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Laufberichte

Kick, Kult und Kuriositäten

10.06.06

“They are the kind of people I like.“

 

Biel, das Synonym für das europäische 100km-Waden-Woodstock, zeigte sich in diesem Jahr - bei seiner inzwischen 48. Auflage - bestens gerüstet und wettermäßig von seiner schönsten Seite.  Es war das erste richtig tolle Sommerwochenende in diesem Jahr: wolkenloser Himmel, abends ein traumhafter Sonnenuntergang, in der Nacht der Vollmond als ständiger Begleiter und am Samstagmorgen ein stimmungsvoller Sonnenaufgang, wie geschaffen für einen Kurzurlaub. Einen besseren Termin konnte man sich als Ersttäter, und dazu gehörte auch ich, kaum aussuchen. Die Organisation war, wie bei einem Traditionslauf nicht anders zu erwarten, perfekt. Alle Fragen rund um das Thema „Parken“ wurden von Ordnungskräften an den Straßen geduldig beantwortet. Auch die Indoor-Infrastruktur in der Eis- und der Curlinghalle ließ nichts zu wünschen übrig. Die Bieler hatten natürlich auch an die Fussballfans gedacht, die die Eröffnung der Weltmeisterschaft nicht verpassen wollten: In der Eishalle konnte das Eröffnungsspiel auf einer Großleinwand live mitverfolgt werden.

 

Organisatorisch ist Biel eine Mammutveranstaltung, deren Dimension man auf den ersten Blick gar nicht so erkennt: Nicht weniger als 51 Gemeinden sind von dem Lauf betroffen! Über 900 Helfer sind im Einsatz. Das Gesamtbudget beträgt ca. 450.000 CHF!

 

Punkt 22.00 Uhr, als die Piste freigeschossen wird, scheint halb Biel im Startbereich versammelt zu sein, eine grandiose Stimmung beim Start in die Nacht. Es folgt dann - immer noch unter großer Anteilnahme der Bieler Bevölkerung – über 6 km der Run durch die Stadt. Danach wird es nur etwas ruhiger. Immer noch sind am Straßenrand Zuschauer zu sehen. Und wenn diese mal nur die Beobachterposition eingenommen haben, werden sie von einer Gruppe junger Engländer aufgemischt und feuern die Läufer/innen daraufhin an, was das Zeug hält. Ein Engländer kommentiert zufrieden: “They are the kind of people I like.“ Zu keinem Zeitpunkt läuft man allein. Schon gar nicht, wenn man das Rennsteig-Shirt trägt. Wie viele sind dort erst vor drei Wochen gelaufen!

 

Unterwegs wird die Frage diskutiert, wie lange der 100km-Lauf denn noch angeboten wird. Den 50. Geburtstag darf und wird er feiern, ist man sich einig, danach könnte Schluss sein. Das wäre schon in zwei Jahren. Mangelnde Sponsorengelder sollen die Ursache sein. Keiner weiß etwas Genaues. Nach dem Lauf denke ich, Biel ist ohne 100km-Lauf doch gar nicht vorstellbar. 1.425 Finisher/innen bei einem 100km-Lauf sind zwar kein neuer Rekord, aber eine Teilnehmerzahl auf sehr hohem Niveau.

 

In Aarberg und Lyss machen die Zuschauer die Nacht wieder zum Tag, und dann kommt eine neue Gruppe auf die Laufstrecke: Die Radfahrer mit der Aufschrift „Coach“ auf dem Rücken. Es ist auf den ersten Blick schon faszinierend, eine kilometerlange Schlange von Rücklichtern sehen zu können. Aber der Teufel steckt auch hier im Detail: Läufer und Radfahrer „belegen“ die Laufstrecke auf einer Breite von ca. 1,5 Meter. Wer überholen will, kann sich entscheiden: links vorbei oder rechts vorbei, oder vielleicht mittendurch? Wer mittendurch will, muss damit rechnen, dass Läufer und Begleiter für kurze Zeit enger zusammen rücken, und dann geht es eben doch nur rechts oder links daran vorbei. „Läufer und Radfahrer bilden in Biel eine funktionierende Symbiose“, heißt es. So ganz konnte ich dem nicht folgen (besonders wenn sich ein Radfahrer umdreht und man plötzlich nicht mehr in ein Rücklicht sieht …) und stehe mit meiner Meinung auch nicht ganz allein da. Vielleicht muss ich einfach nur öfter in Biel gelaufen sein, um hier zu einer positiven Einschätzung zu gelangen. Höchst interessant war aber, und jetzt komme ich zum Thema „Kuriositäten“, was Radfahrer da so alles mitschleppten. Da sah man gelegentlich Einkaufskisten voll gepackt mit Trinkflaschen. Zunächst dachte ich, dass damit wohl eine  halbe Kompanie  versorgt werden soll. Dem war aber nicht so. Die Radfahrer begleiten in der Regel eine/n Läufer/in. Und eine Person hätte damit ein dreiwöchiges Survivaltraining gut überstehen können. Ich würde ja  gern mal wissen, was manche Läufer da so alles in sich „reinpfeifen“. In Biel braucht man wirklich keine „Düngemittel“. Gibt es einen Lauf, bei dem eine noch reichhaltigere Verpflegung angeboten wird? Aber wie auch immer: Jedem das Seine!

 

Kilometerweit geht es mit dem Vollmond durch unbewohnte Landschaft. Man sieht zwar nicht viel, aber dafür riecht man umso mehr: Immer wieder der Geruch von frisch gemähtem Gras, wildem Jasmin und nicht näher einzuordnenden wohlriechenden Düften. In den Ortschaften blühen die Pfingstrosen. Die Temperaturen sind sehr angenehm. Von Müdigkeit keine Spur. Auch nicht bei den Helfern an den vielen Verpflegungsstationen. In Kirchberg gibt es wieder soviel Gutes, dass man beinahe auf einer der Sitzbänke Platz nehmen und eine halbe Stunde frühstücken möchte.

 

Jetzt kommt der legendäre Ho-Chi-Minh-Pfad. Er ist viel breiter als ich angenommen hatte. Aber über weite Passagen genauso steinig und wurzelig wie beschrieben. Ich frage mich, ob es einen nennenswerten Unterschied macht, hier mit Stirn- oder Taschenlampe oder ohne zu laufen. Ich stolpere sowieso, im ersteren Fall sehe ich die Steine noch kurz, bevor ich darüber stolpere. Jetzt merke ich, dass die Beine doch müde werden. Und nach diesem  anstrengenden Abschnitt meldet sich mein rechtes Schienbein. Ich muss langsamer laufen.

 

Unüberhörbar ist jetzt das Spektakel der Vögel, und am Horizont ist der erste Silberstreif zu sehen. Weiter geht es an der Emme entlang.

 

Inzwischen ist es 5:19 Uhr, und ich bin in Ichertswill angekommen, genauer gesagt, ich stehe vor der heruntergelassenen Bahnschranke und warte mit ca. 10 anderen Läufern darauf, dass die Bahn einläuft. Wer um alles in der Welt, fragt man sich,  fährt hier um diese Zeit am Samstagmorgen mit der Bahn? Ich achte nicht mal darauf, ob tatsächlich jemand aus- oder einsteigt, sondern bin froh, dass sich die Schranken schnell wieder heben. Keiner verliert ein Wort über die drei Minuten Zwangspause.

 

Der Sonnenaufgang ist wunderschön, und jetzt endlich kann das Auge die Landschaft genießen. In Arch treffe ich Ryan Shakal, den ich vom Lilienthaler Passionslauf kenne. Er bereitet sich gerade auf die DM im 24h-Lauf in Reichenbach/Vogtl. am 24./25.06.06 vor und spult km ohne Ende ab. Ich drücke ihm die Daumen, dass er die 200km-Marke knacken kann.

 

An der Aare, etwa bei km 85, überholen mich Claas und Knut Voigt, von deren Stirnlampe ich unterwegs profitiert habe. Sie laufen noch so leichtfüßig, wie im Schongang. Da steckt noch viel Potenzial drin. Mit einem Trainingsplan von Udo Bölts („Quäl dich, du Sau!“) ließe sich noch einiges machen. Auch sie haben den langen Kanten hinter sich. In diesem Jahr steht aber für beide ein noch längerer Kanten auf dem Programm: der Dschungel-Marathon (200 km Etappenlauf im Amazonasgebiet Mitte Oktober). Auf dem T-Shirt von Claas lese ich: „Wo Schmerzen sind, ist auch Leben.“ So, jetzt weiß ich es.

 

Die letzten 15 km sind flach, aber das Schienbein zwickt mehr, und ich muss weiter Tempo zurücknehmen. Die Sonne ist schon um 8.00 Uhr deutlich zu spüren, Schatten sucht man hier vergebens. Ein Highlight ist das km-Schild 95. Ab jetzt werden die Kilometer einzeln angezeigt und nicht mehr in 5 km-Abschnitten.  Und auf dem letzten Kilometer sind sie endlich da, die Endorphine, und es wird noch ein schöner Zieleinlauf.

 

Auf dem Weg zur Massage treffe ich Beate Hanna von den „Renntieren“ aus Marl. Sie ist in ausgezeichneter Laune, kein Wunder, hat sie ihrem Lauftreff doch alle Ehre gemacht und mit 11:21:34,5 den 5. Platz in ihrer Altersklasse erreicht. Später sehe ich Bernhard Sesterheim, der mir sagt: Norbert, ich zeig dir mal was! Er holt eine zweite, deutlich schönere Medaille aus dem Kleiderbeutel. Schon zum 5. Mal hat er hier in Biel gefinisht. Nur mit einem Satz erwähnt er die brütende Hitze. Ansonsten sieht man ihm an: Es war wieder ein schöner Tag, ein sehr schöner Tag.

 

 

Ein schöner Tag war es auch für Sonja Knöpfli, die Siegerin bei den Frauen, die mit der sechsbesten Tageszeit nach fünf Männern mit neuer Schweizer Rekordzeit in 7:51:34 ins Ziel lief. Sieger bei den Männer wurde der schon 48jährige Francisco Pasandin in einer Zeit von 7:24:41. Pasandin hat erst im Alter von 39 Jahren mit dem Laufen begonnen, nachdem sein Vater an Krebs gestorben war und er dann mit dem Rauchen aufgehört hatte.

 

Fazit: Biel, ein großartiger Lauf, eine einmalige Atmosphäre, der Kick für jeden Ultraläufer.

 


 

Informationen: Bieler Lauftage
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