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Laufberichte

Venedig Marathon: Über viele Brücken musst du laufen

25.10.09

Bei Kilometer 34 geht die Ponte della Libertà definitiv los. Die Brücke besitzt links vier Eisenbahngleise (aus dem Jahr 1846), über die sämtliche Fern- und Nahzüge zum Bahnhof Venezia Santa Lucia fahren und dann vier Autospuren (aus dem Jahr 1933), von denen die zwei rechten für die Läufer reserviert sind. Der Autoverkehr wird links auf jeweils einer Spur abgewickelt. Rechts wäre auch noch ein winziger Fußweg, an dem sonst viele Angler stehen. Heute fehlen diese wie auch irgendwelche Fans. Die meisten Läufer halten sich rechts, weil man so am wenigsten Abgase von den Bussen und Autos abbekommt. Die Sonne brennt mörderisch und es geht absolut kein Lüftchen. Die Leute in den Autos machen zwar Fotos von uns, aber Anfeuerungen oder ein genervtes Hupen fehlen. Sind halt alles Touris. Lediglich ein Lokführer hat beim Vorbeifahren ein Einsehen und lässt seine Lok pfeifen.

 Viele Läufer müssen nun gehen. Mir geht es noch ganz gut. Ich muss mich aber anstrengen, um meine Pace laut GPS zu halten. Am Ende der Brücke sieht man eine Anzeigetafel über der Straße, die einfach nicht näher kommen will. Ich versuche, die Lichtmasten zu zählen, es sind aber zu viele. Dann fällt mir noch auf, dass der Teer unheimlich grobkörnig ist. Das Ganze ist noch stupider, als das schnurgerade Stück im Prater in Wien. Außerdem gibt es dort Musik aus Lautsprechern. Das wäre hier eine gute Ergänzung - die längste Musikmeile der Welt? Auf der Brücke kommt dann die 35 Kilometer-Verpflegungstelle, an der ich nur kurz halte. Für viele Läufer ist es aber die Rettung. Der Blick auf Venedig ist ganz nett, aber man kommt einfach nicht voran. Ich fange an zu rechnen. Vor uns kommt noch ein Anstieg durch eine Straßenüberführung, danach gibt es ja noch einige Brücken in Venedig selbst. Die Beine fangen an, schwer zu werden. Bei Kilometer 36 fällt mir auf, dass mein GPS schon bei 36,4 km ist. Ich muss also noch die Zeit für 400 Meter dazu addieren. Warum fällt das Denken eigentlich so schwer?

Endlich, nach genau 3,5 Kilometern Brücke kommt eine leichte Linkskurve mit dem besagten Anstieg. Von oben sieht man die Piazza Roma, an der der Canale Grande beginnt und über der seit einem Jahr die vierte Fußgängerbrücke zum Bahnhof führt.

Wir drehen nach rechts in das Hafengebiet. Am Tronchetto liegen vier oder fünf Kreuzfahrtschiffe, darunter auch ein wirklich riesiges italienisches Schiff. Hier gibt es wieder einige Bäume, die etwas Schatten spenden. Ende der siebziger Jahre war hier noch ein Güterbahnhof, auf dem ich die letzten Dampflokomotiven im Einsatz sah. Wir laufen nun zwischen Hafen und Wohngebieten, einer Gegend, in die sonst nur eingefleischte Venedig-Liebhaber kommen. Leider gibt es hier auch keine Zuschauer.

So bei km 39 schwenken wir nach rechts zur Stazione Maritima, das letzte Ende, an das man mit dem Auto kommen könnte und wo (früher?) die Fähren ablegten. Hier ist auch die letzte Verpflegungsstelle. Und jetzt kommen die unvergesslichsten Kilometer: Unsere erste Brücke. Wie angekündigt mit Rampen versehen, etwa 2,5 Personen breit. Die Bretter sind tropfnass, aber mit Anti-Rutschstreifen versehen – keine Angst. Etwas nerviger sind die Läuferinnen und Läufer, die den Anstieg nebeneinander gehend zurück legen. Hier hilft ein freundliches Permesso und man kommt vorbei.

Wir sind auf dem Fondamenta Zattere am breiten Guidecca-Kanal. Hier ist es immer recht schön und nicht ganz so touristisch überlaufen. Ein Lokal besitzt Tische am Kanal und ein Kellner möchte mit seinen Tellern noch schnell vor mir den Laufweg kreuzen. Im letzten Moment kann er bremsen.

Inzwischen habe ich die Rechnerei aufgegeben, da ich die 4-Stundenmarke wohl nicht mehr unterbieten kann, aber dann bitte meine Bestzeit von 4:03. Das bedeutet aber auch, dass ich mich weiter anstrengen muss und von der Umgebung nicht mehr so viel mitbekomme. Aber bloß nicht übertreiben. Mir geht nie der Läufer aus dem Gedächtnis, der in München vor dem Marathontor ins Olympiastadion einen Herzstillstand hatte. Auf einmal höre ich ein bekanntes Atmen hinter mir. Gleich wird mich Judith überholen und ich kann nicht mehr zulegen. Aber sie ist es nicht, schade.

Kurz vor der Basilica della Salute, am Canale Grande gibt es einen Bauzaun, dessen Ende ich nutzen will, um einen Läufer zu überholen. Dummerweise ist zwar der Bauzaun zu Ende, aber dafür schau ich ins Wasser. Gerade noch abgebremst. Von der angrenzenden Punta della Dogna geht es über eine große Pontonbrücke nach San Marco auf der anderen Seite des Canale Grande. Diese Brücke wird nur für den Marathon aufgebaut und ist so hoch, dass die Vaporetti-Boote unter ihr hindurch fahren können. Wirklich beeindruckend. Von oben kann man wunderbar die Riva vom Markusplatz bis zu dem Park sehen, an dem das Ziel ist. Das sieht noch ziemlich weit aus.

Wir kommen bei den Giardi Ex Reali ganz in der Nähe von Harrys Bar im Viertel San Marco an. Ab hier ist wirklich die Hölle los. Wir werden angeschrien, dass der Boden durch Wurzeln wellig ist. Und weiter geht’s. Am Dogenpalast geht es zur nächsten Brücke, der Ponte della Paglia, von welcher man einen Blick auf die Seufzerbrücke hat. Diese wird zurzeit renoviert und ist von Reklametafeln so furchtbar entstellt, dass es schon wieder interessant ist. Davon bekomme ich aber jetzt nichts mit. Diese Brücke ist normalerweise schon immer dicht bevölkert; jetzt hat man uns eine Gasse freigehalten. Diese Brücke hat keine Holzrampen, sondern besteht aus breiten Stufen, die auf unserer Seite mit Plastikkeilen begradigt sind. Da kann man ganz schön ins Trudeln kommen.

Noch sieben Brücken. Der Weg wird wieder breiter, aber es kommen noch einige höhere Brücken. Von der vorletzten Brücke sehe ich das Ziel. Jetzt noch mal alles rausholen. Der multilinguale Sprecher vom Start hält fleißig mit. Er scheint Südtiroler zu sein und redet mehr deutsch als italienisch und englisch. Außerdem interviewt er anscheinend auch noch Teilnehmer beim Zieleinlauf. Er ist wirklich eine Wucht. Von der letzen Brücke sind es noch ca. 200 Meter. Im Ziel zeigt meine Uhr 3:59:59,54. Ob es wirklich gereicht hat?

Eine junge Pfadfinderin überreicht mir eine schöne Medaille und einen Gutschein für die Pastaparty. Ich drehe mich um und sehe kurz darauf Judith ins Ziel einlaufen. Knapp drei Minuten nach mir. Wahnsinn, wie schnell man Zeit verlieren kann.

Hinter dem Ziel gibt es warmen Tee bei gefühlten 25 Grad. Außerdem gibt es einen Beutel mit Getränken und Obst. Unsere Taschen sind auch gut angekommen. 500 Meter entfernt gibt es ein Sportzentrum, in dessen Untergeschoss, also unter der Wasseroberfläche es eine Turnhalle mit ausreichend Duschen gibt. Bei den Herren ist das Wasser ausreichend warm. Bei den Frauen kalt. Zurück im Park beim Ziel bekommen wir schnell unsere Pasta mit Getränken. Meine Internet-Recherche per Handy ergibt für mich eine 3:59:56. Ich vergieße ein kleines Tränchen.

Im Park ist alles ist perfekt organisiert. Kaum habe ich aufgegessen, wird mir auch mein Plastikteller schon abgenommen und entsorgt. So weit ich das sehe, kann man auch ohne Gutschein noch einen Nachschlag bekommen, die Leute sind sehr freundlich. Gleich nebenan fahren die Boote zum Tronchetto ab. Wir müssen nicht lange warten und finden einen Platz an der Reling. Von dort haben wir noch mal einen schönen Blick auf unsere Laufstrecke in Venedig und die Pontonbrücke. Wir sehen noch die letzten Läufer, welche mit 6:16 auch noch gewertet werden.

Nach 20 Minuten sind die Beine ziemlich weich und als wir anlegen, warten schon Sanitäter auf eventuelle Kunden. Nebenan stehen die Busse nach Mestre und zurück an den Start nach Stra. Unser Bus nach Stra fährt dann auch sofort ab und nach 40 Minuten sind wir am Startplatz bei der Villa Pisani. Ganz schön weit. Die Strada Statale ist schon wieder gereinigt und die meisten Luftballons sind weggeflogen.

Wir suchen uns ein nettes Hotel an der Strecke und fahren am Montag noch einmal nach Venedig. Leider ist die Pontonbrücke schon wieder weggeschleppt. Die Rampen bleiben für Rollstuhlfahrer noch bis Ende Januar aufgebaut. Das Wetter ist toll. Einige Engländer sind in kurzen Hosen unterwegs. Und wir sehen Jogger in der Stadt. Die Zeiten ändern sich.

Wir kommen wieder!

Und noch einige persönliche Erkenntnisse:

-  Man kann vor einem Marathon auch Phantomhalsschmerzen haben, es muss nicht immer ein Gelenk weh tun.

-  Es gibt Marathons, bei denen man ohne irgendwelche Schmerzen läuft, obwohl man im Juli eine Stressfraktur im Mittelfußknochen hatte und sonst immer das Knie schmerzt.

- Es gibt Marathons, bei denen einem bis zum Ende nicht das rutschende Laufhemd, die verrutschende Hose oder die kneifenden Gel-Tütchen nerven.

- Auch viele Halbmarathon-Wettkämpfe können die Empfindungen bei einem Marathon nicht ersetzten.

-  Wenn man die Marathonstrecke mit dem Auto abfährt (siehe oben), bekommt man erst eine Vorstellung der Länge

- Wenn man zu zweit läuft, hat man mehr Spaß

- Eine Marathonteilnahme ist ein Wunder

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