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Laufberichte

One Night in Bangkok

26.08.18 Special Event
 

Es ist 2 Uhr nachts. Eine schwül-warme Nacht, wie eigentlich jede Nacht in dieser Stadt. Vor allem jetzt zur Regenzeit. Ich fühle mich wie in einem Kokon aus Wasserdampf. Feucht ist die Luft, feucht meine Haut, feucht jede Faser an meinem Leib. Aber unbeirrt trabe ich Schritt für Schritt diese unendlich lange, breite, leere Straße hoch über dem Häusermeer dahin. Was treibe ich hier? „One Night in Bangkok“ besang Murray Head schon anno 1984 diese Stadt. Und so erlebe ich auch ich sie nun, eine ganze Nacht lang. Eingelassen habe ich mich auf ein Laufabenteuer der speziellen Art. Etwas irre, aber eben auch in einer irren Stadt.

 

Eine Stadt – drei Marathons

 

Ich liebe Bangkok. Seit dreißig Jahren kenne und erlebe ich diese Stadt, die an Chaos, Buntheit, Lebendigkeit ihresgleichen sucht. Fast 15 Millionen Menschen leben in der Metropolregion, über 20 Millionen jährliche Gäste machen sie zur meistbesuchten Stadt der Welt. Ein Moloch, in dem in den Himmel strebende Moderne und buddhistische Tradition eine faszinierende Melange bilden. Und doch bin ich nach zwei Tagen immer wieder froh, ihr den Rücken zu kehren. Als Sprungbrett in eines der zahlreichen umliegenden Länder Südostasiens ist sie für mich jedoch stets „gesetzt“.

Ernsthaft auf die Idee, in der tropischen Schwüle der Region einmal Marathon zu laufen, bin ich eigentlich nie genommen. Wie sich das Laufen im Saunadauerbetrieb anfühlt, kann man in Bangkok am vergleichsweise angenehmsten bei einem Morgenjog im wunderbaren Lumphini-Park austesten. Hunderte von Thais sind dann unterwegs, mehr walkend als laufend, dazu Heerscharen von Morgengymnasten. Nicht nur läuferisch ist das ein einmaliges Erlebnis. Zu dem Erlebnis gehört allerdings auch dauerhaftes Nachschwitzen und die Einsicht, dass Laufen in diesen Breiten einfach nicht die wahre sportliche Offenbarung ist.

Und doch: Als ich eher zufällig beim Internetsurfen mitbekomme, dass ausgerechnet an dem Wochenende, an dem Gudrun und ich von unserem Myanmar-Trip nach Bangkok „heimkehren“, ein Marathon stattfinden soll, bin ich sofort elektrisiert. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht nicht um den international bekannten „Bangkok Marathon“, der seit 1987 regelmäßig in der kühleren Zeit im November stattfindet. Und auch nicht den im Februar angesiedelten „Amazing Thailand Marathon Bangkok (ATMBKK)“. Sondern um einen Marathon, der als „Bangkok Midnight Marathon“ (BMM) im Mai 2017 Premiere hatte und nun, in der Nacht vom 25. zum 26. August 2018 zum zweiten Mal ausgetragen wird.

 

 

Drei Distanzen stehen zur Wahl: 42,2, 21,1 und 10 km. Und wie das Namensattribut „Midnight“ schon andeutet, sind die Startzeiten nachteulenorientiert: Um Mitternacht wird der Marathon gestartet, die beiden anderen Läufe um 3:00 bzw. 3:30 Uhr morgens. Start und Ziel aller Läufe sind identisch, im Übrigen stellen die kürzeren jeweils Teilstücke der längeren Distanzen dar. Durchaus ambitioniert sind die Erwartungen der Veranstalter an die Teilnehmerzahlen. So liegt das Limit für den Marathon bei 1.800, für die beiden anderen Läufe bei 3.700 und 4.500, in der Summe also bei 10.000. Eine Kleinveranstaltung für Insider soll das also keineswegs sein. Und ist es auch nicht. Denn schaut man sich im Nachhinein die Finisherliste für 2018 an, so muss man staunen: 1.443 – 3.782 – 4.965 lautet die Zahl der Einträge in den drei Laufkategorien. Ausländer erfahren dabei schon insofern eine Sonderbehandlung, als ihr Startgeld um etwa 50 % über dem der Thais liegt. Damit kann ich leben.

Die Startunterlagen sind bereits eine Woche vor dem Laufevent auf einer Messe an der Station Makkasan der Schnellbahn zum Flughafen Suvarnabhumi abzuholen. Für Auswärtige, speziell Ausländer, die damit zeitlich ein Problem haben, besteht jedoch die Möglichkeit zur Abholung noch am Lauftag, und zwar direkt im Zielgelände auf dem Lan Khon Meaung, dem Platz zu Füßen des Sao Ching Cha, der „Großen Schaukel“, mitten im Herzen der Stadt. Noch heftig gewerkelt wird hier, als ich am Samstagmittag per TukTuk andüse, schweißgebadet nicht nur von der drückenden Hitze, sondern auch vom halsbrecherischen Fahrstil meines Drivers. Zum Glück sind alle wesentlichen Punkte auf dem Riesengelände auch in Englisch beschildert. So finde ich schnell den Ausgabeschalter, wo schon ein Pulk liebenswerter Helfer wartet und mich mit den Startinsignien ausstattet.

Quietschbunt und mehr als auffällig ist der Kleidersack. Dazu passend gibt es ein neongelbes Startershirt, zu dem sich ein gleichfarbiges Finishershirt für denjenigen gesellen wird, der die Ziellinie erreicht. Auch die Startnummer ist für europäische Augen ein Hingucker: Es ist wohl mein Name, der darauf in Thaibuchstaben abgebildet ist. Alle Gaben inklusive passend farbenfroher Finishermedaille sind schon vorher im Internet ausgiebig bebildert dargestellt. Ansonsten ist die Website-Info für Nicht-Thai eher dürftig. Ergiebiger ist da die Facebook-Seite. Man muss sich allerdings erst durch die recht witzigen Übersetzungen der Thaitexte kämpfen.

Viele Stunden später ist erneut das Zielgelände mein erster Anlaufpunkt vor dem Start. 22 Uhr ist es nun und mit dem nötigen Gottvertrauen liefere ich mich ein weiteres Mal den Fahrkünsten eines TukTuk-Streetfighters aus, der sich mit Schwung seinen Weg durch den auch um diese Zeit noch chaotischen Straßenverkehr über den regennassen Asphalt bahnt. Der Angebote des Fahrers zu Vermittlung spezieller Massagedienste, alternativ einer Tour zum Floating Market für morgen, kann ich mich gerade noch erwehren.

 

 

Mehr noch als am Tag erstrahlt im Scheinwerferlicht leuchtend rot das etwas merkwürdige 26 m hohe Gestell der „Großen Schaukel“. Doch hat sie tiefe religiöse Bedeutung. Bis 1934 fanden hier, auf eine brahmanische Tradition zurückgehend, zeremonielle Schaukelfeste zu Ehren des Hindu-Gottes Shiva statt, die man dann allerdings aus Sicherheitsgründen einstellte. Von der Dunkelheit verschluckt ist dagegen nun das Wat Suthat im Hintergrund, einer der größten, sich über 40 Hektar erstreckenden Tempelanlagen der Stadt. Umso mehr leuchtet das Meer aus Pavillons und Fahnen vor der Großen Schaukel. Allzu viel los ist hier nicht, wohl auch, weil die meisten direkt das etwa 800 Meter entfernte Startgelände ansteuern. Wer aber, wie ich, einen Kleiderbeutel deponieren will, muss den Umweg über das Ziel nehmen. Unzählige Pokale sind neben einem Siegerpodest aufgebaut und nicht wenige nutzen die Gelegenheit, sich hier schon einmal fotografisch in Szene zu setzen. Auffällig ist die große Zahl der Pacer, die sich zur finalen Lagebesprechung treffen.

Ein wenig motivationsdämpfend ist lediglich der anhaltende Regen. Zumindest sind die Himmelsschleusen nicht mehr gar so heftig geöffnet wie am frühen Abend. Monsunzeit eben. Vorsichtig mache ich mich gegen 23 Uhr auf den Marsch zum Startgelände, darauf bedacht zu vermeiden, dass schon jetzt meine Schuhe volllaufen. Viel los ist auch auf diesem Weg nicht. Aber das ändert sich sehr schnell und deutlich.

 

Start vor dem Königspalast

 

Überaus prominent ist das Startgelände in der Sanam Chai Road platziert, entlang der zinnengekrönten weißen Mauern, die den Königspalast und die königliche Tempelanlage, das berühmte Wat Phra Kaeo, umschließen, und direkt vor dem prächtigen Sak Chaisit Gate, dem Osttor des Königspalasts. Nachts ist hier normalerweise ein ziemlich totes Eck, aber jetzt erfüllt emsiges Treiben die verkehrsgesperrte Straße.

Geradezu atemberaubend ist die Kulisse, die sich mir bietet. Denn jenseits der Mauern türmen sich, vor dem Schwarz des Nachthimmels im Scheinwerferlicht leuchtend, die Dächer, Prangs und Chedis des Wat Phra Kaeo. 2,6 Quadratkilometer misst das Areal aus Palast und Wat, an dem seit 1782 bis heute gewerkelt wird und wohl Thailands meistbesuchte Sehenswürdigkeiten beherbergt. Vor allem das königliche Wat mit seinen zahllosen fantastischen Hallen, Pavillons, Türmen und Skulpturen bietet dem Auge des Besuchers eine Orgie aus Gold und Glitzer, die man nicht vergisst.

 

 

Entlang der Sanam Chai Road sind zudem die Bäume mit unzähligen Lichterketten illuminiert. Wie in einem Ameisenhaufen wuseln die Läufer dicht an dicht umher und sind vor allem damit beschäftigt, den besten Blickwinkel für ein Smartphone-Selfie nach dem anderen zu finden. Eine halbe Stunde vor dem Start verlagert sich, begleitet vom Thai-Stakkato des Startmoderators, das Gedränge inklusive Fotoshooting in den von unzähligen Fahnen gesäumten Startkanal. Ich muss zugeben: Eine so eindrucksvolle Startkulisse habe ich selten erlebt.

Kurz vor dem Start wird es richtig exotisch: Denn eine in „Krachlederne“,also Trachtenlederhosen gewandete Blechbläserkapelle – wohlgemerkt Thai, keine Farangs - spielt gar nicht mal schlecht zünftige bayerische Blasmusik auf, optisch begleitet von einer Truppe von Fahnenschwingern. Was für eine Gaudi! Ich kriege mich fast nicht mehr ein. Zur Betonung der Internationalität extra begrüßt werden die Läufer aus den diversen vertretenen Nationen. Gefühlsmäßig liegt die Thai-Qote aber bei 98 %.

Die Stimmung und Spannung steigt. Um 23:59 Uhr ist es soweit: Der Countdown donnert durch die Luft, ein Böllerknall durchdringt die Nacht, eine Nebelwolke steigt auf. Die Eliteläufer – ja, solche gibt es hier auch – werden auf die Piste gelassen. Der große Rest ist um 0:06 Uhr an der Reihe: Das Startprozedere läuft erneut an und mit dem finalen Knall ergießt sich die Horde der fast einheitlich neongelb gewandeten Läufer über die Straße.

 

Sightseeing bei Nacht

 

An der Palastmauer entlang genieße ich letzte Ausblicke auf das Wat Phra Kaeo. Weiter geht es vorbei am anschließenden langen Oval des Sanam Luang Parks, „dem“ Veranstaltungsgelände für offizielle Feierlichkeiten. Auch hier, wie entlang aller bedeutenden Straßen im Stadtzentrum, sind die Bäume über und über von Lichternetzen illuminiert und wird damit eine geradezu märchenhafte Stimmung inszeniert.

 

 

Nach rechts biegen wir auf den vielspurigen Ratchadamnoen Klang Boulevard ab, direkt dem weithin sichtbaren Demokratie-Denkmal entgegen. Das optisch wenig ansehnliche, auch nicht so recht in die Umgebung passende Denkmal liegt Im Zentrum eines tagsüber verkehrsumtosten Kreisverkehrs. In nächtlicher Ausleuchtung hat das Denkmal – ein von vier 24 Meter hohen Betonflügeln umringter Schrein – deutlich mehr Reiz. Viel Symbolik steckt hinter der Gestaltung, doch auch das Demokratie-Verständnis eines Generalmajors, der es vor fast 90 Jahren in Auftrag gegeben hat.

Am Denkmal vorbei geht es weiter geradeaus. Bei km 2 erreichen wir das Mahakan Fort. Lichterketten bilden vor dem Nachthimmel dessen Silhouette ab. Die schon Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Anlage ist eines von zwei noch erhaltenen Forts, die einst als Teil eines Festungswalls die Altstadt schützten. Mit seinen beiden schneeweißen, zinnengekrönten Mauerringen, die einen zentralen Festungsturm umschließen, bietet es einen durchaus pittoresken Anblick. Die meisten Touristen kommen allerdings vor allem wegen der umliegenden Wats, etwa des Wat Saket, einer der ältesten buddhistischen Tempelanlagen Bangkoks. Zu einer der größten Attraktionen der Stadt macht die Anlage der Umstand, dass sich in ihrem westlichen Teil ein 79 Meter hoher, künstlich aufgeschütteter, mit einer Goldenen Chedi gekrönter Berg befindet, zu dem 318 Stufen hinaufführen. Vom „Gipfel“ des als „Golden Mount“ bekannten Hügels hat man einen der schönsten Ausblicke auf die Stadt. Da nur der Chedi nachts beleuchtet ist, scheint dieser fast wie ein Ufo über dem Fort zu schweben.

Einen Kanal querend setzen wir entlang der Ratchadamnoen Nok Road unser Cruising durch das nächtliche Bangkok fort.

 

Über die Rama VIII-Brücke

 

Ein allmählicher, aber stetiger Anstieg nach knapp 4 km signalisiert mir: Wir setzen zum Sprung an. Und zwar von einer Seite des Chao Phraya auf die andere. Für diesen Sprung sieht der Kurs die Querung der Rama VIII Bridge vor. Unter den Brücken, die den Chao Phraya überwinden, ist sie die wohl größte, modernste und ohne Zweifel auffälligste. An einem einzigen 160 Meter hohen Pylon sind die vergoldeten Seile gespannt, an denen die 475 m lange Hauptbrücke aufgehängt ist. Immerhin fast 2,5 km misst die Brücke einschließlich ihrer Auffahrten. Erst 2002 wurde sie eröffnet und nach dem achten König der derzeit amtierenden Ananda Mahidol (Rama VIII) benannt.

 

 

Gerade nächtens, wenn Strahler die Seile illuminieren, ist der Anblick des wie ein geometrisches Kunstwerk erstrahlenden Seilnetzes aus nah wie fern fantastisch. Und so bin ich ein wenig enttäuscht, als ich feststellen muss, dass die spezielle Beleuchtung der Seile nach Mitternacht bereits abgeschaltet ist. Nichtsdestotrotz: Auch die normale Straßenbeleuchtung lässt die gewaltigen Dimensionen und das Seilwerk in beeindruckender Weise erkennen.

Die über die Brücke führende vierspurige Fahrbahn ist in einer Richtung komplett für uns verkehrsgesperrt. Ein angenehmer leichter Windhauch empfängt uns in den luftigen Höhen. Schwarz fließen tief unter uns die trägen Fluten des Chao Phraya dahin. Neben dem Mekong ist er einer der beiden großen Flüsse des Landes. Zu den Touristenattraktionen der Stadt gehört es, mit dem Linienboot seinem sich dahin mäandernden Verlauf folgend die Stadt zu erkunden. Und nirgendwo kann man stimmungsvoller in Bangkok residieren als in einem der Luxushotels direkt am Flussufer. Es muss ja nicht gleich das Mandarin Oriental sein. Ich hätte da ein paar gute Tipps ...

 

Unendliche Weiten in unendlicher Nacht

 

Gerade einmal fünf Kilometer sind bewältigt und hinter mir verblasst die Silhouette der Rama VIII Brücke. Wir sind noch mitten in der Stadt, jetzt beginnt die Zeit der Einsamkeit. Die große breite Straße haben wir ganz für uns. Das Läuferfeld hat sich bereits weit auseinander gezogen. Und ich weiß: Es liegen 27 km vor mir, bis ich auf dem Pendelkurs wieder die Rama VIII Brücke erreiche.

Ein wenig habe ich vorab im deutschen „Jahrhundert“-Sommer schon testen können, wie es sich anfühlt, in schwüler Hitze zu laufen. Akklimatisiert bin ich auch. Aber 42 km in diesem Klima – aktuell immerhin noch etwa 27 Grad Celsius und 95 % Luftfeuchtigkeit – anzugehen ist dann doch eine andere Hausnummer. Aber ganz so schlimm ist es auch wieder nicht: Denn dank des Umstandes, dass wir im Folgenden dauerhaft exponiert auf einem jener für Bangkok typischen, auf Stelzen hoch über der Stadt angelegten Highways laufen, umgibt mich doch stets ein leises Lüftlein, das mein klitschnasses Shirt kühlt. Wirklich top ist auch die Verpflegungssituation: Mindestens alle zwei Kilometer ist ein Posten eingerichtet, wo es Wasser und Isotonisches zu trinken gibt; alle vier Kilometer gibt es zudem Bananen- und Wassermelonenstücke.

Der Sightseeing-Faktor hält sich nun freilich stark in Grenzen. Anfangs dürfen wir noch ein wenig am Nachtleben tief unter uns teilhaben, dringen gar wummernde Beats aus Nachtclubs bis zu uns hinauf, und wir können das bis zum Horizont reichende bunte Lichtermeer beobachten. Aber spätestens nach 8 km, auf der schnurgeradeaus aus der Stadt hinaus führenden Borommaratchachonnani Road, wird das sukzessive weniger und wir können uns ganz dem meditativen Dahintraben über den von Laternen gut ausgeleuchteten, glänzenden Asphalt widmen. Dass ich meinen MP3-Player dabei habe, erweist sich hier als weise Entscheidung. Und ich gebe zu: Das Laufen macht richtig Spaß, zumal ich mich deutlich fitter fühle als erwartet und sich auch der Regen verabschiedet hat.

Die Kilometer fließen so dahin. Etwa bei km 14 joggt mir flott ein einsames Männlein entgegen. Der Marathonführende ist bereits auf dem Rückweg gen City. Lange kommt dann nichts. Ganz langsam nimmt das Läufergetröpfel auf der Gegenspur zu. Erst bei km 17 taucht erstmals eine  Läufergruppe auf: Es sind die Follower der 4:00-Pacer, die an mir vorbei eilen. Groß ist die Gruppe aber nicht mehr. Ein großer heller Strahler am Horizont signalisiert mir, dass auch ich bald die Wendemarke bei km 18 erreicht habe. Und ehe ich mich versehe, gehöre nach der 180-Grad-Wende auch ich zu denjenigen, die das nachfolgende Feld beobachten können.

 

 

Echte Stimmungsnester sind die Pace-Gruppen, die mir nun eine nach der anderen entgegen kommen – 4:15, 4:30 usw. bis 6:00. Bei sechs Stunden, bezogen auf km 39, ist in diesem Jahr ein „hartes“ Zeitlimit gesetzt, nachdem man das bei der Premiere im Vorjahr noch lockerer gehandhabt hat. Von den 800 gewerteten Finishern waren seinerzeit immerhin 350 (!) länger als 6 Stunden und sogar bis zu 7,5 Stunden, unterwegs, was wohl insbesondere deshalb ein Problem darstellte, weil Hauptstraßen betroffen sind, die rechtzeitig wieder für den morgendlichen Verkehr freizumachen sind.

Ab der Halbzeitmarke merke ich aber dann doch, dass das Aufpimpen mit Salz und Magnesium nicht verhindern kann, dass die Schritte schwerer werden, das Tempo nachlässt. Andererseits: Es geht weiter voran, und das im Laufschritt  und vom Tropenkoller bin ich weit entfernt.  Froh bin ich, dass die im Hinterstübchen hängenden Befürchtungen nicht Realität werden.

Gute 28 km liegen hinter mir, als ich erneut die Stelle erreiche, die die Wendemarke für die Halbmarathonläufer bedeutet. Von denen ist aber noch nichts zu sehen. Das ändert sich ein paar Kilometer weiter, als sich in der Ferne wieder die Silhouette der Rama VIII Brücke abzeichnet. Erst sind es nur ein paar Sprinter, dann aber steigt die orange Flut mehr und mehr an. Orange deshalb, weil das die Farbe des Startershirts der Halbmarathonis ist. Jenseits der Brücke ist der Strom dann so breit, dass für die vereinzelt entgegenkommenden Marathonläufer kaum noch Platz am linken Streckenrand bleibt.

 

Zurück im Herzen der Stadt

 

Mit Passieren der Brücke weiß ich: Knapp 10 Kilometer liegen noch vor mir und die führen nun wieder durch innerstädtisches Terrain. Allerhand zu sehen gäbe es hier am Streckenrand. Aber eben nur „gäbe“, denn die Nacht verbirgt vieles vor unseren Blicken und beleuchtet wird nur selektiv. Nichtsdestotrotz hat die Strecke ihren besonderen Reiz.

Von der Rama VIII Road biegen wir nach links ab. Einmal mehr verwandeln Lichternetze die Bäume am Straßenrand zum Märchenwald. Nach rechts geht es in die Thanon Si Ayutthaya, wo wir eine der bekanntesten und schönsten Tempelanlagen der Stadt passieren: Das Wat Benchamabophit. Zumal Ausländer mit solch komplizierten Namen so ihre Probleme haben, ist der Tempel aufgrund der außen mit weißem Carraramarmor verkleideten Haupthalle auch unter der simplen Bezeichnung „Marble Temple“ bekannt. Das kommt davon, wenn man einen Italiener als Baumeister mit ran lässt. Aber - leider, leider - fällt auch dieser Tempel unter das Energiesparen, während man bei der Illuminierung der Bäume keine Grenzen kennt.

 

 

Deren Ausschmückung einschließlich der Ausleuchtung prachtvoller Tafeln mit Abbildern der Königsfamilie nimmt noch zu, als wir via Rama V Road um das weite Gelände der Chitralada Royal Villa gelotst werden. Die von einem Wassergraben umrahmte, für die Öffentlichkeit unzugängliche Palastanlage inmitten eines riesigen Parks ist seit 1946 die Bangkoker Residenz des thailändischen Königs. Unglaubliche 70 Jahre lang residierte hier der legendäre König Bhumipol (Rama IX), seit 13.10.2016 ist es sein Nachfolger Maha Vajiralongkorn (Rama X). Auf unserem Weg passieren wir auch den bereits 1938 angelegten Dusit Zoo, der auf 20 Hektar etwa 2.200 Tiere beherbergt, aber auch das nur gedanklich, nicht optisch wahrnehmbar.

Nach Umrundung der Royal Villa sind wir nach 39 km wieder beim Marble Temple, wo in großen Lettern auf die Cut Off-Zeit verwiesen wird. Ein wenig hart ist es schon, gerade hier, gar nicht mehr  so weit vom Ziel entfernt, noch einen Showstopper zu setzen. Zu den „Gelben“ und „Orangen“ gesellen sich auf dem Laufkurs jetzt auch immer mehr „Blaue“. Der Pulk der vergleichsweise frischen 10 km-Läufer räumt das Feld rasant von hinten auf.

Zurück auf der Ratchadamnoen Nok Road, dieser nun in Gegenrichtung gen Süden folgend, fällt das Ratchadamnern Stadion, die größte und älteste Muay Thai-Arena der Stadt, ins Auge. Zu den populärsten Sportarten gehört die hier zur Schau gestellte Form des Thai Boxens.

Nach einer Straßenbiegung leuchtet zur Linken erneut das Mahakan Fort. Auf dem Hinweg gar nicht aufgefallen war mir, dass auch das gegenüber liegende Wat Ratchanatdaram zumindest partiell ein nächtlicher Eyecatcher ist. Denn ausgeleuchtet ist der Loha Prasat, die markante, von zahllosen Türmchen gekrönte Halle des Wats.

Kurz vor 4:30 Uhr ist es, als ich ein weiteres Mal das Demokratiedenkmal erreiche, und bereits jetzt ist deutlich der anschwellende Morgenverkehr zu spüren. Ein Tross von Streckenposten sorgt dafür, dass wir  - ganz ausnahmsweise – bei unserem Lauf „Vorfahrt“ haben. Denn sonst ist man im Bangkoker Straßenverkehr als Passant grundsätzlich ein armes Würstchen, für das kein Auto freiwillig stoppen würde. Da hilft nur eines: Man muss die Fahrer durch forsches Voranschreiten  und festen Blick zum Anhalten zwingen und hoffen, auch gesehen zu werden. Das funktioniert aber ganz gut.

Nach links geht es in die Dinso Road und vorbei am eher unauffällig-klotzigen Rathaus. Das nahe Ziel lässt sich jetzt schon erahnen und als endlich die „Große Schaukel“ am Horizont erscheint, weiß ich: Gleich ist es geschafft.

 

 
 

 

 

Im Ziel zu Füßen der Sao Ching Cha

 

Als gelber Exot in einem Pulk aus blau und orange laufe ich ein und werde gleich weiter auf den nun von Tausenden bevölkerten Platz gelotst. Das große After-Race-Happening ist bereits im vollen Gange. „Happy und KO“ - das ist mein momentaner Gemütszustand und ich brauche ein wenig, bis ich motiviert genug bin, auf Erkundung zu gehen.

 

 

Sensationell ist das Finisher-Buffet. Es erinnert mich an einen jener typischen Food Courts, wo man aus vielen Essensständen auswählen und sich dann irgendwo hinsetzen kann. Nur muss man hier nichts weiter dafür bezahlen. Einen Pad Thai-Stand gibt es ebenso wie einen, wo man sich Fleisch und Gemüse aus diversen Pötten zusammenstellen kann, auch eine Suppenküche fehlt nicht. Dazu kommen vielerlei Desserts und Drinks. Ein leckerer Eiskaffee mit süßer Milch, auch typisch Thai, baut meinen Kreislauf wieder so richtig auf. Auch sonst ist viel geboten, selbst ein Wasserbecken zum Fußkühlen gibt es. Nur eines funktioniert gar nicht: Die Rückgabe der Kleidersäcke. Es herrscht Vollchaos und erst nach einer Dreiviertelstunde gelingt es mir, einen der Helfer zu motivieren, auch meinen Beutel zu suchen. Immerhin: Er findet ihn.

Aber was soll es: Das alles hat extremen Erlebnis- und Unterhaltungswert. Der Bangkok Midnight Marathon ist sicher kein Marathon, von dem ich sagen würde, dass man ihn gelaufen sein „muss“. Aber er ist ohne Zweifel einer, der mehr als andere in Erinnerung bleibt, und das in besonders positiver Weise. Geradezu beseelt bin ich, als ich im Morgengrauen wieder ein Tuk Tuk kapere und mir für viel zu viel Geld den jungen Morgen in Bangkoks Straßen um die Nase wehen lasse.

 


 
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