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Laufberichte

slowUp: Gans radlos

30.05.10

Am Tag nach dem Winterthur Marathon lautete die Frage beim Frühstück: „Und, wie wirst du die vier Wochen bis Biel ohne Marathon überstehen?“.

Zugegeben, eine treffende Frage. Ganz ratlos war ich aber nicht, denn ich hatte rechtzeitig festgestellt, dass sich nach Wochenenden des Überangebots im Veranstaltungskalender Flaute breitmacht und meine Fühler entsprechend ausgestreckt. Dabei hatte ich mit Befriedigung festgestellt, dass genau zwischen dem letzten und dem nächsten Laufanlass das slowUp Schaffhausen-Hegau zu liegen kommt.

Das Geburtsjahr von slowUp ist 2000. Als Vorevent der Landesaustellung Expo.02 wurde die Veranstaltung erstmals durchgeführt. Seither stiegen Jahr für Jahr die Zahl der Events und die Zahl der Teilnehmenden und mittlerweile nehmen jährlich über 400'000 Personen an einem der mittlerweile 16, über das Sommerhalbjahr verteilten slowUp teil.

Um eine nationale Eventserie schaffen und vermarkten zu können, war es nötig, eine Marke mit einem Namen zu schaffen, der für alle Sprachregionen einheitlich ist. Wie in solchen Fällen in der viersprachigen Schweiz heute üblich, fiel die Wahl auf ein der neuen Lingua Franca entstammendes Kunstwort. Es leitet sich von „slow down – pleasure up“ ab und bedeutet „Alltagshektik ablegen – Beflügelndes erleben“.

Für den Anlass in meiner Region ist ein Rundkurs von 38 Kilometern von 10.00 bis 17.00 Uhr für den motorisierten Verkehr gesperrt und steht allen anderen Verkehrsteilnehmern zur Verfügung. Das Besondere an dieser im Uhrzeigersinn zu befahrenden Strecke ist, dass sie sechsmal die Landesgrenze überquert.

Während der Hauptharst der Teilnehmer mit dem Fahrrad unterwegs ist, einige auch mit Inline Skates, werde ich mich schon zum dritten Mal als Läufer unter das Volk mischen. Beide Mal zuvor geriet ich deswegen als Exot prompt ins Visier der Medienschaffenden.

Nach dem morgendlichen Hundespaziergang im mehr als nur strömenden Regen über Naturwege und durch den Wald schnüre ich meine Asphalttreter, befülle den Trinkrucksack und mache mich auf den Weg in die Altstadt Schaffhausens.

Auf dem Herrenacker, vor dem Stadttheater stehen Stände von Sponsoren und Restauration und eine paar wenige beräderter Ausflügler, die auf die Freigabe der Strecke am offiziellen Ausgangspunkt warten. Natürlich darf die Polit-, Lokal- und Cervelatprominenz (ein Schweizer Ausdruck zum Gegenstück echter Prominenz)  bei einem solchen Anlass nicht fehlen. Soweit ich es beurteilen kann, fehlt Letztere gänzlich. Kein Wunder: eine Fönfrisur hält auch mit AllWeather-Fixation diesem Regen nicht stand. So können sich einmal auch die Normalbürger für die Medien ins Bild und um 10.00 Uhr in Bewegung setzen. Hinunter auf den Fronwagplatz und durch die Fußgängerzone zum Bahnhof, unter den Geleisen durch und dann parallel zu Straßentransitachse und Bahn in Richtung Herblingen.

Es dauert nicht lange und ich bin fast allein unterwegs. Es ist absehbar, dass dies heute mein Schicksal – oder Glück – sein wird, außer das Wetter besinnt sich eines Besseren.

Im ehemaligen, 1964 eingemeindeten, Bauerndorf Herblingen ist das slowUp Teil des Dorffests an diesem Wochenende. Wer gestern zu fest feierte und heute nicht aufs Rad steigen mag oder nicht wetterfest ist, kann einfach weiterfeiern, für die anderen gibt es vor dem Aufbruch Birchermüesli, Milchshake oder einen Cocktail mit frischen Früchten zu kaufen.

Mit dem Blick aufs Schloss Herblingen, dessen Grundmauern im 13. Jahrhundert errichtet wurden, geht es auf der alten Landstraße nach Thayngen, eine weit angenehmere Streckenführung als der Schnellstraße im Herblingertal entlang, wie das bei meiner ersten Teilnahme noch der Fall war. Die leichte Steigung hat zur Folge, dass ich mit einem ebenfalls einsamen Inliner ins Gespräch komme.

Wäre es ein Marathon, dann wäre langsam Zeit für ein Verpflegungsposten. Den gibt es auch hier, bevor es im Wald hinunter nach Thayngen geht. Einer der Sponsoren des Events, hat eine Trankstelle eingerichtet, wo sein neustes Produkt, Apelsaft mit Cranberry, verkostet werden kann. An einem Marathon hätte ich dankend abgelehnt, um kein Risiko einzugehen. Heute lasse ich mir diesen Genuss nicht entgehen und lasse mir sogar nachschenken.

Thayngen ist Bezirkshauptort im Reiat und gleichzeitig auch Tor zur Schweiz. Hier befindet sich der zweitwichtigste Grenzübergang zwischen der Schweiz und Deutschland. Schon in prähistorischer Zeit suchten Rentierjäger vor 15000 bis 11000 Jahren v. Chr. die Höhle „Kesslerloch“ als Schutzort während der Sommermonate auf. Bei Grabungen wurden Knochen von Mammut, Rentier, Wollnashorn und fünfzig weiteren Tierarten, sowie Steingeräte aus lokalem Silex und rund 200 Geschossspitzen und Werkzeuge und Geräte aus Geweihen, Knochen und Elfenbein gefunden. Berühmt wurde das Kesslerloch durch die Funde von Kleinkunst wie Anhänger und Lochstäben. Besonders bekannt ist die Gravur des so genannten "Suchenden Rentiers" auf einem Lochstab aus Rentiergeweih, welcher sich im Besitz des Rosgartenmuseums in Konstanz befindet.

Im Dorf gibt es Stände mit Kaffee und Kuchen, italienischen Spezialitäten, Grilladen und Eis, und beim Brunnen ist eine Regionalbank mit einem Wasserspiel präsent, bei welchem Preise zu gewinnen sind.

Welchen Unterschied das Wetter bewirken kann, wird mir beim Vergleichen meiner bisherigen und der heutigen Teilnahme besonders deutlich. Wie einer der Steinzeitmenschen durchstreife ich auf einer Verbindungsstraße einsam die Landschaft. Das letzte Mal kam ich mir aus anderen Gründen wie ein Höhlenbewohner vor. Obwohl ich auch damals Laufschuhe neuster Entwicklung trug und in atmungsaktives Tuch gehüllt war, kam ich mir inmitten der Radler mit ihren kompliziertesten Waffensystemen gleichenden Fahrrädern ziemlich zurückgeblieben vor. Zwar war ich einfach ausgerüstet, meine langen Streifzüge durch die Natur auf der Jagd nach Kilometern haben mich aber gestählt und mir Kraft und Ausdauer verschafft. Wo dies fehlt, nützen auch Hydraulik-Scheibenbremsen, Carbonteile, schnittiger Helm und windschlüpfrige Brille nichts. Beim kurzen Anstieg zum Grenzübergang Ebringen war nämlich auf weiten Strecken der Dampf weg. Radlos überholte ich damals den Gänsemarsch (mit Stau) der gehenden Radler. Heute watschle ich allein den Hügel hoch. Die Beräderten haben ihr Gefieder offenbar nicht genügend geölt, um diesem Wetter zu trotzen.

Nach dem Passieren der Grenze gelingt mir noch das letzte fotografische Dokument meines heutigen Unternehmens, bevor die Kamera vor der Feuchtigkeit kapituliert.  Das Motiv: Die vom Basaltabbau gekappte Vulkanspitze  des Hohenstoffeln im Nebel. Auch die restliche Aussicht auf den Hegau verliert sich in trübem Grau.

Hinunter nach Gottmadingen überholen mich ein paar vereinzelte Radler. Die sonst hier herunterbrausenden Inliner, denen ich vor lauter Angst, sie könnten stürzen, jeweils kaum nachzuschauen wagte, fehlen gänzlich.

Der Regen prasselt nicht herunter, er peitscht  jetzt seitwärts auf mich ein. In dem Wind ist mir erstmals etwas kühl. Ganz warm ums Herz wird es mir, als eingangs Dorfs der Verkehr auf der Bundesstraße angehalten wird, damit ich sie ganz alleine überqueren und ins Einfamilienhausgebiet einbiegen kann. Der Aufwand der Straßensperrungen für diesen Anlass ist immens, unzählige Querstraßen sind von Streckenposten gesichert oder gar gänzlich gesperrt.

Im Zentrum von Gottmadingen sind auch zahlreiche Aktivitäten im Gang, die schon am Vorabend begannen. Die Festbänke sind nicht dicht besetzt, immerhin sind dort mehr Leute als auf der Strecke zu sehen sind. Damit ich meine Körpertemperatur wieder in einen angenehmen Bereich bringen kann, laufe ich unverzüglich weiter, überquere die Grenze wieder und bin schon nach kurzer Zeit in Buch. Kurz vor dem Ortseingang macht es den Anschein, als werde es etwas heller, könne sich die Sonne doch im Verlauf des Tages noch gegen den Regen durchsetzen.

Ich mache einen kleinen Halt beim Brunnen, trinke von dem guten, frischen Wasser und lehne das Angebot dankend ab, gleich daneben einen Teigrohling zu nehmen und mir am offenen Feuer an einem Holzstecken ein Schlangenbrot zu backen.

Auf der geraden Strecke nach Ramsen gibt es wieder eine Trankstelle, wo ich zwei weitere neue Apfelsaft-Cuvés verkoste. Beim Weiterlaufen fallen mir auf dem Feld neben der Straße die unzähligen Ackerschachtelhalmtriebe auf. Für den Bauern ein Ärgernis, für den Marathon- und Ultraläufer eine Wohltat, wenn die Achillessehne sich wieder einmal auf ungewünschte Weise bemerkbar macht. Hätte ich gewusst, dass ich da im Vorbeilaufen eine große Ernte des Zinnkrauts einbringen kann, hätte ich mir gestern den Gang zur Apotheke und den Kauf einer Großpackung dieses Krautes sparen können.

In Ramsen lassen sich die Radler vom Wetter nicht davon abbringen, beim dortigen Verpflegungsangebot Halt zu machen und sich im Trockenen etwas vom Grill oder gar ein kühles Bier zu genehmigen. Ich laufe weiter, muss aber nicht auf Kühles verzichten, denn der Regen wird wieder ziemlich heftig. Im steilen Anstieg im Wald auf dem Weg nach Gailingen gelingt es mir, zu einer Handvoll Fahrradfahrern aufzuschließen. Dabei sind auch drei Jungs, die mich vor Gottmadingen mal überholt haben und beweisen, dass nicht alle in diesem Alter verweichlichte Couch-Potatos sind.  Der Jüngste hat ein recht geschliffenes Mundwerk und meint, ich sei ein Tier, diese Strecke zu Fuß zu bewältigen. Zudem sei ich ja auch nicht mehr der Jüngste…  Ich kläre ihn darüber auf, dass an Marathons in den Altersklassen M45 und M55 üblicherweise die meisten Teilnehmer zu verzeichnen seien. Auf meine Antwort auf die Frage, wie alt ich denn sei, meint einer der Drei: „Dann sind Sie gleich alt wie mein Vater – aber der hat einen Bierbauch.“

Am Ende des Anstiegs gibt es ein kostenloses Verpflegungsangebot des Hauptsponsors, wo ich einige Zeit verweile und mich mit den Betreuern unterhalte. Bei einem Spiel kann man verschiedene Esswaren gewinnen, alles in bester Bioqualität. Ich verzichte auf eine Teilnahme, stecke mir den Getreideriegel ein, lasse mir noch ein Stückchen Birnenbrot schmecken und mache mich weiter auf den Weg und überquere zum dritten Mal die Grenze. Ich habe die ganze Straße für mich und bin versucht, aus lauter Freude über solchen Luxus auf der Mittellinie zu laufen.

In Gailingen trauen die Anwohner dem sich ankündenden Wetterfrieden noch nicht. Das Dorf wirkt etwas leer, doch ein einzelner Bürger sucht das Gespräch mit mir und zeigt mir seinen dick bandagierten Finger, der ihn heute am Radeln hindert.

Am anderen Ende des Dorfes, wo die Schweizer Nachbarschaft seit einiger Zeit wegen der Mehrwehrtsteuerdifferenz, seit Kurzem wegen der Euroschwäche, zu verschiedenen Günstiganbietern pilgert, treffe ich wieder auf den einsam skatenden Inliner, der gerade Pause macht.  Wir plaudern zusammen und setzen etwas später gemeinsam unsere Reise fort.  Vor der nächsten Zollstelle werden wir von einem Kamerateam für den BW-Tagesrückblick des SWR gefilmt, für das wir als Exoten unter Fahrradfahrern ein willkommenes Objekt abgeben.

Auf dem abfallenden Straßenstück nimmt mein slowUp-Kumpan Rücksicht auf meine Geschwindigkeitslimite, beim Anstieg nach Dörflingen revanchiere ich mich und trabe etwas gemütlicher auf die symbolische Schildwache zu, die die Grenze und den Ort beschützt und uns mit Keksproben begrüßt. Ob es dieser persönliche Empfang ausmacht, dass die Beizen und Stände im Dorf verhältnismäßig gut frequentiert werden? Mich zieht es allerdings weiter. Dunkle Wolken verdecken nochmals die Sonne und die vom Wind gekühlte Haut wird von einem erneuten Schauer noch mehr abgekühlt. Hinunter zur Bergkirche von Büsingen muss ich sogar meine Mütze festhalten, so stark bläst mir der Wind seitlich entgegen.

Unweit der Bergkirche überschreite ich zum fünften Mal die Grenze, diesmal sind die Umstände nochmals anders. Schon vor dem Beitritt der Schweiz zum Abkommen von Schengen gab es hier keine Grenzkontrolle, denn Büsingen ist – von der Schweiz aus betrachtet - eine Enklave. Oder wie die Büsinger vor Jahren mit Klebern auf dem Autoheck zahlreich verlauten ließen, Deutschlands letzte Kolonie. 

Beim Dorfbrunnen wird mir in Form einer entgegengestreckten Dose besondere Aufmerksamkeit zuteil. Für meine Leistung als Fußgänger soll ich auch eine besondere Stärkung bekommen. Dankbar greife ich zu und lasse mir die Gummibären schmecken.

Für die restliche Strecke begleitet mich der träge dahinfließende Rhein auf der linken Seite, nur von einem mal mehr, mal weniger breiten Grünstreifen von der Straße getrennt. Auch die Sonne begleitet mich, die Wolken, die mich von ihr trennten sind weniger geworden - und die wenigen viel heller. 

Kurz vor Schaffhausen ist nochmals ein Verpflegungsposten des Hauptsponsors mit Degustation und Wettbewerb. Dieses Mal mache ich mit, ziele mit den beiden Hufeisen auf die Stange mit dem Bild des üppigen Sandwichs, treffe zweimal und erhalte dafür einen Gutschein für ein solches (Nein, nicht Hufeisen – die Schuhe halten auch so noch ein paar Marathons). Dieses lasse ich mir mit den Zutaten meiner Wahl frisch zubereiten und einpacken, denn noch fehlt mir ein kurzes Stück bis zum Ausgangspunkt.

Keinen Kilometer später ist bei einer weiteren Trankstelle – mit Blick auf den Munot, die alte Festung und Wahrzeichen der Stadt Schaffhausen - bereits die vierte Sorte Apfelsaft im Degustationsangebot, die ich auch nicht ausschlage. Nach diesem weiteren Halt geht es beim Sternekoch der Fischerzunft und am stilvoll renovierten Güterhof vorbei, bevor ich in die Fußgängerzone der Unterstadt geleitet werde. Entlang des Münsters geht es schließlich hoch zum Ausgangspunkt meines Trainingslaufs, dem Herrenacker. Der Platz ist jetzt deutlich belebter als vor etwas mehr als vier Stunden. Wer sich aber erst jetzt von hier aus auf den Weg macht, kann unterwegs auch mit Rädern unter den Füßen oder dem Hinterteil nicht zu lange einkehren, denn die Strecke ist nur noch bis 17.00 Uhr gesperrt.

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Den Heimweg, den Hang hoch zum Waldrand, laufe ich nicht mehr, sondern gehe gemütlich, lasse mir dabei das Sandwich schmecken und überlege mir, wie das slowUp mit wenigen Ergänzungen versehen einen ansprechenden Marathonlauf ergeben könnten. Von meiner Haustüre auf die Strecke und zurück komme ich ziemlich genau auf die „amtliche“ Distanz. Eine zusätzliche Schlaufe könnte unterwegs problemlos auf nicht zu sperrenden Wirtschaftswegen eingebaut werden, und für ein paar notwendige Verpflegungsposten würden Laufbegeisterte sicher gerne ein paar Taler berappen.

Das ist nur so eine Idee. Wenn es nicht so kommt, bin ich nicht ratlos. Ich kann so oder so für den 22. Mai nächsten Jahres einen schönen langen Lauf einplanen. Bei schönem Wetter als Gans radlos im Gänsemarsch, bei schlechtem fast alleine – mit dem Duft von Freiheit und Abenteuer. 

 


 
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