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Laufberichte

UUU: Als Hartfüßler mit 400 ins Trampolino

30.12.17 Special Event
 
Autor: Joe Kelbel

Hartfüssler, so nannte man die Bergleute, die kilometerweit über die rauen Steinkohlehalden zu ihren Arbeitsstätten liefen. Der nach ihnen benannte Trail ist inzwischen nicht nur Insidern bekannt. Der Veranstalter, der Hartfüßler Trail e.V., richtet auch den Ultimativen Ultimo Ultra (UUU) über 110 und 65 Kilometer aus. Und das zum zweiten Mal. Wir haben relativ viel Gepäck dabei, der UUU wird in völliger Autonomie durchgeführt, es gibt also keine Verpflegungsstellen. Wir laufen saarabwärts (-75 Hm), haben aber dennoch 1000 positive Höhenmeter zu bewältigen.

Wir treffen uns zunächst in Saarbrücken, um die letzte Bahn um 23:40 nach Sarreguemins in Lothringen zu nehmen. Am HBF Saarbrücken gibt man sein dropbag für Kilometer 65, Merzig ab, dort endet die Strecke für die „Bambiniläufer“, die dann die erste Bahn zurück in die Zivilisation nehmen können. Die 110km-Läufer laufen von dort weiter bis nach Konz, wo die Saar in die Mosel mündet. Die „Bambiniläufer“ dürfen sich auf eine goldene Kneifzange (weil sie gekniffen haben) als Trophäe freuen, die 110 Kilometerläufer bekommen eine goldene Flachzange. Schließlich ist der Lauf absolut flach.

Gegenüber des HBF´s fährt die Straßenbahn nach Saargemünd ab. 42 vollausgerüstete Läufer verstopfen die Straßenbahn, manche sitzen auf den ausgewiesenen Behindertenplätzen. Hendrik, der Organisator, hat den Fahrkartenautomaten mit 172,20 Euro gefüttert.

Um 00:10 Uhr  kommt die Bahn in Saargemünd an. Auf dem Bahnsteig warten noch weitere  Läufer  und Begleitpersonen. Ich erwarte ein Briefing, ein Hallo, aber:  Tür auf, los geht´s im Heidenspeed. Eine Markierung gibt es nicht. Voll bekloppt dieser Lauf. Genau deswegen habe ich ihn auch für mein 400tes Marathonjubiläum gewählt.

 

 

Nachtschwärmer stehen trinkend und rauchend vor den Kneipen, wundern sich über mein Gepäck. Die Eigenverpflegung für die ersten 65 Kilometer wiegt schwer auf meinem Rücken. Es soll zwar eine Wasserstelle bei Kilometer 30 geben, aber ich habe eigene Ernährungsvorstellungen. Und die sind autonom.

Nach vielleicht 200 Metern sind wir am Saarufer. Der alte Treidelweg auf französischer Seite ist ein schöner Radweg, den müssen wir einfach nur abwärts laufen und ist leicht zu finden. Also erstmal allgemeine Pinkelpause. Das Zeug fließt in die Saar, wird aber vom Wasser der Bliss verdünnt, die hier mündet. Die Bliss, von Osten kommend, ist der Grenzfluss zu Deutschland, wir folgen der Saar, die auch Grenzfluss nach Norden ist.

Die Grenze wurde 1815 nach dem Wiener Kongress gezogen. Das Deutsche Reich Römischer Nation hatte sich 1806 wegen Napoleons Eroberungen aufgelöst, nach seiner Niederlage wollte man nur eine klare Abgrenzung zu Frankreich. Etwa um 2 Uhr verlassen wir Frankreich, die Grenze biegt vor Schönbach nach Westen ab. Direkt am Ufer der Saar ist der „Grenzübergang“, der von unserer Seite mit einem einfachen „Willkommen“ auf dem Asphalt gekennzeichnet ist. Ursel, Ingo, Hendrik, Teddy und ich machen die Besenläufer.  Sollte jemand aussteigen wollen, kann er Sven anrufen, der mit seinem Auto irgendwo parallel fährt.

Vor Saarbrücken unterqueren wir die alte Kaiserstraße. Sie wurde 1806 von Napoleon gebaut, um schnell zur besetzten Pfalz und Rheinhessen, dem Departement Mont-Tonnere (Donnersberg) zu gelangen, 1792-1815. Wer die A63 durch die Pfalz fährt, der sieht den Donnersberg, den heiligen Berg der Kelten und Germanen.

Der Lauf durch Saarbrücken ist ein Highlight, die Gebäude entlang des Ufers locken mit warmem Lichtermeer. Ich erkenne den Weg recht gut, denn der Schnee bleibt an den Rändern liegen. Rechts ist das kanalähnliche Ufer, wer da rein fällt hat Probleme. Es gibt zwar Leitern, aber die würde man in der Dunkelheit und der Panik kaum erkennen. Ich lasse Ingo also auf der rechten Seite laufen, während er mir viel über die Gebäude, die Montanindustrie und deren Rückbau erklärt. Nüchtern, sachlich, ungeschönt.

Es kommen erste  Meldungen über Abbrecher rein. Im Auto eingepennt, unter der Brücke hängengeblieben oder Taxi genommen, Schlag auf Schlag kommen Hiobsbotschaften und Vermisstenanfragen. Henrik hat den Überblick. Wir machen uns um Teddy Gedanken, er liegt weit zurück. Den Spinner treibt im Moment nur eine brutale, reichhaltige Laufphase, deswegen machen wir uns keine Sorgen. Ausstiegsmeldungen über unsere Vorläufer häufen sich.

Schon von weitem sieht man die „brennende“ Völklinger Hütte. Gerade wird ein Hochofen aufgestochen, das Gas aus dem Erz wird abgefackelt, zusammen mit den Rauchschwaden ein irres Bild: Der Himmel brennt!

 

 

Von diesem übernatürlichen Licht erleuchtet ist auch der VP unter der Brücke (km 30), den es tatsächlich gibt. Haferschleim, Tee, Brühe und Snacks, alles da, doch kein Läufer bedient sich davon. Niemandem geht es optimal. Auch mein Magen verträgt den Anblick von Essen um 4 Uhr nicht. Hinter meinem Rücken wird geflüstert.  Ich ahne: Niemand setzt jetzt noch einen Cent auf meine Weiterreise. Mir egal, mein Körper hat so seine Rituale, also Stubbies greifen, weiterziehen. Ich will mir einen Vorsprung rauslaufen.  

Das Weltkulturerbe Völkinger Hütte ist der urige, alte Teil, wo Förderbänder die Lohren pausenlos hinaufbeförderten, damit ständig produziert werden konnte. Sieht geil aus! Es ist weltweit das einzige Eisenwerk aus der Blütezeit der Industrialisierung, das vollständig erhalten ist. Jetzt ist es ein Kulturort mit Ausstellungen, Konzerten und anderen Veranstaltungen auf Kosten der Steuerzahler, wie so viele leerstehende Industriegebäude entlang der Saar. Aus Schwalbach kommt unser Justizminister, die Kiesdeponie Hector wird mit Bauschutt verfüllt.

Um 5 Uhr kommen wir nach Saarlouis, der Sonnenkönig (Louis= Ludwig), hat mit dieser Festung seine Annektion von 1679  zementiert. Sein Festungsbaumeister Verban hat in den eroberten Städten, von Luxemburg bis Straßburg, die sogenannten Schleusenbrücken gebaut. Wurden sie geöffnet, wurde das gesamte Umland der Stadt geflutet und die Angreifer konnten keine Kanonen einsetzen. Wir sehen nicht die hiesige Schleusenbrücke, denn die überbrückt die alte Saar, linker Hand. Die Kapuzineraue ist ein fruchtbares Schwemmgebiet mit ausgeprägtem Gemüseanbau.  Der eisige Wind bringt den Geruch von Kohl, Petersilie und Schneeregen mit sich und meine zwei wasserdichten Laufjacken für viel Geld erweisen sich als Fehlkauf. Die Laufhose und die teuren Falke-Socken entpuppen sich dagegen als Volltreffer.  

Dillingen verdankt seinen  Aufschwung nicht Falke, sondern den Lebacher Eiern,  rundliche, in einem Ursee entstandene Zusammenschlüsse von Ton, Eisen und Bitumen, die im Tagebau abgebaut wurden. Diese Dinger entstanden vor 300 Mio. Jahren um verwesende Kadaver, die ein günstiges chemisches Milieu bildeten, so dass sich Eisen (aus Pflanzenphotosynthese) dort ablagerte. Normalerweise sind die Kadaver in Form von Fossilien erhalten, hier aber seltsamerweise nicht. Wer Fossilien sehen will, der sollte 10 Kilometer westlich von hier in Rümmelbach den Haifischpfad besuchen. Dort gibt es noch original Lebacher Eier und  Haifossilien zu sehen.

Einen weiteren  VP  gibt es auch sehen, auch wenn der gerade von einem eisigen Regensturm zerlegt wird. Hendrik checkt per Handy wiederholt, wer noch auf der Strecke ist. Im Knattern der Zeltbahn und dem Prasseln des Schneeregens ist das schwierig. Mit klammen Fingern versuche ich mir noch eine nasse  Jacke anzuziehen. Es soll jetzt Leute geben, die liegen in einem warmen, eventuell trockenen Bett und bereiten sich auf die Silvesternacht vor.

Linker Hand der Rehlinger Weiher, wo der größte Wels Deutschlands gefangen wurde, woraufhin das Nacktbaden für Männer verboten wurde. Rehlingen trägt den Namenszusatz „Ort der Vielfalt“. Dieses Förderprogramm wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, des Bundesministeriums des Innern und des Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration ins Leben gerufen, um die kulturelle Vielfalt finanziell zu forcieren.

Etwa um 8 Uhr verlassen wir kurz die Saar im scheißkalten Regen. Es gilt, das Mündungsgebiet der Nied zu umrunden, ähm, dadurch ändert sich das F-Wetter nicht. Der heftige Regen hat die Nied über die Ufer treten lassen. Das wilde Wasser sieht aus, wie ein Urwaldfluss. Es gibt eine französische und eine deutsche Nied, die sich 17 Kilometer westlich, an der Staatsgrenze vereinigen. Zwischen französischer und deutscher Nied verläuft die Sprachgrenze, die nicht identisch mit den Staatsgrenzen ist, was glücklicherweise nicht mehr wichtig ist.  

Etwa um 9 Uhr erreichen wir Mechern, Vorort von Merzig, römische Gründung. Meine ersten Erinnerungen an Merzig stammen aus der Disco, in der die ganze Nacht James Brown lief: „Stay on the scene, like a sex machine!“ Längst habe ich entschieden, die Szene zu verlassen, um, mit einer Kneifzange geehrt, meinen 400ten Marathon/Ultra zu feiern. Die restlichen 45 Kilometer um die Saarschleife und unterhalb der zahlreichen Burgen bei Sonnenlicht wären natürlich ein Traum, aber ich habe fertig. Das Jahr war spitzenmäßig und wird nun gekrönt.  

Das Trampolino ist eine Hüpfhalle für Kinder, die ab 10 Uhr eintreffen würden, sollten sich deren Eltern mit dem Auto durch den Schneeregen kämpfen wollen. Wir treffen früher ein. Wärmende Rettung. Danke. Ich halte den Lorbeerkranz mit großer 400, die Kneifzange und einen schweren bronzenen Bergmann als Pokal in die Hand. Einen schwierigeren Lauf für mein Jubiläum hätte ich mir nicht aussuchen können.

 

 

Ich danke Ursel, Ingo und Hendrik und dem restlichen Team um Swen und Bernd für diese unvergessliche Nacht. 400 ist schon eine Hausnummer! Extremläufer bin ich deswegen nicht. Ich kam zwar an die Grenze, aber das stand: „Willkommen!“

Info für die Austragung 2018: Die mitternächtliche Startzeit ist dem Familienfrieden geschuldet. Es wird in 2018 einen Frühstart um 22 Uhr für die Läufer angeboten, die sich keine Platzierung auf den ersten drei Plätzen ausrechnen und nicht Schlusslicht sein wollen. Die Strecke ist komplett asphaltiert, flach und ist bei jedem Wetter durchgehend laufbar. Jede Brücke, die auf die rechte Saarseite führt, leitet zur Haltestelle der Saarbahn, die ab 5 Uhr alle 30 Minuten zum Startort oder zum Ziel fährt. Die „vollständige Autonomie“ ist, wie geschildert, nicht so ernst zu nehmen und wird sicherlich bei der Ausrichtung 2018 weiter gelockert werden.

Jemand sagte, die Steigerung auf 51 Läufer bei der zweiten Austragung läge an mir, mein 400ter Jubiläumslauf hätte gezogen. Sei´s drum. Wir treffen uns bei meinem 450ten wieder hier, bei beschissenem Wetter und völliger Autonomie! Wir sind Hartfüssler!  

 


 
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