Was verbinden Thomas, Vanessa, Raphaela, Bjarne, Swaantje, Sergey, Rolf oder Tülay? Diese, sowie über dreißigtausend andere AthletInnen, hatten sich über viele Wochen hinweg akribisch auf ein ganz besonderes, alljährlich stattfindendes Lauffestival in Hannover vorbereitet. Alle hatten emotional auf diesen einen Moment hin gefiebert: am 26.04.2020 den nunmehr 30. HAJ Hannover-Marathon erfolgreich und gemeinsam zu finishen. Aufgrund der Infektionsdynamik bleiben Großveranstaltungen voraussichtlich nun bis zum 31.08.2020 untersagt - darunter auch viele Lauf-Events.
Alle Laufberichte und Bilder vom HAJ Marathon Hannover
findet man hier auf Marathon4you.de
Die größte Stärke eines jeden Marathon in Bezug auf das Gemeinsame und Verbindende ist in Corona-Zeiten seine größten Schwäche: das enge Miteinander! Veranstalterin Stefanie Eichel brachte es in den sozialen Medien dann auch emotional auf dem Punkt: „Auch aus unserer Sicht ist die Entscheidung der Absage in der aktuellen Situation in jeder Hinsicht alternativlos. Dennoch tut es uns aus tiefstem Herzen leid.“
Nur zwei Tage später ließ die seit nunmehr zwanzig Jahren bestehende, hannoversche Sport – und Eventagentur dann aber eine überraschende Initiative vom Stapel: Sowohl bereits gemeldete Teilnehmer als auch Interessierte bekamen die Gelegenheit, sich auf einer eigens eingerichteten Webseite noch bis zum 16. April 2020 für eine ganz besondere Alternative anzumelden. Der Veranstalter rief zum„StayAtHomeMarathon“ auf, wobei jeder für sich abseits aller bekannten Hotspots an dem Ort seiner Wahl, in seinem eigenen Wohlfühl-Tempo, seiner Lieblings-Route sowie seiner ganz persönlichen Disziplin starten sollte. Wenige Tage vor dem besonderen Event lag die Sprachlosigkeit wohl vor allem auf Seiten des Veranstalters: Weit über achttausend Anmeldungen konnten gezählt werden... dazu kamen noch viele spontane Nachmeldungen. Die Initiative hatte sich zu einem Phänomen gemausert, regional, national, international. Wochen zuvor schon hatte der Veranstalter damit begonnen, allen TeilnehmerInnen sowie Volunteers Starternummern, Medaillen und die (sofern bestellten) Finishershirts in viele EU-Länder und sogar nach Kalifornien, Moskau oder Thailand zuzusenden.
Sei es die Balkonstuhl-Challenge, die Gartenteich-Umrundung, eine Laufbandeinheit oder die Esstischrunde: dem Veranstalter war vor allem wichtig, dass man sich sowohl an die allgemeingültigen Vorschriften hielt, wie Abstand halten, nicht in Gruppen laufen, hoch frequentierte Hotspots meiden und vor allem nicht entlang der geplanten Marathonstrecke zu laufen..
Vor 15 Jahren lief Wolfgang Schwabe seinen 167. Marathon. Er schrieb damals den ersten M4Y-Laufbericht vom Hannover Marathon. Damals hieß es für ihn noch Umziehen im Rathaus, danach Kleiderbeutelausgabe in Zelten nebenan auf der Wiese, alles mit kurzen Wegen. Wolfgang traf auf viele Bekannte, darunter auch Laufkumpel Heiner. An dem Tag hatte „Vielläufer“ Heiner ausnahmsweise mal nicht den Marathon auf dem Plan, sondern „nur“ die 10 Kilometer. Die lief er mit seiner Schulklasse (denn Heiner ist Lehrer), die er nach dem Motto „Laufen statt Rauchen“ auf diese Distanz vorbereitet hatte.
Mit dem StayAtHomeMarathon starte ich heute allerdings in Sehnde, meinem Wohnort. Gerade stehe ich vor dem Rathaus, ganz allein, blicke kurz hinauf. Nun gut, die 100 Meter hohe Kuppel des Neuen Rathauses in Hannover wird zwar mit einem in Europa einzigartigen Schrägfahrstuhl erreicht...aber immerhin erklingt am Sehnder Rathaus jeweils um 12, 15 und 18 Uhr ein Glockenspiel. Ha! Und kein Witz: Riesige, grüne Blattläuse zieren die Außenfassade unserer Stadtverwaltung. Diese wurden zum Auftakt der Marke „Gartenregion“ am Gebäude und in allen Kommunen der Region installiert.
Ich mache ein letztes Selfie mit meiner Knipse, setze für einen Moment die Kopfhörer auf und lausche „Rock You Like a Hurricane“ von den Scorpions, denn alles soll sich heute so authentisch wie möglich anfühlen. Dann stelle ich mir noch vor, wie der NRD-Hubschrauber über uns kreist und die Menge auf dem Friedrichswall jubelt, während OB Belit Onay noch schnell seine traditionelle Ansprache hält, bevor herunter gezählt wird. Heute stehe ich in Startblock A, denn wer kann, der kann! Hach, ich kann es kaum noch erwarten. Es ist kurz vor 7 Uhr morgens, will endlich loslaufen. Dann wird herunter gezählt! 5, 4, 3, 2 1: ich mache Anstalten, mich in Bewegung zu setzen, da schießt der Deutsche Marathonmeister Tom Gröschel bereits virtuell an mir vorbei Richtung Horizont! Windhund, dieser!
Nach knapp zwei Kilometern hatte ich bereits meinen Wohnort hinter mich gelassen, warf einen letzten Blick auf den Kilimandscharo von Sehnde - so nennen wir liebevoll unseren Kaliberg, welcher aus Abraum von der Kalisalzproduktion entstand. Da ich gerade auf dem Mittellandkanal Richtung Hannover-Anderten unterwegs bin, kann ich ja mal ein wenig über meine geplante Tour erzählen, welche hauptsächlich auf dem sog. „grünen Ring“ stattfindet.
Dabei handelt es sich um einen im August 1998 eingeweihten Rund-, Wander- und Fahrradweg, der die Stadt Hannover umrundet. Blau gestrichene Objekte wie Zäune, Bänke, Straßenlaternen, Holzpfosten, Bordsteinkanten oder Gullydeckel zeigen den Weg. Er besteht aus einem Basisring von 80 km Länge. Mit drei Umlandschleifen kommt der Ring auf eine Gesamtlänge von 160 km, wobei neun unterschiedliche Landschaftsräume durchquert und zehn Städte und Gemeinden miteinander verbunden werden.
Ganz schön frisch um diese Uhrzeit! Da muss ich an den Laufbericht von Chefredakteur Klaus zurückdenken, welcher seinen Hannover-Marathon vor 13 Jahren anfänglich noch unter ähnlichen Wetterbedingungen startete...
Der Morgen war kühl. Oder wie es Klaus auf dem Punkt gebracht hatte: es war arschkalt! Kein Mensch glaubte einst dem Wetterbericht, der ganze 26 Grad vorhergesagt hatte. Steffi Eichels wurde an diesem Tag runde 40, wollte ihren neuen Lebensabschnitt mit ihrem ersten Marathon starten, doch aufgrund einer Verletzung wurde leider nichts daraus. Damals waren es über 2000 Athleten, die auf dem breiten Friedrichswall und der Lavesallee starteten, ohne dass es eng wurde. Als die Strecke an der Waterloosäule eine scharfe Linkskurve machte, hatte sich das Feld längst verteilt. 1529 hatte Herzog Erich I. Hannover mit dem Privileg ausgestattet, jährlich ein Schützenfest abzuhalten. Mittlerweile ist es mit über 1 Mio. Besuchern das größte Schützenfest der Welt. Nach zwei Kilometern war Klaus dann schon in südlicher Richtung am Maschsee unterwegs, Hannovers beliebtem Naherholungsgebiet. Unter den schattigen Bäumen am Ufer verläuft ein Radweg, Ruder- und Segelclubs haben dort ihr Zuhause...
Während Klaus damals den Ruderern und Seglern auf ihren frühmorgendlichen Runden auf dem Maschsee beim Vorbeilaufen zugewunken hat, ist die Binnenschifffahrtswelt auf der über 300 km langen, künstlichen Wasserstraße in Deutschland heimisch. Von weitem erkenne ich bereits die Anderter Schleuse. Hier endet die Route, daher unterquere ich die A7, biege am Mittellandkanal links ab und befinde mich mitten im Landschaftsraum Kronsberg!
Jung, hübsch und unbekümmert blinzelt die Sonne durch die Blätter der Bäume am Wegesrand und bringt die Landschaft unter ihr zum Leuchten, der noch schattige Pfad auf der schmalen Anhöhe biegt sich der schönen Blonden am Himmel förmlich entgegen und verliert sich dann scheinbar im feuchten Grün der Wiesen ringsum...
Als M4Y-Autor Joe Kelbel den 19. Hannover-Marathon lief, hatte er den Lauf eher als einen einzigen Parkmarathon in Erinnerung. Ein Botaniker würde in den Gärten und Parks die Sammelleidenschaft der Forscher von Jahrhunderten benennen können, hatte er damals geschrieben. Und Klaus hatte ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, als er nur ein Jahr nach Joe's Bericht ebenfalls unter den ergrünten Bäumen entlang des Maschsee's unterwegs war, bis er von einer Trommlergruppe nach Döhren-Wülfel verabschiedet wurde. Er lief durch weitläufige Wiesen, Getreidefelder und Schrebergärten, der Marathon glich somit eher einem Landschaftslauf. Erst danach ging es für ihn sowie die übrigen Athleten wieder Richtung City, auf die ewig lange Hildesheimer Straße, dem vermutlich schnellsten Abschnitt des Marathons Richtung Aegi...
Die endlos langen Baum-Alleen am Kronsberg sollen mir ein Gefühl vermitteln, als sei ich ebenfalls auf der gut sechs km langen Hildesheimer Straße unterwegs. Anstelle des alten Wartturms aus dem 14. Jahrhundert, einst Teil der Hannoverschen Landwehr, erblicke ich immerhin eine im 19. Jahrhundert errichtete und heute denkmalgeschützte Holländerwindmühle. Nach gut 14 Kilometern stehe ich auf dem Kronsberg, genauer gesagt dem Nordhügel, und genieße die stille Aussicht. Er ist die höchste von der Natur erschaffene Erhebung. Hier genießt man eine tolle Panoramasicht auf Hannover. Eigentlich ist es nur ein fast sechs Kilometer langer Hügelrücken aus Kalkmergel, der sich am südöstlichen Stadtrand zwischen dem Messegelände und dem Bockmerholz 118 Meter über dem Normalhöhennull erhebt – allerdings auch nur dank des künstlich aufgeschütteten, zwölf Meter hohen Aussichtshügels am ursprünglichen Kronsberg-Gipfel.
Von hier oben kann man auf mehrere Parks blicken, die von dem Berliner Landschaftsarchitekten Kamel Louafi zur Weltausstellung EXPO 2000 angelegt wurden. Sehens - und erlebenswerte Kunst im Grünen bietet der 20 Hektar große Expo-Park Süd mit dem Expo-Wal am See inmitten landschaftlicher Weite, der ebenfalls auf meiner Route liegt. Gäbe es heute keine Corona-Krise, sondern Hannover-Marathon, hätte man am Aegi vermutlich wieder eine atemberaubende Sicht aus 40 Meter Höhe genießen können, mit einem an einem Kran hochgezogenen Heißluftballon! Zufälligerweise gesellt sich ein StayAtHomeMarathon-Teilnehmer zu mir. Wir lassen uns von seiner Zukünftigen, die ihn per Rad begleitet, am Gipfelkreuz ablichten. Jawohl, zwei Meter Abstand, klare Sache. Abschließend nicken wir einander freundlich zu, wünschen uns ein perfektes Marathon-Wochenende und verabschieden uns. Denn weiterhin gilt: jeder für sich und doch alle gemeinsam...
Nun überquere ich tatsächlich die Hildesheimer Straße, jedoch sehr viel weiter südlich, in Grasdorf, einer gemütlichen Ortschaft der Stadt Laatzen in der Region Hannover. Den Dorfbrunnen unweit der St.-Marien-Kirche nutze ich als VP, fülle meinen Wasservorrat auf. Kurze Zeit später mache ich mich wieder auf die Socken, befinde mich mitten im Naturschutzgebiet Alte Leine.
Ich habe mittlerweile die Halbmarathon-Distanz in den Beinen, genieße das tolle Wetter hier in der südlichen Leineaue. Ton- und Kiesteiche, Gräben und Bachläufe, Uferböschungen, trockene Wegränder, Feuchtgebüsche und Hecken sowie Reste des Auenwaldes zeigen anschaulich den Strukturreichtum dieser Landschaft. Durch die Biotopvielfalt kommen in dem Gebiet zahlreiche geschützte Pflanzenarten sowie Tiere vor. Einige Male kann ich unter anderem Weißstörche beobachten, bleibe dann unvermittelt stehen und genieße diesen einzigartigen Moment.
Bei km 25 erreiche Ich die Leineinsel mit ihren vierstöckigen Mehrfamilienhäusern sowie Döhren, staune dabei nicht schlecht: ältere Menschen winken von Balkonen, Passanten jubeln mir beim Vorbeilaufen zu und eine radelnde Race-Crew fährt fröhlich gelaunt an mir vorbei, mit Trillerpfeifen im Anschlag, um dann durch einen Verbindungstunnel hinter mir flugs wieder zu verschwinden.
Ich erinnere mich, wie ich vor fünf Jahren den 25. HAJ Hannover Marathon gelaufen bin, gleichfalls ein Jubiläumslauf. Damals hatte ich ein ähnliches Erlebnis wie oben beschrieben, jedoch um ein vielfaches intensiver. Vorbei ging es seinerzeit an Eilenriede und Zoo, dem fünftältesten Tierpark Deutschlands. Der Zoo liegt im gleichnamigen Stadtteil, umfasst eine Fläche von 22 Hektar. Danach weiter durch den bevölkerungsreichsten Stadtbezirk von Hannover, immer am Marathontag absoluter Ausnahmezustand herrscht: dort klatscht, tobt, und jubelt unaufhörlich die Zuschauermenge! Von Dachgeschoßfenstern, Balkonen und Terrassen schrien die Leute meinen Namen. Vahrenwald-List verwandelte sich in eine Arena – Gänsehautfeeling! Alle paar Meter eine Samba- oder Trommel-Kombo auf dieser scheinbar endlosen Party-Meile. Auf einem Pappschild wurde ich daran erinnert, dass Chuck Norris schneller stehen kann als ich laufe. Ein Fan blies in die Tröte, hob den Daumen. Als ich diesen besonderen Streckenabschnitt wieder verließ, fühlte ich mich lebendiger denn je.
An der Sauerstegswiese winkt mir unvermittelt ein älteres Rentner-Pärchen zu, weckt mich quasi aus meinen nostalgischen Gedanken. „Ganz toll, wirklich ganz toll!“ klatschen beide gut gelaunt. Das herzliche Lachen wirkt ansteckend, das Grinsen will mir nicht mehr aus dem Gesicht.
Im Naturschutzgebiet Sundern, welches südlich von Hannover zwischen Hemmingen und Arnum liegt, hatte ich mich kurz nach Besichtigung des verfallenen Mausoleums des Grafen Carl von Alten hoffnungslos verfranzt! Ich stehe mitten in feuchtem Gehölz zwischen verlandeten Flussschleifen und Ringgräben - quasi „alleinsam“ in einem Auwaldrelikt, einem regelmäßig von Überschwemmungen und hohen Grundwasserpegeln geprägten nassen, feuchten und sumpfigen Bruchwald. Jeder für sich und doch alle gemeinsam? In diesem Moment denke ich bloß noch: Ich bin ein Stayathome-Marathoni – Steffi, hol mich hier raus!
Dann entdecke ich einen unscheinbaren Trail im dunklen Gehölz, folge diesem blindlings und befinde mich irgendwann wieder auf der geplanten Route. Die Sonne blendet, ich muss mehrmals die Augen tief zusammenkneifen, taste mich mit Händen weiter vorwärts.
Einen ähnlich abenteuerlichen Parcours bot bis vor wenigen Jahren noch der Streckenverlauf des Hannover-Marathon. Bis hoch zum Welfenschloss ging es zunächst ewig weit durch die pralle Frühlingssonne. Mitten im Grünen passierten die Marathonis dann irgendwann den Sitz der Uni im Stadtteil Nordstadt. Davor das Sachsenross, Wahrzeichen des Landes Niedersachsen. Danach führte der Streckenverlauf jedoch wieder in die entgegengesetzte Richtung, die Herrenhäuser Allee hoch und am Großen Garten vorbei – dem bedeutendsten Barockgarten Europas und historisches Kernstück der Herrenhäuser Gärten. Gegenüber vom Palais im Georgengarten reihten sich einst bei bestem Frühlingswetter viele bunte Ballons hoch in den strahlend blauen Himmel. Im Palais befindet sich das Wilhelm-Busch-Museum für Karikatur und Zeichenkunst. Mental forderte dieser Zickzack-Streckenabschnitt wenige Kilometer vor dem Zieleinlauf seinerzeit alles ab...
Direkt an der nicht sehr stark befahrenen Straße von Harkenbleck nach Wilkenburg befindet sich der berühmte Obstbaumlehrpfad mit seinen rund 100 Bäumen. Im Vorjahr wurde, welch Zufall, das 30-Jährige Jubiläum bei gemeinsamem Kaffee unter Obstblüten gefeiert, denn 1989 wurde der Pfad eingeweiht. Hier wurden in den vergangenen Jahren neue Bäume mit regionalen Obstsorten gepflanzt, alte beschnitten und neue Schilder mit Hinweisen auf die verschiedenen Obstsorten aufgestellt. Zur Erntezeit kann man hier Äpfel und Birnen naschen.
In regelmäßigen Abständen kommen mir allerbestens gelaunte Mitstreiter entgegen. Weit über zehntausend TeilnehmerInnen sollen heute regional, national und international unterwegs sein. Es ist ein immenses Gefühl, Teil dieser großartigen Initiative zu sein! Nur noch wenige km bis zu meinem Ziel, dem Rittergut Reden...
Bei meiner Marathon-Teilnahme im Vorjahr hatte ich das Ziel förmlich riechen können, als ich auf das Leibnitzufer zusteuerte. Die „Hannover-Runners“ und drei märchenhafte Prinzessinnen bejubelten auf den letzten Kilometern die Läufer. Die Anwohner saßen im Freien, die Holzkohle glühte, es floss literweise Bier und der Grillmeister winkte den Aktiven mit einer Bratwurstzange hinterher. Andere picknickten mit Prosecco. Es war großartig, diese Begeisterung und Freude an und auf diesem letzten Streckenabschnitt zu erleben. Am hohen Ufer auf der linken Straßenseite tanzten die drallen Frauenfiguren von Nikki de Saint Phalle - die drei „Nanas“. Danach passierte ich das Leineschloss, eine klassizistische Schlossanlage, die den Königen von Hannover als Residenz diente. Der Landtag ist dort untergebracht. Das Ziel war in Sichtweite, ich gab daher nochmals Gas. Freude machte sich breit. Tausende Zuschauer standen Spalier und peitschten jeden Läufer nach vorn, egal, wie er sich fühlte...
Die Flut an nostalgischen Gefühlen, gepaart mit den Erlebnissen des heutigen Tages sowie dem „Runners High“ ... treiben mit Pipi in die Augen. Das hatte ich zuletzt vor 9 Jahren erlebt, nach dem Finish meines allerersten Marathons. Man muss sich das mal bildlich vorstellen: Man läuft abseits aller bekannten hannoverschen Hotspots, lernt gänzlich neue Pfade kennen, trifft dabei unentwegt auf Gleichgesinnte, die dich bereits von weitem erkennen, grüßen, anlächeln, zunicken, hinterherwinken. Da wird man halt schwach! Erst recht, wenn man weiß, dass im Ziel die Liebsten warten!
Das Ziel heißt heute Rittergut Reden! Ich lasse ein letztes Mal die schönen Erinnerungen aus dem Vorjahr zu, während ich einen Zahn zulege. Das Ziel ist in Sichtweite, damals wie heute. Freude macht sich breit! In Gedanken stehen tausende Zuschauer Spalier, peitschen mich nach vorn. Dann erreiche ich nach 42 km mein Ziel...und stehe vor einem rostigen Gatter mit der Aufschrift „Privatgelände – Betreten verboten“. Na schönen Dank auch!
Hätte ich die niedersächsische Adelsfamilie mal besser am Vortag des Stayathome-Marathon über mein Vorhaben informieren sollen? Vielleicht hätte ich dann den Torbogen des Redenhofes passieren dürfen, der Butler hätte mir im Zielbereich eine eiskalte Limo gereicht und die hiesige Ortsvorsteherin die begehrte Medaille um den Hals gehängt. Ist aber nicht weiter schlimm, denn meine Liebsten erwarten mich - Siegeskuss der Frau, glückliche Umarmungen der Töchter. Abschließend gönnen wir uns noch einen schnellen Schnappschuss vor einem blühenden Rapsfeld.
Auf der Heimfahrt drehen wir „Wind of Chance“ von den Scorpions bis zum Anschlag hoch und singen lauthals mit.
Mit der Absage des offiziellen HAJ Marathons waren viele in ein mentales Loch gefallen, hatten aufgehört zu trainieren. Mich eingeschlossen – es fehlte das Ziel. Aber gerade jetzt, in dieser besonderen Ausnahme-Situation, ist körperliche und mentale Fitness eine gute Grundlage, gesund zu bleiben. Jetzt müssen alle dabei bleiben. „Das ist ein Marathon und kein Sprint“: Mit diesen Worten machte Gesundheitsminister Alain Berset der Bevölkerung immer wieder klar, dass der Kampf gegen das Coronavirus mehr ist als eine kurze Unterbrechung des Alltagstrotts. Die Einschränkungen dürften noch länger in Kraft bleiben. Sie sind nötig: Es gilt, den Kollaps des Gesundheitswesens zu verhindern, Menschenleben zu retten. Die derzeitige Situation trifft alle gleich hart.