Ungeachtet der Schmerzen in meinen Oberschenkeln erhöhe ich mein Lauftempo und erreiche durstig den nächsten Verpflegungspunkt. „Da hast Du aber Schwein gehabt, wir bauen nämlich gerade ab“, ruft mir ein Helfer zu. Er drückt mir das letzte Bier in die Hand. Durstig kippe ich die Pulle auf Ex hinunter und flitze weiter. Kein Zuschauer weit und breit, ich war vollkommen allein. Dann überholt mich der Besenwagen, seitlich prangert der Schriftzug DNF. Spätestens jetzt bleibe ich enttäuscht stehen. Das Gefühl, versagt zu haben, war frustrierend. Schlechtgelaunt gehe ich auf den Besenwagen zu, hebe ihn mühelos hoch und schleudere ihn meterweit von mir.
Der Weck-Klingelton meines Handys plärrt, es ist sechs Uhr morgens. Meine Güte, alles bloß ein verrückter Traum! Ich schaue mich sicherheitshalber um: ich liege im Bett, die Sonne scheint bereits ins Schlafzimmer und Frauchen schnarcht leise vor sich hin. Jawohl, alles so wie immer.
Meine gestrige Harzquerung muss wohl der letzte Gedanke vor dem Einschlafen gewesen sein. Den Ultra spüre ich beim Aufstehen jedenfalls noch immer in den Beinen. Aber gleich so ein fieser Traum? Hatte ich das Ziel, an diesem Wochenende meinen ersten Doppeldecker zu laufen, doch zu hoch gesteckt? Ich gehe ins Bad, drehe das Radio auf, packe meine Siebensachen. Dann verabschiede ich mich von Frau und Töchterchen, denn in wenigen Stunden fällt der Startschuss für den 24. Hannover-Marathon 2014, der größten Laufveranstaltung Niedersachsens. Später würde ich erfahren, das über 18000 Läufer dabei gewesen sind – so viele wie noch nie, Teilnehmerrekord!
Der Zug hält in Hannover, ich schlendere gemütlich durch den Hauptbahnhof und folge zwischen all den Absperrungen einer Gruppe von Gleichgesinnten. Wenig später befinde ich mich schon auf dem Veranstaltungsgelände, welches rund um das Neue Rathaus errichtet wurde. Aus zeitlichen Gründen bin ich gezwungen, die Startunterlagen am Veranstaltungstag abzuholen, also peile ich das Marathon-Messezelt auf dem Trammplatz an. Sowohl regionale als auch nationale Austeller aus den Bereichen Fitness, Gesundheit, Sport und Touristik laden hier erneut zum Shoppen ein.
Im hinteren Teil des Zelts drücke ich den netten Damen Britta und Simone von Mika-Timing meine Meldebestätigung in die Hand. Als ich ein bekanntes Gesicht im Zelt sehe, muss ich unweigerlich grinsen. Vielläufer Heiner Schütte hatte ich bei der gestrigen Harzquerung ebenfalls getroffen. Gerade verteilt er Flyer für den 2. Schloss Marienburg Marathon 2015. Am Zelteingang dann die zweite Begegnung: Ein drahtiger Herr mit Presseausweis lächelt mich an. „Hallo Mario, schön, dass wir uns mal persönlich kennen lernen“, spricht mich Klaus Duwe an, Chefredakteur von Marathon4you. Wir unterhalten uns angeregt über meine gestrige Harzquerung, anschließend wünscht er mir viel Spaß beim zweiten Teil meines Doppeldeckers-Laufs.
Der Hannover-Marathon bietet eine beachtliche Anzahl von Disziplinen. Fasziniert verfolge ich im Start – und Zielbereich, wie sich Hand-Biker sowie Inline-Skater formieren. Später bewege mich zielstrebig zu den Kleiderbeutelcontainern. Ich überreiche einer älteren Dame meinen Krempel. „Na, mein Jungchen? Marathon? Du bist die Ruhe selbst, was?“ In diesem Moment rumort mein Magen, ich flüchte in das nächstbeste Dixie-Klo. Im Innern blicke ich entsetzt auf Uhr und Klobrille: beides bereitete mir absolut keine Freude!
Draußen schwillt derweil die Geräuschkulisse an. Als ich mich aus dem engen Kabuff wieder ins Freie kämpfe, frische Marathonluft einatme und in die Startbahn der riesigen Läuferschlange einreihe, höre ich auch schon die Stimme des Moderators: „Hebt alle eure Hände! Hannover…seid ihr bereit?“. Die Stimmung kocht! In einiger Entfernung vor mir sehe ich die gelben Ballons der grell gekleideten Pacemaker, die Finisher-Zeit „5:00“ scheint mir nicht gerade zum Greifen nahe. Ein kurzer Schulterblick, kaum Läufer in meiner Nähe. Dahinter ist die Startbahn so leer wie die Taschengeldbörse meiner Tochter. Irgendwie erinnert mich die ganze Szenerie gerade wieder an meinen nächtlichen Traum. Ich an allerletzter Stelle? Unvorbereiteterweise ertönt Jubel, langsam setzen sich viele hundert Läufer in Bewegung.
Kopfschüttelnd vertreibe ich die schlechten Gedanken, setze die Kopfhörer auf und will mir eigentlich wieder einen Startersong von Bob Marley anhören…ein Tick von mir. Bei fast allen meinen Starts diverser Laufevents ist der Jamaikaner stets dabei und sorgt nebenher noch dafür, dass ich mich nicht vom anfänglich schnellen Tempo der übrigen Läufer mitreißen lasse. Ich fummelte am mp3-Player herum, der Song lässt sich partout nicht abspielen. Derweil überholen mich die restlichen Läufer. Nomen Est Omen? Jemand klopft mir grinsend auf die Schulter: „Lass gut sein, genieß doch den Song der Scorpions, der grad aus den Boxen dröhnt!“ Okay, recht hat er. Ich peile den gelben Ballon der letzten Pacemaker-Gruppe an und beginne meine Aufholjagd.
Nach gut einem Kilometer feiere ich zusammen mit Siegesgöttin Victoria meinen ersten Teilerfolg, als ich an dem Ballon mit der Zeit 5h:00 vorbeilaufe. Es scheint, als wolle mir die nette Lady aus knapp fünfzig Meter Höhe noch einen Lorbeerkranz hinterherwerfen, aber ich winke dankend ab. Hinter mir entfernt sich die Waterloosäule zusehends.
„Schweiß fließt, wenn Muskeln weinen“, erinnert mich der rückseitige T-Shirt Spruch eines Läufers. Ja, die Muskeln heulen mir bereits jetzt schon eine Kante ans Bein. Der gestrige Ultra mit seinen einundfünfzig Kilometern und über eintausend Höhenmetern machte sich immer deutlicher in meinen Oberschenkeln bemerkbar.
Es bleibt keine Zeit, bereits jetzt schon an die ungeheuer lang wirkende Marathondistanz nachzudenken. Wir passieren Schützenplatz, Sprengel-Museum und Maschsee. In regelmäßigen Abständen werden die Läufer mit Sehenswürdigkeiten belohnt. Die Lauffreude kann ich in den Gesichtern ablesen, dieser Tag verspricht herrlich zu werden. Und dann sehe ich den nächsten Ballon mit der 4h:45. Na also, alles paletti. Ich überhole die Pacemaker-Gruppe, drehe mich kurz um und drücke den Auslöser meiner Kamera. Der erste VP kommt nach vier Kilometern in Sichtweite. Dankbar nehme ich den Wasserbecher von der freundlich lächelnden Helferin entgegen.
Erstaunt entdecke ich, wie ein Rollstuhlfahrer von zwei jugendlichen Rotkreuzlern durch den Läuferstrom geschoben wird. Später beobachte ich, wie sich alle paar Kilometer die Läufer Staffelweise hinter den Rollstühlen abwechseln.
Ich hatte mir den Streckenverlauf nicht im Detail angesehen, denn ich lasse mich gern überraschen. Ich reagiere daher verdutzt, als ich ein Stückchen durch die südliche Leineaue laufe. Die enorme Biotopvielfalt der Leineaue kann auf naturkundlichen Spaziergängen erkundet werden. Mehrere Informationsstationen am Wegesrand erzählen Wissenswertes über die Geschichte der Landschaft und der Tier – und Pflanzenwelt. Vorbei geht es auch an einem Kleingärtnerverein. Vereinzeltes Händeklatschen. „Kraut und Rüben“, denkt sich sicherlich so manch Schrebergärtner bei diesem ungewohnten Anblick.
Dann geht es erneut über die Leine zurück Richtung Döhren. Ich lasse den Ballon mit der Aufschrift 4h:30 hinter mich…kurz bevor ich mit der Hildesheimer Straße die so ziemlich längste Streckengerade des Marathons in Angriff nehme. Zwei kleine Mädels strecken mir die Hand entgegen, wollen, dass ich abklatsche. Als ich mich Ihnen nähere, ruft mir eine der Beiden keck zu: „Aber wehe, Du hast Schweißhände! Bääh!“
Kleiner Abstecher in die Vergangenheit: Anfang Mai 2011 hatte ich in einem Fitnessstudio in Döhren mit dem Lauftraining angefangen. Eine Frau mittleren Alters unterhielt sich mit einer Mitarbeiterin über ihren bevorstehenden Marathon; sie erwähnte ihr Scheitern im Vorjahr, wolle es aber erneut versuchen. Ich frage, wie viele Kilometer man da so läuft. “Ach herrjeh, einfach vieeel zu viele. Lass gut sein und geh wieder an die Hantelbank“, winkte Sie ab. An der Pinnwand des Studios hing von Veranstalter „eichels:event GmbH“ eine Teilnehmerinformation für die Halbmarathondistanz aus. Die Neugierde hatte mich gepackt. Zweimal trainierte ich sehr ambitioniert für jeweils eine halbe Stunde auf dem Laufband und war danach der felsenfesten Überzeugung, dass der Lauf über 21 Kilometer kein Problem sein sollte. Das würde sich noch bitterböse rächen - doch später mehr dazu.
Ein Typ am Straßenrand reißt mich aus meinen Gedanken: „Mario, du schaffst das, weiter so!“ Verwundert blicke ich zurück. Hä? Woher kennt er meinen Vornamen? Ach ja…die Starternummer. Das würde mir jedenfalls heute noch viel öfters passieren.
Ein Wahnsinn, diese endlose Gerade durch die Südstadt Richtung Zentrum, vorbei an Döhrener Turm und Gilde-Brauerei. Die Begeisterung der Zuschauermenge entlang der Hildesheimer puscht zusätzlich, ich kann mein Tempo im 6er Schnitt halten. Ein Erfrischungspunkt taucht auf, ich lösche meinen Durst. Währenddessen blicke ich nach oben. Der anfänglich graue Schleier wird durch weiße Wolken und strahlend blauem Himmel ersetzt. Ich begrüße die Sonnenstrahlen, es wird zunehmend wärmer.
Gelber Pacemaker-Ballon am Horizont? Fehlanzeige. Stattdessen sichte ich einen roten Heißluftballon; per Kran werden Gäste am Aegidientorplatz auf gut vierzig Meter Höhe hochgezogen. Die Fernsicht da oben muss beeindruckend sein.
Der Hannover-Marathon bietet auch weiterhin fortlaufend Sightseeing der Superlative: Vorbei geht es an Opernplatz, zentrale Fußgängerzone rund um Kröpcke-Uhr, Hauptbahnhof am Ernst-August-Platz und VW-Tower.
Dann passiert das Teilnehmerfeld den Zoo, den fünftältesten Tierpark Deutschlands. Der Zoo liegt im gleichnamigen Stadtteil und umfasst eine Fläche von 22 Hektar. Ich halluziniere vermutlich bereits, da ich während der letzten VP’S nur Wasser getrunken hatte. Jedenfalls macht es den Anschein, als würde eine überproportional große Flasche auf zwei Beinen vor mir flüchten. Ja, ich habe die heftig schwitzende Bierpulle letztlich hinter mich lassen können – siehe Foto.
Im bevölkerungsreichsten Stadtbezirk von Hannover herrscht absoluter Ausnahmezustand: die Zuschauermenge klatscht, tobt, jubelt! Von Dachgeschoßfenstern, Balkonen und Terrassen schreien die Leute meinen Namen. Einen Augenblick lang verwandelt sich Vahrenwald-List in das römische Kolosseum – Gänsehautfeeling. Ahu ahu ahu! Der Spieleveranstalter versteht es vortrefflich, sowohl das Publikum als auch tausende von Gladiatoren am heutigen Tag bei Laune zu halten. Ein Fan bläst in die Tröte, hebt den Daumen. Dann verlasse ich diesen besonderen Streckenabschnitt und fühle mich lebendiger denn je…diese Ehre wurde im antiken Rom normalerweise nicht jedem Arenakämpfer zuteil.
Die Tagesaufgabe aller Marathonis scheint klar definiert: im Uhrzeigersinn soll Hannover abgelaufen werden. Von Vahrenwald aus geht es im letzten Streckendrittel wieder ins Grüne. Als ich am Welfenschloss im Stadtteil Nordstadt vorbeilaufe, erinnere ich mich wieder daran, warum ich damals mal hätte intensiver für den Halbmarathon trainieren sollen.
Wir erinnern uns: zweimal Laufband, und Mario fühlte sich für den Halben bereit. „Dann melde Dich endlich an, übermorgen geht’s bereits los. Noch kannst Dich im Neuen Rathaus nachmelden“, überredete ihn damals eine Mitarbeiterin in der Muckibude seines Vertrauens. Gesagt, getan: am Veranstaltungstag brannte bei dreißig Grad im Schatten gnadenlos die Sonne vom Himmel. Mario ignorierte gekonnt sämtliche Erfrischungspunkte, wurde langsamer und langsamer. Bei Kilometer elf und Höhe Uni Hannover wurde die arme Sau dann vom Mann mit dem Hammer der bitteren Erkenntnis niedergeschlagen. Nix ging mehr!
Mehrere Studenten verfolgten das torkelnde Elend von der Straßencouch aus. Einer von Ihnen hielt stumm ein Schild hoch, auf dem eine sagenumwobener Spruch Stand: „Schmerz vergeht, Stolz bleibt“. Mario sah das Schild, legte irgendeinen versteckten Schalter um und rannte die letzten Kilometer plötzlich mit einer derart affenartigen Geschwindigkeit ins Ziel, das er…nun ja, aus Sicht der Zuschauer ereignete sich damals etwas gänzlich anderes. Ein Zombie schlurfte mit blutunterlaufenden Augen traumatisch ins Ziel. Als er so auf dem Bürgersteig lag und man ihm die Medaille um den Hals hing, fühlte er sich wie Phönix aus der Asche: Wiedergeboren und fortan laufsüchtig.
Wie vor vier Jahren, so hat sich glücklicherweise auch heute nicht viel geändert: in Herrenhausen und Nordstadt werden die Läufer von den Studenten frenetisch gefeiert! Am Straßenrand werden an einer „Dopingstation“ sogar eine bestimmte Sorte Kekse angeboten. Man will mir welche reichen, ich lehne lachend ab. Am elften Erfrischungspunkt trinke ich zwei Becher Cola und blicke wie beiläufig auf die gegenüberliegende Seite der Herrenhäuser Allee rüber. Beinahe hätte ich mich verschluckt: dort erblicke ich eine endlos lange Traube von Marathonis, die die gesamte Länge des Georgengartens entgegengesetzt zurück lief. Vage erkenne einen gelben Ballon…vermutlich die 4h:15. Diese endlos lange Traube, ein krasser Anblick.
Als ich die Herrenhäuser Gärten umrunde, fällt mir erneut eine Rollstuhlstaffel auf. „Wir dreh’n am Rad!“ steht auf der T-Shirt-Rückseite der Läufer. Erneut bewundere ich das soziale Engagement vom Jugendrotkreuz.
In einem Palais im Georgengarten befindet sich das Wilhelm-Busch-Museum, an dem ich aktuell vorbeilaufe. Die letzten Kilometer sind immer besonders anstrengend, trotz der grünen Pracht um mich herum. Ein Marathoni spricht mich an: „Hey, nur noch vier Kilometer laut Beschilderung. Aber die Pacemaker holen bedrohlich auf.“ Ich blicke zurück, und tatsächlich erkenne ich in einiger Entfernung den gelben Ballon mit der Aufschrift „4:30“. Nicht mit mir! Ich mobilisiere nochmals versteckte Energiereserven und versuche, meinen 6er Schnitt noch zu erhöhen.
Am Leibnizufer der Leine passiere ich die drei Nanas der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle sowie Leineschloss. Ich will nur noch ins Ziel und dort irgendwo in Ruhe schlafen. Am Horizont ragt das stählerne Hochhaus der NordLB mit den markant versetzten Blöcken in den Himmel, aber ich habe meinen Tunnelblick extra für den Zieleinlauf aufgespart. Hier stehen die Zuschauer reihenweise Spalier, ich bin einmal mehr schwer beeindruckt von den Hannoveranern. Ein Akkustik-Tsunami aus Jubelschreien schlägt mir entgegen.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich drei mir sehr wohl bekannte Zuschauerinnen in der ungeheuren Menschenmenge: Töchterchen Angelina, meine schwangere Frau Nicole sowie Debbie, eine nette Bekannte. Dann der magische Moment: ich laufe durchs Ziel und unwillkürlich durchdringt mich eine herrlich langanhaltende, wohltuende Gefühlsmischung aus unendlicher Erleichterung und Glück!
An dieser Stelle einen grinsenden Gruß an Aschu: Bruchpilot Mario hat den Doppeldecker sicher gelandet. Nach vier Jahren des Laufens also der erste Marathon auf hannoverschem Boden. Wurde aber auch Zeit.
2015 will meine Frau mit mir zusammen ihren ersten Halbmarathon in der Landeshauptstadt laufen. Ich weiß, dass Sie es schaffen wird - im Hinblick auf das 25. Hannover-Marathon Jubiläum ist meine Vorfreude daher doppelt so groß!