Leise rieselt der Schnee
Schienbeinkantensyndrom mit Knochenhautreizung lautete die Diagnose meines Arztes nach dem Berlin Marathon. Fünf Wochen konnte ich keinen einzigen Laufschritt absolvieren, selbst gehen war äußerst schmerzhaft. Damit war für mich klar, die Marathonsaison ist beendet, obwohl ich noch einiges im petto gehabt hätte. Ein weiteres Kapitel in meiner diesjährigen, eh schon sehr langen Verletztenliste. Das erste Jahr mit mehr als drei Marathons, wird mir schmerzhaft in Erinnerung bleiben. Aber aufgeben gibt’s nicht. Daher hat sich ironischerweise auch ein Standardslogan bei meinem Lauffreunden von Team TOMJ eingebürgert: „Wenn gar nix mehr geht, ein Marathon geht immer“.
„Unverhofft kommt oft“ und da schneite plötzlich von Klaus die Anfrage zum Advent-Waldmarathon rein. Nach dem Studieren der verheißungsvollen Laufberichte der letzten Jahre war ich richtig heiß und entschied ich mich dann doch noch einen schönen Saisonabschluss in Bad Arolsen in Nordhessen hinzulegen. Den A... werd ich mir natürlich nicht mehr aufreißen, mehr wird`s für mich ums Überleben gehen. Mich plagen eher andere Zweifel – einen Marathon zu laufen mit 9 Trainingsläufen und insgesamt 120 km – ist das überhaupt vernünftig möglich? Ich vertraue einfach auf meine Grundlagen, aber ein bisschen verrückt muss man wohl schon sein, sich so was anzutun.
„Ab nach Kassel“ hieß es nicht nur 1870 für Napoleon III. als er ins Exil nach Kassel-Wilhelmshöhe geschickt wurde, sondern auch für mich vor gut 30 Jahren. Da bekam ich nämlich den Einberufungsbescheid von der Bundeswehr, auch nach Wilhelmshöhe. Ich war nicht der einzige „Bazi“, sondern wir waren gleich ein gutes Dutzend davon, die seinerzeit aus dem fernen Bayern 15 Monate hier oben in Nordhessen festgehalten wurden um etwas Entwicklungshilfe zu leisten. Für mich auch ein Grund, hier mal wieder vorbei zuschauen. Seither war ich nämlich nicht mehr in dieser Gegend. Die fast 500 km lange Anreise ist mir daher noch allzu gut bekannt. Woche für Woche spulten wir die Kilometer per Auto oder Bahn ab. Nur 40 km weiter liegt Bad Arolsen, einen Steinwurf von den früheren Truppenübungsplätzen entfernt.
Gerade noch rechtzeitig, kurz vor 21 Uhr erreichen wir am Freitagabend die Twisteseehalle in Wetterburg, zwei Kilometer von Arolsen entfernt und können die Startnummern von der gutgelaunten Ingrid Kuhaupt in Empfang nehmen. Ein paar hundert Meter weiter ist morgen auch der Start direkt am Twisteseedamm. Eine Medaille gibt’s hier nicht gleich „serienmäßig“, sondern wer will, kann sie gegen einen kleinen Obolus käuflich erwerben. Mario, der mich heute begleitet und ich wollen unbedingt eine und kaufen schon mal vorab eine, wenn das mal kein schlechtes Omen ist.
Als Unterkunft haben wir das vom Veranstalter empfohlene Welcome Hotel in Bad Arolsen ausgewählt. Jetzt müssen wir uns sputen um dorthin zu gelangen, wir wollen uns noch für den morgigen Lauf stärken. Das Hotel liegt direkt neben dem wunderschönen barocken Schloss Arolsen und die historischen, aufwendig restaurierten Gebäude gehörten auch ehemals zum Schloss. Das Residenzschloss gilt als das Wahrzeichen der Stadt. Für die Marathonläufer wird jedes Jahr vom Hotel ein besonders günstiges Unterkunfts-Paket angeboten. Wir sind gleich begeistert vom tollen Ambiente und obwohl wir sehr spät dran sind, können wir uns noch reichlich am Büffet bedienen. Heute hat man extra für die zahlreich anwesenden Läufer mehrere kohlenhydratreiche Speisen im Angebot. Herz, was willst du mehr.
Samstagmorgen, ich schau aus dem Fenster und traue meinen Augen nicht: leise rieselt der Schnee! Gestern war noch alles grün als wir ankamen, jetzt ist alles wie mit Puderzucker überzogen, wie es sich halt für einen Adventsmarathon so gehört. Das Problem der Schuhwahl ist jetzt gelöst, natürlich müssen die Trailschuhe ran. Ich hätte auch noch meine Icebugs mit den Spikes dabei, aber dafür ist die Schneedecke doch ein wenig zu dünn. Ein allzu großes Problem dürften die ein bis zwei Zentimeter Schnee für die Trailschuhe nicht darstellen.
Vor dem Start zum Marathon gibt es hier in Arolsen noch was ganz Besonderes. Um 10 Uhr hält Chef Heinrich Kuhhaupt seine berühmte Ansprache für alle Starter. Sozusagen das „Urbi et Orbi“ der Arolsener Marathonläufer. Mario und ich sind pünktlich da, denn das wollen wir auf keinen Fall verpassen. Viel Wahrheit steckt in seinen Aussagen, alles witzig und humorvoll verpackt, da gibt es des Öfteren Standing Ovations. In Arolsen steht Marathon drauf und da ist auch Marathon drin, nicht noch eine Unmenge an sonstigen Nebenwettbewerben erzählt er. “Wir haben keinen Sponsor, wir haben die Begeisterung“ ist eine weitere Kampfansage an Veranstalter, die ohne große Werbeunterstützung nicht auskommen können. Zum Schluss wünscht sich Heinrich, dass sich keiner übernimmt und alle gesund ins Ziel kommen. Dem kann man sich nur anschließen.
Von der Halle marschieren alle Teilnehmer bei leichtem Schneefall zum Start an den Stausee. Dort wird die Twiste seit 1977 zur Gewässerregulierung durch eine Talsperre, zu einem Hochwasserrückhaltebecken aufgestaut. Punkt 11 Uhr soll gestartet werden, ein Novum ist hier, dass Läufern, die mehr als das vorgegebene Zeitlimit von 5:30 benötigen, eingeräumt wird, eine Stunde früher zu starten. So sollte es möglich sein, dass alle auch ihr Ziel erreichen und dies noch vor der Dunkelheit. Pünktlich zum Start hört auch der Schneefall auf, die Temperaturen werden etwa bei 1 – 2 Grad liegen und es geht kein Wind, also durchaus ganz gute Laufbedingungen. Mario hat heute erstmals als Läufer eine Kamera dabei und will auch ein paar Bildchen zur Story beisteuern. Für den, der ihn kennt und weiß, dass er eigentlich immer nur Vollgasläufer ist, auch mal was ganz Besonderes.
Die ersten Kilometer laufen wir am geteerten Uferweg des Twistesee entlang, bis es am Straßendamm der Vorsperre, direkt unterhalb der Bundesstraße über den See geht. An der Abbiegung stehen einige Zuschauer und feuern uns an. Bei km 3 wird uns die Zeit von einem Sprecher in mündlicher Form angesagt. Kurz nach Überqueren des Sees geht’s links ab in den weißen Weihnachtswald. Bis km 14 wir es jetzt tendenziell bergauf gehen. Start war bei 280 m über Meereshöhe und wir werden im Verlauf bis auf 420 m über N.N. klettern, zwischendrin mal aber auch immer wieder runter. Der Boden ist schon etwas matschig, aber nicht übermäßig tief, meinen gelben Schuhen gefällt das natürlich optisch etwas weniger. Trotzdem werde ich überraschenderweise mal gefragt, wie ich es noch geschafft habe, noch so saubere Wadl zu haben, die meisten haben sich doch schon ziemlich eingesaut. So bei km 5 hat das Ganze schon leichten Crosslaufkarakter, verursacht durch Holzfällarbeiten in den Tagen zuvor. Aber macht trotzdem viel Spaß im herrlich verschneiten Wald. Bis km 5 steht jeden Kilometer ein Entfernungstäfelchen, ab hier kommen sie dann aber zunächst mal nur mehr im Fünfer-Schnitt.
Die erste Verpflegungsstelle erreichen wir bei km 7, es gibt warmen Tee und auch angewärmtes Isogetränk. Zur Kontrolle, damit auch niemand abkürzt, ist hier eine Videokamera aufgebaut, nicht um unsere schönen Gestalten zu filmen. Wenig später spricht mich Hardy Schmidt an und fragt mich, ob er mich auch mal fotografieren soll, weil er schon die ganze Zeit beobachtet wie ich knipse. Er läuft heute seinen 97. Marathon, dabei ist er aber kein Vielstarter, sondern er sammelte seine Läufe in über 30 Jahren ein. Mehr als 3 – 4 mag er im Jahr nicht laufen. Sehr vernünftig der Mann, vielleicht sollte ich mich auch daran halten. Die 100 sollen bei Hardy nächstes Jahr auf alle Fälle noch voll werden. Zu seinen Lieblingsmarathons zählen Hamburg, New York und Honolulu. Die letzteren kann er aber beim aktuellen „Marathon des Jahres-Voting“ hier auf m4y nicht wählen, aber der Reisegewinn nach New York müsste ihm ja dann eigentlich gefallen.
Die nächste Verpflegungsstelle ist bei km 14 - ich koste mal das warme Iso, schmeckt bei den Temperaturen nicht mal schlecht, wenn’s schon keinen Glühwein gibt. Dann geht’s auf’s freie Feld, beim Kilometerschild 15 hat man einen herrlichen Blick auf Landau, wie eine Mittelalterliche Festung liegt es vor uns, finde ich. Tatsächlich liegt die Ortschaft auf einem 65 hohen Berg. Früher gab es oben keine Brunnen mit ausreichender Wassermenge. Die Bewohner mussten mit Kübeln und Eimern mühsam das Wasser nach oben tragen. Erst 1535 wurde eine Trinkwasserförderanlage in Betrieb genommen, die man heute noch bewundern kann. Zu sehen gibt es in Landau auch noch eine wunderschöne denkmalgeschützte Fachwerkaltstadt. Zwei historische Torbögen begrenzen die Altstadt an den beiden einzigen Straßen, die wieder ins Tal hinaus führen.
Viele der gewonnenen Höhenmeter dürfen wir jetzt bis zum Ortschild wieder abgeben. Hinauf in die Altstadt müssen wir trotz der verlockenden Aussichten glücklicherweise nicht. Gleich am Schwimmbad geht es rechts auf eine Teerstraße wieder vom Ort weg. Eine einsame Zuschauerin steht mit einer Rassel an der Kurve und muntert mich auf, dafür hat sie doch ein Foto verdient. Nach ein paar hundert Metern tauchen wir schon wieder ein in den „Langen Wald“. Ziemlich steil geht es gleich wieder bergauf. Aufgrund meines bescheidenen Trainingszustandes spare ich mir ein paar Körner und lege mal ein paar Walkingmeter ein.
Die nächsten Kilometer ändern sich wenig, meistens geht’s leicht nach oben, dann kommt der nächste Verpflegungspunkt bei km 21. Zu den Getränken gibt es jetzt auch Bananen zur Stärkung. Nach ein paar Metern geht es für vielleicht hundert Meter auf eine Teerstraße, genau in der Mitte ist die Halbmarathon-Markierung auf der Straße angebracht. Danach geht es wieder links in den Wald, hier ist eine ca. 500 Meter lange Begegnungsstrecke. Als ich um die Ecke biege, treffe ich genau auf Mario und kann ihn gerade noch abklatschen. Damit liegt er jetzt ca. 5 km vor mir.
Kurz danach fällt die Strecke etwas ab, bevor wir endgültig links rum im Uhrzeigersinn auf die Schleife gehen, an deren hintersten Ende bei km 24 wieder eine Videokontrolle stattfindet. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, aber das hat schon seine Berechtigung, schwarze Schafe finden sich überall. Als ich die Schleife absolviert habe und wieder auf das Begegnungsstück treffe, kommt mir doch tatsächlich nicht ein einziger entgegen. „Ja, Herrschaft, bin ich denn heute so lahm unterwegs?“ Zu gerne hätte ich auch in das Gesicht eines weit hinter mir liegenden gesehen!
Dann überquere ich die Autostraße und erreiche den VP bei km 26. Endlich gibt es auch mal was weihnachtliches, in einer ehemals vollen Kuchenkiste kann ich noch ein paar restliche Exemplare ausmachen. Ich hab in den alten Berichten immer von den leckeren Nussecken gelesen, so eine hätte ich jetzt gerne. Ein einziges Eckchen kann ich noch finden. Ja, die sind wirklich lecker, aber war jetzt schon ein bisschen wenig, dann halte ich mich halt mit anderem Gebäck schadlos.
Bei ca.km 27 beginnt das letzte sehr lange Bergaufstück, vor dem hat uns Heinrich in seiner Ansprache schon gewarnt. Es ist zwar nicht sonderlich steil, aber zieht sich doch über einige Kilometer dahin. Mittendrin bekomme ich urplötzlich einen Stich aus der Kniekehle in den Wadenansatz. Ich weiß jetzt auch nicht was los ist. Wie ein Krampf fühlt sich das eigentlich nicht an, das muss was Ernsthafteres sein. Vielleicht sind ein paar Muskelfasern gerissen. Ich versuche mal etwas zu dehnen, aber da tut sich gar nichts.
Jetzt steh ich mitten im Wald, kann weder richtig gehen, geschweige denn laufen. Irgendwie muss ich aber bis zur nächsten Versorgungsstation kommen. Auf langsamste Art und Weise, humple ich irgendwie vorwärts. Einer nach dem Anderen sammelt mich von hinten ein, selbst die Geher sind bestimmt doppelt so schnell wie ich. Mein Kilometerschnitt liegt bestimmt bei 15 Minuten. Es muss ziemlich armselig aussehen, wie ich mich so dahin schleppe. Jedesmal wenn mich einer überholt, bin ich am überlegen, ihm zu sagen, dass er an der nächsten Station Bescheid geben soll, dass sie ein Auto für mich reinschicken sollen. Warum ich es dann doch nicht mache, weiß ich nicht, vielleicht weil die Hoffnung zuletzt stirbt. Als ich dann endgültig den höchsten Punkt der Strecke erreicht habe und es abwärts geht, kann ich dann doch wieder etwas schneller, so ungefähr im Zehnerschnitt.
Die schnellere Fortbewegung sieht so erbärmlich aus, ich schäme mich richtig dafür, ich drehe mich des Öfteren um ob von hinten jemand naht. Wenn die Luft rein ist, probier ich es immer mal ein Stückchen. Irgendwann überholt mich dann Horst Preisler. Wir kommen mal kurz ins Gespräch. Da erzählt er mir die Aussage eines Philosophen, oder Ähnlichen, soweit ich mich noch erinnern kann. Wer laufen kann, der laufe. Wer gehen kann, der gehe und wer sich fortbewegen kann, der bewege sich fort. Das trifft des Pudels Kern. Weit über eine Stunde benötige ich so für ca. 5 km, dann erreiche ich die VP-Stelle bei km 33,5 an der Waldschmiede bei Volkhardinghausen. Jetzt kann ich endlich abbrechen und mich ins Ziel fahren lassen. Nach meiner Uhr bin ich jetzt insgesamt 4:10 unterwegs. Das bedeutet, dass ich für die restlichen 8,5 km noch 1:20 Std. Zeit hätte. Irgendwie reitet mich jetzt der Teufel und ich habe plötzlich keine Lust mehr abzubrechen. Die Schmach ist mir zu groß und die letzten Meter ging es ja auch etwas besser. Ich humple weiter. Ein Junge wird mir noch nachgeschickt, und fragt mich, ob ich es mir nicht doch noch anders überlegen möchte, und mich mit dem Auto zurück fahren lassen will. Ich lehne dankend ab.
Ich bereue es auf den nächsten Kilometer aber gleich wieder mehrmals. Die Worte, die ich mir da selbst an den Kopf werfe, möchte ich hier lieber nicht veröffentlichen. Jetzt ist auch wieder jeder Kilometer ausgeschildert, das hilft mir doch ungemein. Plötzlich ist der Besenwagen hinter mir. Nachdem er das 36er Schild eingesammelt hat, will er gleiches mit mir tun. So wie es aussieht, sitzt ein anderer auch schon drin, „nicht mit mir“. Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass ich es vielleicht in der Sollzeit schaffen kann und ich lehne wieder ab. Außerdem, kommt mir so in den Sinn, habe ich ja schon am Vortag die Finishermedaille gekauft. Die könnte ich dann ja wegwerfen - das will ich nicht.
Zur Belohnung meiner Hartnäckigkeit gibt es doch tatsächlich am VP in Braunsen noch ein paar Nussecken. Da nehme gleich ein paar zur Wegzehrung mit. Immer wieder überholen mich noch vereinzelt Läufer. Immer wieder mal, wenn ich mich umdrehe, ist einer hinter mir zu sehen, das baut mich noch auf. Der letzte überholt mich – schon fast in der Dunkelheit –300 Meter vor dem Ziel. Ich bin heute der Allerletzte, der auf der Strecke ist. Aber nicht im Klassement, da habe ich es doch tatsächlich geschafft, noch Zwölf 10 Uhr-Starter hinter mir zu lassen. Nachdem ich die Ziellinie überquert habe und meine Fortbewegung eingestellt habe, ist es mir nur noch unter größten Anstrengungen und Schmerzen möglich, wieder zu Twisteseehalle zu gelangen, wo Mario schon einige Zeit auf mich wartet. Wie ich in dem Zustand 14 km zurücklegen konnte, bleibt mir ein Rätsel. Aber wie heißt es bei Team TOMJ so schön: „wenn gar nix mehr geht, ein Marathon geht immer!“
War das jetzt eine besondere Heldentat oder vollkommener Schwachsinn? Ich tendiere zu Letzterem, obwohl...
Heute habe ich Entwicklungshilfe in Sachen Marathon erhalten. Ich hoffe, ich werde nie mehr so unvernünftig sein und in einem solch schlechten Trainingszustand bei einem Marathon antreten. Aber schön war es im Wald um Arolsen schon.