Wissenschaftler fordern weit reichende Umstrukturierung im deutschen Spitzensport
Wissenschaftler der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) geben weitreichende Denkanstöße für den deutschen Sport und wollen eine Erneuerung des Spitzensportfördersystems. „Wir wollen uns Gehör verschaffen als Wissenschaftler“, so die Botschaft von dvs-Präsident Prof. Dr. Kuno Hottenrott (Universität Halle-Wittenberg) und Prof. Dr. Martin Lames (Technische Universität München), die im Rahmen eines Pressegespräches deutliche Kritik an den aktuellen Strukturen im deutschen Spitzensport übten. Vorausgegangen war ein interdisziplinärer Experten-Workshop in Hamburg unter dem Titel „Olympischer Spitzensport in der Krise?“.
Am Expertenworkshop nahmen nicht nur Hochschullehrer aus den verschiedenen Sektionen der Sportwissenschaft teil, sondern auch Vertreter des für den Sport zuständigen Innenministeriums, der zuständigen Ministerien in einzelnen Bundesländern, vom Deutschem Olympischen Sportbund (DOSB), von Sportverbänden, Landessportbünden, Olympiastützpunkten und vom Institut für angewandte Trainingswissenschaft (IAT). Eine erlesene Runde, die sich mit der Zukunft des deutschen Sports beschäftigte.
Und die sieht nach Einschätzung der Experten aus Wissenschaft und Praxis nicht rosig aus. Einig war man sich, dass Deutschland unter den derzeitigen Förderstrukturen zukünftig keine Spitzensportnation mehr sein wird. Die internationale leistungssportliche Konkurrenzfähigkeit sinkt und Deutschland wird nicht mehr als erstklassig aufgestellt angesehen. „Die Forderung des Innenministers nach 30 Prozent mehr Medaillen ist der falsche Weg,“, sagt Hottenrott, für Kollege Lames ist „diese Medaillenzählerei“ absolut untragbar und nicht dazu geeignet, junge Menschen für den Leistungssport zu begeistern. Den aber braucht Deutschland und mit ihm Vorbilder, die, so Hottenrott, „die Olympischen Werte Fair play, Respekt und Freundschaft wieder vorleben.“ Deshalb gehören Fächer wie Ethik in jeden Stundenplan schon in der Grundschule.
Für die Sportwissenschaftler ist klar: Deutschland verliert den Anschluss, wenn kein Umdenken stattfindet. „Wir haben ein Imageproblem“ sagt Martin Lames, „aber der Leistungssport hat das Potenzial, zur Schule der Nation zu werden, wenn alle sich positiv einbringen.“
Das geht nur mit Bildung und Wissenschaft. In den Arbeitsgruppen zur Erneuerung des Spitzensportsystems von Bundesinnenministerium (BMI) und Deutschem Olympischen Sportbund (DOSB) wurde auf eine institutionelle Einbindung der Wissenschaft verzichtet. Hottenrott und Lames schlagen eine Nationale Spitzensportkommission und eine Spitzensportagentur vor, die alle relevanten Funktionen wie operative Steuerung und Projektvergabe unter einem Dach vereinigt und nach jedem Olympischen Zyklus einem internen und externen Controlling unterliegen.
Wichtig ist den Experten ein Umdenken hinsichtlich zunehmender Zentralisierung und Konzentrierung des Spitzensports auf wenige Leistungszentren und wenige Erfolgssportarten. „Der Spitzensport muss weiterhin in der Breite gefördert werden, talentierte Kindern müssen wohnortnah den Sport ausüben können, der ihnen auch Spaß macht“, so Hottenrott.
Auch um die Zukunft der Trainer machen sich die Experten Sorgen. „Wir bauchen sehr gut akademisch ausgebildete Trainer, die mit den wachsenden Anforderungen in der Zukunft klarkommen und hohe pädagogische Kompetenzen haben“, bekräftigen die Wissenschaftler und ergänzen, dass „die in Deutschland noch vertretene Auffassung einer nicht-akademischen Trainerausbildung nicht nur im internationalen Vergleich veraltet, sondern auch nicht zukunftsfähig ist.“
Eine weitere Kritik zielt auf die zu geringen Forschungsmittel. Von den 150 Millionen Euro, die das BMI derzeit insgesamt für die Leistungssportförderung gibt, sind für die anwendungsorientierte universitäre Forschung nur zwei Prozent vorgesehen. Für eine notwendige innovative leistungssportbezogene Grundlagenforschung stehen so gut wie keine Gelder zur Verfügung.
„Das Potenzial einer Leistungssportforschung ist somit stark beschränkt“, erklärt dvs-Präsident Prof. Dr. Kuno Hottenrott und Prof. Dr. Martin Lames, Präsident der Internationalen Vereinigung für Sportinformatik, ergänzt: „Wir brauchen Vorsprung durch Innovation, um uns im Vergleich zur internationalen Konkurrenz Leistungsvorteile zu sichern.“ Insgesamt bestehe eine Unterfinanzierung des Spitzensportfördersystems im Vergleich zu Ländern mit ähnlichem Bruttoinlandsprodukt wie Großbritannien oder Japan.“
Ohne entsprechende Förderung ist eine innovative, universitäre Leistungssportforschung kaum noch möglich. „Das Spitzensportsystem nach der Wende hat in vielen Punkten versagt, jetzt müssen wir gemeinsam zukunftsorientierte Lösungen schaffen“, sagen Hottenrott und Lames. Und hoffen, dass die Botschaft im Sinne des Sports bei BMI und DOSB ankommen.