch wer es bis hierher geschafft hat, für den dürfte das kaum mehr ein Thema sein. An der Versorgungsstation in Bibern langen alle noch einmal kräftig zu - denn hinter Bibern erwartet uns die letzte große Berganpassage.
Das Gefühl des Anstiegs ist für mich nun jedoch ein ganz anderes als in der letzten Nacht bei der langen Steigung hinter Oberramsern. Wie alle anderen marschiere ich die Straßenwindungen hinauf, aber die Gewissheit, dass ich die 100 km nun schaffen werde, motiviert mich. Die Steigung währt allenfalls einen Kilometer, dann ist schon der Scheitelpunkt erreicht. Durch den Wald geht es auf der Straße nun steil, Schleife um Schleife hinab. Immer weiter und weiter, viel länger, als wir zuvor bergan zurücklegen mussten. Des Rätsels Lösung ist: wir laufen hinab ins tiefer gelegene Tal der Aare. Ich lasse es laufen und versuche gleichzeitig so locker wie möglich zu bleiben, um die Muskeln nicht zu überstrapazieren.
Schneller als gedacht erreiche ich um 7.30 Uhr den km 80 und nicht weit dahinter die Verpflegungsstelle in Arch. Von der Straße zweigen wir vor dem Fluss nun auf einen flachen, staubigen Uferweg ab, der den Windungen des breiten Flusses in Richtung Westen folgt. Es ist ein sehr entspanntes Laufen, stets in unmittelbarem Blickkontakt zum Flussidyll auf der einen Seite und über die immer wieder variierenden Feldkulturen auf der anderen Seite. Hohe Bäume säumen das Ufer, Boote ankern am jenseitigen Ufer vor in die Natur eingebetteten Häusern. Langsam und träge fließt das Wasser dahin, und ebenso langsam bewegt sich das weit auseinander gezogene Läuferfeld, das man bisweilen bis weit in die Ferne beobachten kann, fort. Eine friedliche Stille umgibt mich. Die Sonne strahlt nun stärker, aber es ist noch gut auszuhalten. Ich genieße diese ruhige, entspannende Szenerie und hoffe nur, dass sie noch möglichst lange anhält, denn das Laufen fällt mir hier wesentlich leichter als auf den Straßen.
Das Städtchen Büren an der Aare bei km 88 unterbricht das Naturidyll, aber auf durchaus angenehme Weise, nicht nur wegen der Versorgungsstation unmittelbar vor der pittoresk den Fluss überspannenden Holzbrücke. Ich bedauere es fast ein wenig, dass wir vom Flussufer aus letztlich wenig von dem hübschen, bereits im Mittelalter begründeten Ort mitbekommen. Hinter Büren queren wir den Fluss und passieren die beeindruckenden Pflanzenbestände einer Großgärtnerei, ehe wir erneut auf das Flussufer stoßen, nur eben nun auf der anderen Flussseite, und weiter diesem folgen. Ich spüre, wie mir die Hitze zunehmend den Schweiß aus den Poren treibt und befreie mich von zwei meiner drei Hemdschichten.
Es ist 8:45 Uhr, als ich die 90 km-Marke passiere. Noch 10 km. Ein Weilchen dürfen wir noch am Fluss verbringen, ehe der Weg abschweift und über offenes Gelände der am Horizont rauschenden Autobahn A5 entgegen strebt. Parallel und etwas erhöht folgen wir schließlich dem Verlauf der teilweise untertunnelten Autobahn durch vor allem waldiges Gebiet. So erleben wir die Autobahn primär als weniger störendes unsichtbares Hintergrundgeräusch. Zwei Verpflegungsstationen auf diesen letzten 10 km bei km 94 und 96,5 bilden die Höhepunkte des optisch eher reizarmen letzten Streckenteils und ich bin froh, dass es sie gibt.
War mir meine Endzeit bisher letztlich egal und nur das bloße Durchkommen mein Ziel, so weckt ein Blick auf die Uhr bei km 95 dann doch meinen Ehrgeiz: Es ist 9:25 Uhr. Wenn ich die letzten 5 km in 35 Minuten schaffen würde, käme ich noch auf eine Endzeit von unter 12 Stunden. Ermutigt durch das positive Lauferlebnis der letzten Stunden nehme ich diese Herausforderung an. Mir gelingt es das Tempo etwas zu forcieren, ohne das Gefühl zu bekommen, der Mehrenergieaufwand wirke nur als Strohfeuer. Das motiviert mich zusätzlich, denn ich hätte mir nie im Leben zugetraut, nach 95 km noch so zu laufen. Wie bei den ersten 5 km sind auf den letzten 5 km die einzelnen Kilometer durch eigene Schilder ausgewiesen. Das ermöglicht mir eine gute Zeitkontrolle. Bald kann ich in der Ferne schon die baulichen Ausläufer Biels erkennen. Da das Start- und Zielgelände im Osten der Stadt ist, weiß ich, dass es, einmal in Biel angekommen, nur noch ein Katzensprung bis ins Ziel ist.
11 Stunden 57 Minuten 34,5 Sekunden – das ist die Bruttozeit, die für mich gemessen wird. Ich habe es nicht nur geschafft anzukommen, sondern auch unter 12 Stunden zu bleiben. Ich bin einfach nur „happy“, fühle mich ausgezeichnet und überhaupt nicht überanstrengt – jedenfalls in diesem Moment.
Ich habe es in keinster Weise bereut, in Biel an den Start gegangen zu sein. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, diesen ganz besonderen Lauf mit allen Tiefen und Höhen zu erleben. Die Streckenführung ist durchaus anspruchsvoll, aber die in allen Belangen hervorragende Organisation unterstützt den Läufer dabei, ein unvergessliches (Nacht-)Laufabenteuer zu erleben. Ich weiß zwar nicht, ob ich, wie so viele andere Läufer, Stammgast in Biel sein werde – dafür gibt es einfach noch zu viele andere reizvolle Läufe zu entdecken. Aber nichts bringt es besser auf den Punkt als der schon erwähnte Bieler Leitspruch: „Irgendwann musst du nach Biel“.