Duisburg, Essen, Dortmund, Gelsenkirchen, Bochum, Recklinghausen, Bottrop, Wattenscheid, usw. – mir alles dem Namen nach bekannte Orte, gesehen aber habe ich noch keine dieser Städte. Endlich also lerne ich das Ruhrgebiet kennen. Bertlich – Hassel – Polsum – Marl – Recklinghausen - Herten und Bertlich bilden ein Oval, das im nördlichen Teil des Ruhrgebietes liegt und in dem wir heute laufen werden. Ich freue mich!
Ruhrgebiet, das ist eine einzige riesige Stadt, so mein Vorurteil, das aber wohl nur zum Teil stimmt. Beim Lauf sehe ich nur Felder, Wiesen, Pferde, landwirtschaftliche Anwesen, Wald, Einfamilienhäuser, lockere Bebauung.
Wenn eine Laufveranstaltung zum 100sten Mal stattfindet, dann bin ich beeindruckt. Wenn ich dann aber lese, dass die Bertlicher Straßenläufe „erst“ seit 1984 stattfinden, dann wundere ich mich. Wie soll das gehen? Die Lösung ist einfach: Die Bertlicher Straßenläufe finden 3 Mal im Jahr statt. Jetzt aber staune ich. Man mobilisiert tatsächlich mehrmals im Jahr genügend Helfer für ein solches Mammutprojekt? Ich gratuliere!
Von Stuttgart ins Ruhrgebiet sind es knapp 420 km und bei freier Strecke in etwa 4:30h zu fahren. Wir reisen trotzdem bereits Samstagabend an, sicher ist sicher und ausgeruht am Start zu stehen ist nie ein Fehler. Der ausgewiesene Parkplatz ist leer, die Übernachtung im Bus ist somit gesichert.
Bevor es aber am nächsten Morgen zum Start geht, finden wir uns in der Pausenhalle der Glück-Auf-Werkstätten des Diakonischen Werkes Recklinghausen ein. Bereits um acht Uhr ist geöffnet und das reichhaltige Kuchenbuffet lädt ein.
Eine Voranmeldung ist in Bertlich nicht möglich. Nur am Veranstaltungstag vor Ort kann man sich für die jeweilige Laufstrecke anmelden. Das ist läuferfreundlich, birgt aber für den Veranstalter ein Risiko. In Bertlich aber fährt man mit dieser Strategie offensichtlich bestens, die Teilnehmerzahlen liegen stets zwischen 700 und 1000, heute sind 850 dabei. Das muss man sich mal vorstellen – mitten im unwirtlichen Februar kommen 850 Läuferinnen und Läufer zusammen!
Man kann zwischen acht verschiedenen Streckenlängen wählen. 850m, 5 km, 7,5 km, 10 km, 15 km, Halbmarathon, 30 km und die Marathonstrecke sind möglich. Diese acht Läufe werden zu jeweils verschiedenen Zeiten gestartet. Um 10.10 Uhr die 15km-Teilnehmer, der letzte Lauf, die 5km, um 13 Uhr. Bin gespannt wie sich das gestaffelte Starten auf uns Marathonläufer auswirkt. Wenn wir Glück haben, ist die Strecke auch in unserer dritten und letzten Runde noch einigermaßen belebt!
Um 10.10 Uhr starten die 15km-Läufer und da man genügend Zeit hat, sind auch ein paar Walker mit dabei. Beim Einlaufen kommt mir Heiner mit Stöcken und energischen Schritten entgegen. Zwei Stunden fünfzehn antwortet er auf meine Frage, wie lange er wohl unterwegs sein werde.
Sekundengenau um 10.30 Uhr werden knapp hundert Marathonis auf die Strecke geschickt. Drei Mal müssen wir die 13,9 km lange Runde machen, die fehlenden 500 Meter sind dann zum und im Stadion zu laufen.
Für mich macht es einen Unterschied, ob ich etwas tun muss, oder es freiwillig mache, auch wenn beides Mal vielleicht dasselbe Ergebnis herauskommt. Und in Bertlich muss ich nach fünf Stunden im Ziel sein: „Bitte beachten: Nach 15:30 Uhr keine Streckensicherung, Verpflegung und Zeitnahme!!!“. Wir laufen hier also mit gemischten Gefühlen, obwohl ich die fünf Stunden wohl einhalten kann. Druck ist aber da.
Ich starte von ganz vorne, damit ich wenigstens ein paar Bilder von den Teilnehmern bekomme. Dafür bin ich dann bereits nach 500 Metern ziemlich weit hinten. Hier kommen wir auch am Startpunkt der Halbmarathonis vorbei, die um 10.40 Uhr auf die Strecke geschickt werden.
Die Eisenbahnlinie unterqueren wir bei Kilometer 1 und kurz danach geht es rechts weg auf einen Wirtschaftsweg, leicht ansteigend. Sofort empfängt uns ein unangenehmer, kalter Gegenwind, Felder und Wiesen ringsum bieten keinerlei Schutz. Dazu kommt, dass ich inzwischen Letzter bin, hinter mir ist niemand mehr zu sehen und die vor mir sind mir auch schon hundert Meter enteilt! Ja, kann das denn sein, lauter schnelle Läufer beim Marathon? Ich vermute aber eher, dass da einige zu schnell gestartet sind und sich mitreißen lassen. Wir werden sehen. Bei Kilometer 2,3 erreichen wir den östlichen Ortsrand von Polsum, überqueren dort die Straße nach Bertlich. Hier sichern das erste Mal Polizeibeamte und sorgen für Vorfahrt der Läufer!
Wir laufen jetzt in östlicher Richtung, der Gegenwind lässt nicht nach und nach wie vor sehe ich Angelika und Ulrich in der Ferne vor mir. Kurz vor Kilometer drei läuft der erste Halbmarathonläufer auf mich auf und in einem Affenzahn vorbei. So müsste man laufen können! Eine Minute später folgen der Zweite und Dritte und auf der Brücke über die Eisenbahn erreicht mich dann ein ganzer Pulk. Ich bin nicht mehr alleine auf der Strecke! Ich laufe aber mein gemütliches Tempo von 7 min/km. Wenn ich das durchhalte, reicht es gut für das Zeitlimit. Wenn! Aber Zweifel habe ich noch keine, konnte ich dieses „Tempo“ doch vor 14 Tagen in Rodgau bis zum Schluss halten. Im Marathonfeld bin ich aktuell damit zwar Letzter, durch die Halbmarathonläufer aber irgendwie noch mitten drin.
Alles gar nicht selbstverständlich, das mit dem heute Laufen. Vom 18. Januar 2014 datiert mein letzter Laufbericht auf Marathon4you, danach hielten mich ein Bandscheibenvorfall und ein dorsaler Fersensporn vom Laufen ab. Den Rest des Jahres 14 konnte ich damit vergessen und auch 2015 war nicht viel besser. Erst 2016 ging es wieder aufwärts, bis ich aber annähernd wieder die Marathondistanz „im Griff“ hatte, dauerte es doch das ganze Jahr.
Ich bin also guten Mutes, auch wenn wir immer noch über freies Feld laufen und der elende Gegenwind gewaltig stört. Bei Kilometer vier überqueren wir die Westerholter Straße, wieder gesichert. Die Halbmarathonis werden zahlreicher, laufen auf und in langsamem Tempo an mir vorbei. Ich bin aber immer noch mitten drin und das tut gut. Bei Kilometer sechs dann über die Hertener Straße, ebenfalls gesichert. Der Aufwand für diese Läufe wird mir immer bewusster und meine Hochachtung für die Bertlicher, die das drei Mal im Jahr organisieren, steigt.
Es geht durch ein kleines Wäldchen, Pferde laufen auf der Weide und beim Hof Feuler sehe ich Heiner vor mir, den Walker, der in 2:15h im Ziel sein will. Er ist noch gut drauf, als ich ihn überhole. Seine Wunschzeit hat er eingehalten, wie ich später der Ergebnisliste entnehmen kann.
Das Wetter hat sich gemacht. Beim Start war es noch bewölkt und etwa drei Grad kalt. Nun aber wärmt immer wieder die Sonne und das sollte sich bis zum Schluss nicht mehr ändern. Wieder Mal Glück gehabt.
Bei Kilomter 8,3 ist die Bundesstraße 225 erreicht, ein kurzes Stück geht es auf dem Standstreifen neben der Straße her und dann rechts weg auf einen Wirtschaftsweg, vorbei an ein paar Fischteichen mit Anglern. Ab jetzt werden wir den Wind im Rücken haben und tatsächlich, die nächsten Kilometer bis Rundenende fallen mir wesentlich leichter.
Die nächste Getränkestelle taucht auf, eine von insgesamt sieben, verteilt auf die 14-km-Runde. Immer wird Wasser und Iso angeboten. Nun ja, ich glaube, auch Bananenstückchen waren auf dem Tisch. Da ich bereits im Vorfeld gelesen habe, dass außerdem nichts weiter angeboten wird, habe ich mir zwei Gels mitgenommen und kann auch auf die Bananen verzichten.
Bei Kilometer 11 wird wieder die Hertener Straße überquert, gesichert natürlich, es geht vorbei an ein paar Häusern und dann etwa einen Kilometer geradeaus auf dem Radweg der Recklinghäuser Straße entlang. Bei Kilometer 12,6 überqueren wir wieder die Westerholter Straße, laufen ihr ein paar Meter entlang, gesichert durch Hütchen wegen der Autos.
Nur noch 600 Meter und der Parkplatz ist erreicht. Ein paar Haken und schon geht es die Kettelerstraße hinunter, geradewegs auf das Vereinsheim des SuS Bertlich und das Stadion zu. In dem Moment aber starten die 850 Läufer, allesamt ganz ehrgeizige Buben und Mädchen, die mich mühelos überholen. Sie biegen unten nach links, Richtung Stadion ab, ich nach rechts auf meine zweiter 13,9km-Runde.
Wir haben 12.08 Uhr, meine Zeit von etwa 1:38h für die Runde passt, das wäre eine Zielzeit von etwa 4:55h, alles im grünen Bereich – aber nur, wenn ich das Tempo halten kann. Das aber macht mir keine Sorgen, habe ich oft geübt, ist es doch mein Bestreben, jeden Marathon gleichmäßig zu laufen.
Jetzt wird es einsam auf der Strecke, Halbmarathonis sind ja keine mehr auf der Strecke und die 30km-Leute sind um 12 Uhr gestartet. Sie laufen eine verkürzte 10km-Runde, so dass ich vielleicht in meiner letzten Runde noch welche antreffe.
Mein defensiver Lauf hat sich gelohnt. Ich laufe auf die ersten Marathonis auf, die ihrem schnelleren Anfangstempo Tribut zollen müssen. Das muss fotografiert werden. Sofort sprechen mich die beiden an, fragen, ob sie das Bild bekommen könnten? Ich passe mich dem Tempo an und wir kommen ins Gespräch. Sie erklären mir im Schnelldurchgang das Ruhrgebiet, den Two-Ocean Marathon, noch ein paar andere Läufe und ihren Plan, jeden Monat einen Marathon zu laufen.
Eine halbe Stunde später läuft jemand von hinten auf – Mario, der auf seiner letzten Runde ist und heute Dritter beim Marathon wird. Das ist für mich das Zeichen, das Tempo wieder etwas zu forcieren, sonst wird es nichts mit den 4:55h. Birgit beruhigt mich zwar, man sähe das in Bertlich nicht so eng. Ich will das aber nicht ausprobieren und laufe voraus.
Wieder auf dem Radweg neben der Recklinghäuser Straße (km 25,1-26,4) überhole ich die ersten 30km-Läufer. Es ist wieder mehr Leben auf der Strecke. Einen knappen Kilometer später sehe ich Schlote in der Entfernung, ein klein wenig „Ruhrgebiet“ wie ich es zu kennen glaubte.
Beim Parkplatz überhole ich drei Marathonis und freue mich – Pustekuchen, da haben zwei ihren Kameraden begleitet, der jetzt nach der zweiten Runde aufgeben möchte, weil er den Marathon ohne jegliches Training schaffen wollte. Schon nehmen die zwei wieder Tempo auf und sind bald nicht mehr zu gesehen. Auf der letzten Runde nehmen die mir noch 12 Minuten ab!
Die zweite Runde beende ich nach 3:16h, gut in der Zeit! Die Dritter Runde läuft dann wie gehabt. Es geht vorbei an der Turnhalle, wo die Duschen für die Männer sind, der Straße entlang durch die Zechensiedlung. Die Brücke über die Eisenbahn bietet Ausrede für ein paar Schritte im Gehtempo und schon wieder bin auf freiem Feld. Gegen den Gegenwind kämpfend vorbei an der Baumschule Precker (km 33) und dem Virenschutzzentrum Kaspersky. Oder ist das nur ein Gartenbetrieb gleichen Namens?
Wenige 30-km-Läufer sind noch auf der Strecke, die Straßenüberquerungen sind nicht mehr gesichert. Gut, dass ich mir den Streckenverlauf gemerkt habe und die Schilder noch nicht abgebaut sind. So finde ich doch noch meinen Weg. Ein paar weitere Marathonis und 30-km-Läufer kann ich noch überholen, laufe die Runde auf der Aschenbahn und komme dann punktgenau um 15.53 Uhr im Stadion an.
Ein paar wenige kommen noch nach mir rechtzeitig ins Ziel und genau um 15.30 Uhr beginnt man mit dem Abbau. Zeitnahme weg, Zieluhr weg, Hütchen weg. Alle, die jetzt noch reinkommen, notieren sich ihre Zeit und melden sich bei der Organisation. Sie kommen dann tatsächlich noch in die Ergebnisliste.
Was gibt es noch zu berichten? In Bertlich regnet es meist, es gibt immer Gegenwind und kalt ist es auch. Häufig auch alles zusammen – so zumindest wurde mir unterwegs berichtet. Ich kann das aber, bis auf den Gegenwind, nicht bestätigen. Temperatur gut, Sonne ok, Wetter gut.
• Die Strecke ist amtlich vermessen, gut markiert, jeder Kilometer ist ausgeschildert und an jeder Abzweigung steht ein Streckenposten. Trotz der vielen Laufstrecken ist jeder Kilometer ausgeschildert, was ab und zu zu einer Häufing von Schildern führt. Für jede Streckenlänge gibt es die Kilometerschilder passend zur Startnummernfarbe.
• Gelaufen wird ausschließlich auf einer flachen Strecke mit asphaltierten Wegen und Straßen, auch wenn der Belag manchmal etwas löcherig ist.
• Die Bertlicher Einwohner haben eine Eselsgeduld, zumindest die vielen, die in der Siedlung im Umfeld des Startbereiches wohnen. Sie ertragen all die Ungemach, die mit den drei Austragungen im Jahr verbunden sind. Vielleicht hat man sie ja in die Organisation eingebunden? Angelika wiederum meint, dass die Leute im Ruhrgebiet einfach besser drauf sind als wir Schwaben.
• Der SuS Bertlich ist ein leistungsorientierter Verein, wer für den Marathon fünf Stunden braucht, soll wegbleiben, zumindest aber soll er sich mit den reduzierten Umständen auf der letzten Runde begnügen, obwohl:
• Die gestaffelten Startzeiten sind wunderbar. Man ist auch als langsamer Läufer nur ganz selten alleine auf der Strecke. Ich jedenfalls habe mich unterwegs nie gelangweilt. Vielleicht aber überlegt man sich in Bertlich doch noch, den Start der Marathonis vorzuziehen auf 10.10 Uhr, dann hätte man 20 Minuten mehr Zeit!
Auf jeden Fall würde ich hier jederzeit wieder laufen!
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