„Wolfgang“, sprach die Gattin, bekanntermaßen eine meiner besten Ehefrauen, „am Sonntag kann ich leider nicht mit Dir frühstücken. Ich treffe mich mit Freundinnen vormittags im Café. Anschließend findet der Verkauf der Eintrittskarten für die Möhnensitzung am Schwerdonnerstag statt.“ Das Engelchen auf meiner Schulter preßte scheinheilig etwas wie „Oh, das ist aber schade, Schatz!“ heraus. Das Teufelchen in mir grinste breit (natürlich nur nach innen!) und ratterte sofort sämtliche bekannte, im Hirn verankerte Laufkalender rauf und runter, um diese Gelegenheit unverzüglich gewinnbringend zu nutzen. Heraus kam direkt Bertlich. Bertlich?
Nee, nicht Bad Bertrich, unweit der Mosel und den Maaren der Eifel gelegen, wie Marco vermutete. Das wäre ja nahe gewesen. Bertlich bei Herten im Ruhrgebiet, zwischen Recklinghausen, Gladbeck (Geiseldrama!) und Dorsten ist gemeint, 160 km und je nach Verkehrslage eindreiviertel bis zweieinhalb Autostunden von zuhause entfernt. Also mitten inne Pütt, so hätte man früher wohl gesagt. Aber was ist das Besondere an Bertlich? Wahrscheinlich der Charme des Auffällig/Unauffälligen, des Unaufgeregten, des „so war es früher mal üblich“.
Keine langwierige Voranmeldung, kein Losverfahren, kein gar nichts im Vorfeld der Veranstaltung. Man kam, sah und lief, um Gaius Julius Caesar fast zu zitieren. Es gibt tatsächlich keinerlei Möglichkeit der Voranmeldung. Man schaut also in die Wettervorhersage, es droht kein russischer Winter, sondern ganz im Gegenteil pralle Sonne bei mittags an die 15 Grad. Das überzeugt das Weichei, es springt ins Auto und meldet sich für schlanke 19 Euronen flugs zum Marathon an. Wer nicht ganz so viel anlegen und kürzer laufen möchte, kann auch 30 km, Halbmarathon, 15, 10, 7,5, 5 oder 0,85 km buchen. Und das dreimal im Jahr, jeweils im Februar, September und Dezember. Kein Wunder, daß man uns heute bereits die 107. Ausgabe kredenzt. Da fehlt zu der Anzahl Boston-Marathons nicht mehr viel. „Bertlich – Berlin – Boston“, wie Lauffreund Christian treffend ob der korrekten Reihenfolge bemerkt.
Parkraum ist mehr als reichlich vorhanden, der real-Markt sowie die intelligent gestaffelten Startzeiten machen's möglich. Der Empfang der Startnummer dauert dank bereits zuhause ausgefüllten Anmeldeformulars keine Minute. Das bringt Zeit, und so gönne ich mir noch ein Brötchen und einen Kaffee zu sehr zivilen Preisen, Co-Autor Peter Ickert verkürzt mit interessantem Gespräch zudem die Zeit. Draußen strahlt bereits die Sonne, also besteht kein Grund, bis zum letzten Augenblick drinnen zu bleiben. Trotz der noch einstelligen Temperatur ist es schon kurz vor dem Start sehr angenehm, da bleibt Zeit und Muße für ein Schwätzchen mit Dirk, den man fast überall trifft, und Joey, der seit gestern Mittag rund 110 km nach Bertlich gelaufen ist. Jedem Tierchen sein Pläsierchen.
Knall, Bumm, geht es pünktlich um 10:30 Uhr los, und relativ wenige Marathoner machen sich auf die Beine. Lediglich 62 Finisher weist die Ergebnisliste aus, womit der Veranstalter nicht zufrieden sein kann. Bessere Bedingungen als heute kann man sich für Mitte Februar nicht vorstellen. 1.009 Erfolgreiche über alle acht Disziplinen weist die Ergebnisliste aus, das waren schon mal deutlich mehr, schade. Zunächst durch ein paar Anliegerstraßen mit netteren und nicht ganz so netten (rußgeschwärzten?) Einfamilienhäusern und unter einer Eisenbahnlinie lassen wir Bertlich bald hinter uns und kommen durch eine wunderschöne Allee mit hohen Bäumen, die sich scharf gegen den fast stahlblauen Himmel abheben. Im September spenden die bestimmt willkommenen Schatten und sind optisch noch ansprechender. Auf freies Feld abgebogen, ist der erste km des dreimal zu nehmenden 13,9 km-Kurses schnell erreicht.
Bald schon stelle ich fest, dass die anderen schnell sind, und finde mich ziemlich am Ende des Feldes wieder. Na ja, mal schauen. Nach Überquerung einer gut gesicherten Straße winkt schon die zweite Allee, genauso attraktiv wie die erste. Attraktiv ist auch der Mai, in diesem Fall der Christian Mai, den ich schon am Start begrüßen konnte („Der Mai ist gekommen!“). Unvergessen ist unser brutaler Zweikampf bei der Ahrkreisstaffel in Remagen, den wir auf Platz 1 und 2 der (nicht vorhandenen) Einzelwertung konkurrenzlos beendet haben. Christian siegte damals überlegen dank eines Zeitnahmefehlers, der ihm eine Runde (einen km) ersparte. Diese Rechnung, Freundchen, ist noch offen! Tapfer schreitet er aus, er, der vor allem durch Alternativtraining auffällt: Sauna, weichere und schärfere Getränke, Tischtennis und vor allem Hallenfußball, bei dem ihm, als Tormann fehlbesetzt, ein 120 Kilo-Brecher den Fuß fast abschießt. Rechtzeitig wieder halbwegs fit geworden, geht’s direkt wieder auf die 42,2 km. Nun ja, wenn man schon fast nichts trainiert, muss ab und an wenigstens ein langer Lauf sein. Seine Leidensgeschichte ist so herzzerreißend, dass ich (nicht ganz) spontan beschließe, bei ihm zu bleiben, bevor Schlimmeres passiert.
Nach meinen 3:57 Std. in Dubai vor drei Wochen und jeder Menge, auch weiterer Wettkampfkilometer, steht mir heute der Sinn nach einem Schnitt von vielleicht 6:20 bis 6:30 pro km. Die Realität sieht allerdings anders aus: Knappe 5:45 haben wir für die ersten beiden km benötigt, und da es sich gut anfühlt, wird die Geschwindigkeit beibehalten. In der schönen Sonne vergehen die km dank angeregter Unterhaltung nur so im Fluge. Wir haben uns lange nicht gesehen, geschweige denn gesprochen, und so geht der Stoff nicht aus. Vor allem war Christian schon häufiger hier unterwegs und hat zu fast jedem Schlagloch eine Anekdote parat. Aber so schlecht ist der Weg nicht, ganz im Gegenteil. Mich erinnert er an Kevelaer: Schmale, nicht gesperrte Straßen, äußerst rücksichtsvolle Autofahrer, häufig eine weite Sicht, immer wieder Nettes fürs Auge. Ich stelle jetzt schon fest, dass das heute eine gute Wahl war und ich hier schon früher meine Visitenkarte hätte abgeben sollen.
Überall stehen die Freunde und Helfer, um uns über die etwas größeren Straßen zu helfen, damit wir unseren Weg durch die Fluren gefahrlos fortsetzen können. Von hinten kommt der Führende des Halbmarathons, Bernd Diekmann, angerauscht und hat noch einen freundlichen Blick für die Kamera. Am Ende wird er, knapp geschlagen, den dritten Rang belegen. Der Bürgermeister macht sich heute besonders beliebt, denn er lässt für alle Läufer anlässlich seines 60. Geburtstags einen privaten Verpflegungsstand betreiben, während er selber durch die Gegend hechelt. Eine sehr gute Maßnahme, auf Anforderung soll es sogar Bier gegeben haben. Richtiges, wohlgemerkt! Pferde zur Linken und Pferde zur Rechten schauen dem Treiben mehr oder weniger verständnisvoll zu, während wir uns auf die zweite Steigung begeben, die allerdings, genauso wie die erste, völlig harmlos ist.
In einem Wäldchen ist die Hälfte der ersten Runde gepackt, es läuft unverändert rund. Das Wetter ist zwar danach, aber das Hinweisschild auf den Spargel- und Erdbeerhof kommt jahreszeitlich leider zu früh. Durch weitere Alleen kommen wir an einem herrlich-blauen Krokettenfeld vorbei, es ist ein Traum. Nota bene: Es ist Mitte Februar! Wieder mal beglückt uns eine von sieben offiziellen Verpflegungsstationen, die vornehmlich Wasser und Iso bereithalten. Km 10 ist nach gut 57 Min. erreicht, damit eine erneute sub 4 denkbar. Soll ich es versuchen?
Ein längerer Radweg parallel zu einer Straße bringt uns zu einem Riesenfeld, auf dem im großen Stile Rollrasen hergestellt wird. Christian weiß, dass der auch in so manches Fußballstadion wandert. Etwa auch in das dieses Vereins aus Herne West? Gut, dass mein angehender zweiter Schwiegersohn nicht mit von der Partie ist, der hätte garantiert ein paar Maulwürfe ausgesetzt. Unser Weg entlang des Feldes ist einigermaßen geflickt, Christian vermisst die Schlaglöcher. Im Hintergrund leuchtet die Ölraffinierie Scholven, als wir auf den letzten km der ersten Runde einbiegen, wo der Mann an meiner Seite wieder ganz tief in die Anekdotenkiste greift und plastisch beschreibt, wie er vor Jahren, Jesus ähnlich, das siebte Mal zusammengebrochen ist und den Graben düngte. Nur die beherzte Flucht rettete ihn vor der Fürsorge netter Mitmenschen, die schon die Ambulanz rufen wollten.
Um den real-Parkplatz und zwei, drei weitere Ecken herum laufen wir genau auf das Stadion, unser späteres Ziel zu, und haben die erste Runde geschafft. Sekunden nur befinden wir uns vor den 10 km-Läufern, die mit einem lauten Knall auf die Strecke geschickt werden, kaum dass wir um die Ecke gebogen sind. Sie rauschen erst einmal in Bataillonsstärke an uns vorbei. Nach den 14 km sind bei mir 1:20 Std. vorbei, das passt noch. Langsam setze ich mich von Christian ab, der seinem zu hohen Anfangstempo Tribut zollen muss. Kornbrennerei, Polizei, Pferde, Halbzeit. 2:01 Std. geht sich zwar noch aus, wie Freund Herbert sagen würde, aber ich beschließe, das Schicksal nicht herauszufordern und glaube, etwas langsamer zu werden.
Das Schicksal holt mich stante pede in Form von vier Begleitern ein, denen ich mich zunächst klammheimlich anschließe. Zwei von ihnen führen eine angeregte Unterhaltung und haben offensichtlich noch viel Luft. U. a. geht es um die diesjährige Tour de Tirol, dem drei-Tage-Ereignis über 10 km, Marathon und Halbmarathon am Wilden Kaiser, mit der ich für Oktober 2020 selber liebäugele. Er biegt unvermittelt kommentarlos ab und lässt seine attraktive Begleiterin schutzlos in der Wildnis zurück. Das rührt das Herz eines älteren Herrn, der unverhofft seine Chance gekommen sieht und sich unverzüglich, selbstverständlich vollkommen selbstlos und in lauterster Absicht, an sie heranarbeitet.
Die Dülmenerin Nina ist eine angenehme Gesprächspartnerin, die viel zu erzählen hat und auch gerne ihrem neuen Begleiter zuhört, der ja auch nicht ganz laufunerfahren ist. Etwas störend wirkt nur ihr guter Freund Mark, der die Szenerie wohl, völlig zu Recht, mit Argwohn betrachtet und wieder aufgeschlossen hat. Nein, Späßchen, auch der Tortour de Ruhr-Aspirant (230 km) hat viel Interessantes zu berichten, die km fliegen vergleichsweise vorbei. Und die Pace ist natürlich nicht reduziert. 30 km wollte Nina heute eigentlich unter die Beine nehmen, aber das Wetter ist so schön, die Form gut, da kann frau doch gleich ihren dritten Marathon absolvieren und eine neue pB aufstellen. Viele km bleiben wir zusammen. Irgendwann bleiben sie dann bei einer Verpflegung stehen und ich bin wieder alleine, beschließe aber, das Tempo hochzuhalten, ohne auf der allerletzten Rille zu laufen. 2:40 Std. stehen nach 28 km zu Buche.
Auch die dritte Runde läuft ganz ordentlich, auch wenn ich die letzten km nicht mehr ganz so geschmeidig vorankomme. Drei km vor dem Ziel überholen mich die beiden wieder, Mark sagt so etwas wie: „Arschbacken zusammenkneifen und dranhängen!“, aber das ist erstens mein Spruch immer gewesen und zweitens fehlt mir dafür dann doch der Wille. Nee, eigentlich das Vermögen. Ich biege ins Stadion ein und lege auf der Aschenbahn die letzten dreihundert Meter zurück. Die knappen 4:05 Std. im Ziel sind doch prima, entsprechend zufrieden bin ich. Nina ist nach 4:23 beim ersten und 4:13 beim zweiten gute 4:03 Std. gelaufen. Wer nur ein wenig von Folgen und Reihen versteht, weiß, was das für Hannover, ihren geplanten vierten Marathon, heißt. Nicht wahr, Nina? Sie startet eben durch.
Die Dusche ist warm, ein Hochgenuss, nachdem ich meine bewachte Tasche aus der Sporthalle wieder in Empfang genommen habe. Die einzige Enttäuschung des Tages wartet am Buffet, das nämlich keines mehr ist. Ich hatte mich sehr auf Erbsensuppe gefreut, aber die ist, wie fast alles, aus. Da habt Ihr leider zu eng kalkuliert, so muss ich auf die vorletzte Portion Pommes, ideale Läufernahrung, zurückgreifen. Egal, der Tag war in der Tat gewinnbringend genutzt. „In Bertlich fühlt man sich wohl“, so lautet der Titel eines der unzähligen Laufberichte Werner Kerkenbuschs über die hiesige Veranstaltung. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Streckenbeschreibung:
Amtlich vermessener und damit bestzeitentauglicher Dreirundenkurs von 13,9 km mit 500 m An- und Zieleinlauf.
Startgebühr:
19 €
Weitere Veranstaltungen:
30 km, Halbmarathon, 15 km, 10 km, 7,5 km, 5 km, 850 m.
Leistungen/Auszeichnung:
Urkunde
Logistik:
Sehr viel Platz, optimal, nichts zu meckern.
Verpflegung:
Wasser, Iso, Bananen.
Zuschauer:
Wenige
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