Keinerlei Reaktion der Spaziergänger auf uns Läufer. Ein Mann mit Ruhrpott-Dialekt echauffiert sich gerade über die schlechte Erziehung der anderen Wanderer. Mein „Grüß Gott“ wird mit einem „Geht doch“ quittiert. Ein Ehepaar hält mir ein Weidegitter auf und macht mich auf das Verlassen der Alpenrepublik aufmerksam. Ein deutsches Schild sehe ich nicht.
VP-Stelle am Berghaus am Söller. Wir haben die zweite von drei Bergspitzen erreicht. Dazwischen gibt es aber noch viele kleine „giftige“ Anstiege. Eigentlich geht es immer auf und ab. Nach dem Touristen-Hotspot betreten wir einen Naturerlebnispfad über einen Holzbohlenweg durch ein Hochmoor. Hier hat man die Wahl: Mutti umrennen oder im Sumpf ein feuchtes Grab finden. Das wäre eine Schlagzeile: „Trailrunning-Reporter auf Nimmerwiedersehen im Söllereckhochmoor abgetaucht“. Gut, dass Mutti ein Einsehen hat und am Ende doch etwas beiseite rückt.
Dann stetig bergab. Jetzt weiß ich, warum die Trillerpfeife mitzunehmen war: Damit man die Ausflügler auf sich aufmerksam machen und einen Zusammenprall verhindern kann. „Schau wie mit'm Ofenrohr ins Gebirg!“ lese ich auf einer Infotafel. Eine Familie erkundigt sich, wie weit ich schon unterwegs bin: 43 km. Yeah, ich habe einen Marathon hinter mir. Ich wünsche noch einen schönen Sonntag und bin auf und davon. Judith wurde an etwa gleicher Stelle von einem älteren Herrn darauf angesprochen, ob sie die 69 km zu laufen gedächte. Auf die weitere Frage „Und wie machen Sie das?“ gab sie die ehrliche Antwort „Keine Ahnung!“ und rief damit große Heiterkeit hervor.
Ein Mann trägt einen Schwimmring auf dem Kopf, seine Kinder Handtücher und Schwimmnudeln. Absonderliche Kopfbedeckungen sind hier anscheinend an der Tagesordnung. Auch mit in Tierform gebogenen Luftballons schmückt man sich gern. Alles Flachlandtiroler, die die gesunde Bergluft übermütig gemacht hat? Noch ein kleiner VP, dann geht es steil auf einem Waldweg nach unten. Stufen sind mit rutschigen Metallplatten in den Waldboden gebaut. Während ich auf wackeligen Beinen nur mühsam vorankomme, rauschen neben mir einige Läuferinnen in atemberaubendem Tempo an den Stufen vorbei. Unglaublich. Es geht alles so schnell, dass ich ganz das Fotografieren vergesse.
Der dunkelgrüne Freibergsee taucht zwischen den Bäumen auf. Ganz hinten ein Strandbad mit vielen Sonnenschirmen. Das erklärt die Badeausrüstung der Wanderer. Deutschlands südlichster Badesee soll im Sommer bis zu 25 Grad warm werden. Ein Läufer macht mich auf die Skiflugschanze hinter dem See aufmerksam. Die Heini-Klopfer-Schanze – der „schiefe Turm von Oberstdorf“ - ist zurzeit die weltweit viertgrößte Anlage ihrer Art. Sie ist benannt nach dem Architekten und Skispringer Heini Klopfer, der den Entwurf lieferte und 1950 auch den ersten Flug auf der Schanze absolvierte. Der heutige Anlaufturm stammt aus dem Jahr 1973. Im Vorfeld der Skiflug-WM 2018 wird sie momentan umgebaut und auf den neuesten Stand der FIS-Regularien gebracht.
Ein schwarzer Hund wuselt um mich herum. Der begleitet die beiden Trailrunnerinnen hinter mir, die ihn mit nach Oberstdorf mitnehmen wollen, um ihn dort abzugeben. Er wäre ihnen zugelaufen. Kurze Zeit später sind die drei dann auch vor mir. Ziemlich flach geht es jetzt auf Oberstdorf zu. Leider touchieren wir diesen Mega-Hotspot des Allgäu-Tourismus nur. Am Eissportzentrum vorbei geht es rechts herum schon wieder nach oben. Über uns die Nebelhornbahn. Die Skisprunganlage „Erdinger Arena“, bis 2004 bekannt als „Skisprungstadion am Schattenberg“ und seit 1953 Schauplatz des Auftaktspringens der Vierschanzentournee, erwartet uns. Noch mal 15 Meter nach oben und Zeitnahme: 49 km und ca. 2.000 Höhenmeter sind in 7:25 Stunden (cut-off 8:30 h) geschafft. Mein Thermometer zeigt 36 Grad in der Sonne.
Auch hier das volle Verpflegungsprogramm. Sogar Massagen werden angeboten. Ich halte mich, zum Namen der Arena passend, an ein eiskaltes Erdinger Weißbier Alkoholfrei. Patric, der Judith und mich ein Stück weit begleitet hat und den wir vom Karwendel-Berglauf her kennen, hört hier auf. Sein linkes Knie macht Probleme. Der riesige Vorteil dieses Ultras ist die Möglichkeit, bei km 49 mit Medaille und Erwähnung in der Ergebnisliste aufzuhören. Da ich aber nun zur letzten Cut-off-Stelle in 9 Kilometern Entfernung fast vier Stunden Zeit habe, weiß ich, was zu tun ist. Meine linke Schulter schmerzt zwar, doch nutze ich die Gelegenheit zur Massage lieber nicht. Nicht zu lange pausieren, womöglich behalten die mich sonst da.
Ein letzter Blick auf die Skisprunganlagen, dann geht es am Faltenbach entlang nach oben. Hans-Dieter aus der Altersklasse M 75 zieht an mir vorbei. Die Sache ist einfach: Noch 10 km und ca. 1000 Höhenmeter, dann geht es nur noch bergab, 10 km lang. Easy. Alles Kopfsache.
Der Weg ist hier nach Max Wallraf (1859 - 1941) benannt. Der langjährige Oberbürgermeister von Köln, von 1917 bis 1918 Staatssekretär im Reichsamt des Innern, von 1924 bis 1925 als Vertreter der DNVP Reichtstagspräsident und seit 1933 Mitglied der NSDAP, verbrachte seinen Urlaub oft in Oberstdorf. Von ihm stammt der Vorschlag, einen Höhenweg auf der Westseite des Rubihorns anzulegen. Die Berge rechts von uns erheben sich auf über 2.000 Meter. Wir genießen lieber die Blicke auf das Tal der Iller. Ruhig ist es hier. Stefan überholt bei km 51. Er wird 50 Minuten eher im Ziel sein als ich. Da zeigt sich, wer noch Reserven hat. Claudia und Thomas werde ich unterwegs noch öfter treffen. In der Ferne kann man schon Sonthofen sehen. Unser Ziel befindet sich am südlichen Ende. Eine Wanderin pflückt wilde Waldbeeren am Wegesrand.
Der urige Alpengasthof Gaisalpe ist stark von Ausflüglern frequentiert, obwohl es hier keine Bergbahn gibt. Uns erwarten ein freundliches Team an der VP-Stelle und die letzte Möglichkeit zur Toilettenbenutzung.
Langsam geht es weiter bergauf und bergab. Hier ist nichts mehr los. Umso besser ist jetzt die Markierung mit Flatterbändern. Da kann man sich nicht verlaufen. Eine Bank auf einer Lichtung lädt zur Pause ein. Das braune Holz ist kochend heiß. Ich studiere das Höhenprofil, das ich mir eingesteckt habe. Franz und Julia kommen vorbei. Julia kennt mich schon von anderen Veranstaltungen. Da hänge ich mich doch an die beiden jungen Trailer ran. Der Weg wird recht matschig. Ein Hinweisschild kündet vom nächsten VP in 300 m Entfernung. Der liegt an einer Forststraße und preist als Spezialität Schokolade an. Auch eine „Duschmöglichkeit“ wäre hier gegeben, aber ich winke ab: Zuviel Technik im Rucksack, der die Nässe abträglich wäre.
Die größte Herausforderung steht an: Auf einem Kilometer sind 350-550 Höhenmeter, je nach Trailrunnerlatein, zurückzulegen. Durch den Wald windet sich der Weg empor - meine Spezialität. Der Höhenmesser meiner Uhr zählt quälend langsam. Ein Höhenmeter pro vier Schritte. Dafür wird es auch immer ein bisschen kühler. Links geht es manchmal steil nach unten. Nach dreißig Minuten mache ich ein Panoramafoto und falle nach hinten in die Wiese. Wunderbar. Ich könnte ewig so liegen bleiben. Gibt es im Allgäu Zecken? Eine Bremse macht sich an meinem Fotoauslösefinger zu schaffen. Besser schnell weiter.
Früher als erwartet, sehe ich das Gipfelkreuz des Sonnenkopfs, mit 1.712 Metern der höchste Punkt der Strecke. Ein Helferteam hat Getränke (kein Gipfelschnaps) und Salzstangen hier hinauf geschleppt. Ein Schlachtenbummler, den ich schon zum dritten Mal sehe, ist auch da. Er wartet auf seine Begleiterin, die bald eintrifft. Von hier oben kann man noch mal die hohen Berge im Osten begutachten. Man sieht in zwei Kilometern Entferung den Voll-VP mit seinen orangefarbenen Fahnen. Dann breche ich zu den letzten lockeren 10 Bergab-Kilometern auf. Hans (M75) hat zu unserem Grüppchen aufgeschlossen. Er lebt in den USA, ist aber in Baden-Württemberg geboren. Er kennt Joe vom Marathon in Sri Lanka. So klein ist die Welt. Und schwupp ist er auf und davon.
Über eine Kuhwiese geht es stetig bergab. Tiere sieht man hier keine. Die sind auf der anderen Talseite. Für mich gibt es am VP einen Stuhl und ein alkoholfreies Bier. Noch weiß ich nicht, dass es das letzte Bier dieses Laufs ist.
Jeder Kilometer ist jetzt markiert. Es geht abwechslungsreich über Forststraßen und kleine Pfade nach unten. Schon von weitem hört man die großen Kuhglocken beim Sonthofer Hof. Noch einmal etwas trinken und dann schnell weiter. Eine Straßenpassage verhilft mir zu einem 6-Minuten-Schnitt. Judith ruft an. Sie ist bereits im Ziel. Ich habe noch gut vier Kilometer vor mir. Wir kommen in den Ortsteil Hofen. Es ist drückend heiß, aber unerwartet führt der Weg jetzt nach rechts in ein kleines verwunschenes und vor allem schattiges Tal. Am Schwarzenbach entlang geht es weiter bergab. Kneippkur gefällig? Jetzt nicht. Auch keine Regendusche. Ich möchte nicht mehr von dem freundlichen Läufer im Shirt mit Tieraufdruck überholt werden und hole das Letzte aus mir raus.
Bahnübergang, die Schranken sind offen, einen Stopp samt Zeitgutschrift braucht es also nicht. Viele Finisher feuern mich an. Zieleinlauf. Ich bekomme die 10-Jahre-Allgäu-Panoramalauf-Medaille und später eine Läuferfigur auf einem Stein, die den „Ultras“ vorbehaltene Trophäe. Judith wartet auf mich. Zielverpflegung? Ziemlich Fehlanzeige: Es gibt Wasser, Cola und Iso-Getränk sowie noch ein paar Stücke Kuchens. Die Crew im orangenen Shirt hat anscheinend Feierabend gemacht, und auch die Familienbrauerei packt gerade ihre Anhänger ein. Kein Bier: Nach der perfekten Streckenverpflegung ist das hier im Ziel schon traurig. Hinter mir kommen immerhin noch 20% der Ultra-Finisher.
Freude verbreitet dafür der zweite Platz von Judith in der Altersklasse. Nummer drei und vier sind noch auf der Strecke.
Der Sponsor Wonnemar verwöhnt uns mit einem Kompletteintritt in das Bad, samt Sauna. Wir genießen das warme Wasser. 12 Stunden war ich unterwegs, mein längster Lauf bisher. Schon jetzt spüren wir, dass uns ein Ganzkörper-Muskelkater erwartet. Um unser Befinden präzise zu beschreiben, müssen wir die Abkürzung APUT für Allgäu Panorama Ultra Trail nur um ein K am Anfang und ein T am Ende ergänzen...
Da freut es uns umso mehr, dass wir am 15.8. noch einen Feiertag im „erzkatholischen“ München haben. Leider weckt uns am Morgen von „Mariä Himmelfahrt“ ein Wärmegewitter mit anschließendem Regenguss, so dass wir schon bald Richtung Heimat aufbrechen. Da hatten wir mit dem Laufwetter wirklich Glück!
Der Allgäu-Panorama Ultra Trail wird seinem Namen gerecht: Die Ausblicke im Verlauf eines Tages sind wunderbar. Die Strecke deckt fast jedes Terrain ab. Die Wege sind nicht ausgesetzt. Fast nirgends kommt man sich mit Mitläufern in die Quere, eher schon mit Spaziergängern.
Der Lauf ist aber nichts für Couch Potatoes. Man sollte schon einige Trailläufe hinter sich haben, um die lange Strecke und ziemlich genau 3.000 Höhenmeter nach oben und unten durchzustehen. Postitiv sind die großzügigen Cut-off-Zeiten und die perfekte Streckenverpflegung.
Für Sammler, die einen schlechten Tag erwischt haben, ist die Möglichkeit der Wertung nach 49 km eine super Sache. Die Frage nach dem Einsatz von Stöcken muss jeder selber beantworten.
Das Veranstaltungsprogramm beinhaltet neben dem Ultra einen Marathon und einen Halbmarathon sowie am Vortag einen Kinderlauf und ein 5-km-Rennen.
Der Allgäu Panorama Marathon wurde auch in diesem Jahr zusammen mit dem LGT Alpin Marathon in Liechtenstein und dem Zermatt Marathon als 33M Cup gewertet („3 Monate, 3 Marathons, 3 Länder“).
Ultratrail (69 km/3000HM)
Männer
1 LANG, Stefan GER Allgaeu Outlet Raceteam 07:10:13,0
2 ZÄH, Stefan GER Geh-Punkt Weißenburg 07:18:24,6
3 BAYER, Steffen GER Silvercastle Pforzheim 07:20:12,8
Frauen
1 SCHIEBEL, Gitti GER TV Immenstadt 07:29:55,8
2 SCHICHTL, Kathrin GER Salomon Running Team Austria 07:57:56,1
3 ÜBELHÖR, Eva GER SC Immenstadt 08:25:59,8
Marathon (1500 HM)
Männer
1 MÜLLER, Kay-Uwe GER TSG Schäbisch Hall 3:11:49,1
2 BAUR, Matthias GER Salomon Running 3:21:59,6
3 HÖCHE, Marcel GER Team - Androgon 3:31:52,5
Frauen
1 OEMUS, Daniela GER SV Blau Weiß Bürgel 3:47:23,9
2 BESLER, Heidrun GER SC Altstädten 3:50:06,5
3 SCHINDLER, Christine GER MBB-SG Augsburg 4:18:15,2