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Laufberichte

Orlen Warschau Marathon: Eine Runde ins Niemandsland

26.04.15 Special Event
 

Ein wasserstoffblond  gefärbter Barfußläufer steht in der Mitte der Straße, er trägt eine polnische Fahne. Er klatscht mit vielen Läufern ab, die sich dafür die Zeit nehmen. Im Zickzack geht der Kurs über die ul. Ludna und Czerniakowska weiter, eine Wohngegend mit angrenzenden Parks und wenig Verkehr. Positionskämpfe unter den Läufern gibt es kaum, ich laufe mit 6:15 bis 6:30 min/km. Die Leichtjacke habe ich längst ausgezogen, es regnet noch immer ein wenig.

Ich beginne zu ahnen, dass der Marathonkurs nicht in die Stadt, sondern in den Großraum von Warschau führen wird. So genau habe ich die Route am Vorabend nicht studiert, doch es ist bei allen Rennen ähnlich: den Verkehr in einem Stadtzentrum zu sperren, ist mit viel Aufwand verbunden, auf Seitenwegen zu laufen, ist weitaus einfacher.

So kommt man einmal im Leben auf unbekannte Straßen wie Rozbrat und Myśliwiecka, wo sich knapp vor Km 5 die erste Labe befindet.  Erstaunt bin ich in dem Moment, als die 4:30er-Pacemakerin mit Anhang  schon so früh auftaucht. Das ist kein gutes Omen, vielleicht bin ich doch zu langsam unterwegs oder die Tempomacherin etwas zu schnell.

Ein kurzes Stück laufen wir nun auf der Czerniakowska, auf der Absperrgitter den regen Autoverkehr  von den Läufern abschirmen. Bei der russischen Botschaft  geht es vorbei in die Goworka, wo sich die nächste Labe bei 8,4 km befindet. Iso, Wasser, Bananen, harte Kochschokolade wird ausgegeben. 

Ein Läufer mit Kleinkind im Buggy versucht sich seit Minuten vorzudrängen, alle weichen brav aus, doch das Feld ist zu dicht, sodass er nicht weit kommt. Es hat wieder zu regnen angefangen, ich streife die Leichtjacke über. Gerade als ich mich gut fühle, spüre ich einen Stein im linken Schuh. Ich verliere etwas den Anschluss an jene Kollegen, mit denen ich seit  einer Stunde einher laufe.

Ich nähere mich einen mir vom Sehen her bekannten Kollegen, er gehört zu einer Marathontouristengruppe aus Bergamo, die letztes Jahr auch in Helsinki dabei war. Die Pulawska entlang führt der Marathonkurs bei Nässe nach Süden weiter.  „Biegne dla Mamy Pauli“ – alles klar: der auch schon in die Jahre gekommene Pauli läuft für seine Mami, wir hoffen, dass sie gesund und munter ist. Und da ist wieder die etwas korpulente Schwedin vom Marathonteam Stockholm, die ich im Laufe der Jahre schon so oft irgendwo bei einem Rennen getroffen habe. Sie hat immer großen Reserven auf den letzten Kilometern, also Hut-ab und Kompliment.  Ein Witzbold hat auf eine Tafel gekritzelt: Taksowka czeka za rogiem, hasło: maraton (das Taxi wartet um die Ecke, vergiss den Marathon). Seine beiden Begleiterinnen lachen über das ganze Gesicht, der Gag kommt gut an.

Und ich merke, dass ich heute trotz guten Laufwetters – feucht, 14°C, kaum Wind, Asphalt, weitgehend flacher Kurs – so meine Probleme habe. Vielleicht war es das Essen.  Es kommt es zu einem Läufer-Gegenverkehr, für einige Hundert Meter bekommen die Voranlaufenden die jeweils hinter ihnen Kommenden zu Gesicht. Da merkt man, wie nahe die anderen bei dir dran bleiben, wenn man tempomäßig nicht mehr zulegen kann.

Die Gegend wirkt deutlich belebter, nicht was die Zuschauer betrifft, solche sind kaum anzutreffen, sondern die Dichte der Häuser und den wartenden Verkehr in den querenden Seitenstraßen. Wir sind auch schon nahe der 15 km-Marke.  Die Metrostationen Wilanowska und Sluzew sind in der Nähe. Über die ul. Bukowinska und Rolna nähern wir uns der nächsten Labe bei Km 16. 

Der weiterhin im Zickzack geführte Marathonkurs verläuft entlang der Metrotrasse, von der man nur das Stationszeichen erblickt, entlang der aleja Komisji Edukacji Narodowej  zum Ursynow-Einkaufszentrum, auch eine Metrostation. Es geht in die ul. Indiry Gandhi hinein und weiter auf einer langgezogenen Geraden namens Jana Rosola. Bald sind die 20 km erreicht. Die Halbmarathondistanz wird extra ausgewiesen: 2:25 lautet die Bruttozeit, sechs Minuten kann ich abziehen. Doch bald darauf kommt die die 4:45er-Gruppe nach. Mir wird klar, dass meine Ausflüge auf das stille Örtchen viel Zeit gekostet haben.

Die Gegend nach der ul. Relaxowa und insbesondere der ul. Gasek ist in viel Grünland eingebettet. Bald nach dem Halbmarathon erfolgt die Wende, es geht über Nebenfahrbahnen der Przekorna und Lukasza Drewny nach Norden zurück. Wir laufen auf asphaltierten Feldwegen und Zubringerstraßen für landwirtschaftliche Nutzflächen und Bauland in Erwartung. Der Marathon führt auch nach Km 25 durch die grüne Lunge der Warschauer Randbezirke.  Die Bruttoanzeige steht auf 2:56 h, ich wäre gerne viel schneller unterwegs, doch auch hinter mir kommen noch viele nach. Auf den kaum mehr als 3 m breiten Wegen parallel zur Przyczolkowa und aleje Wilanowska  treffe ich Robin Hood und den Gladiator wieder, bei Km 30 machen sie eine längere Trinkpause.

Bald darauf führt die Marathonstrecke vom Grünland wieder in bewohnte Wohnbezirke zurück.  Über die Jana III Sobieskiego geht es erneut im Zickzack hinein in die Witosa und über die Ludwika van Beethovena zurück auf der Sobieskigeo, 35 km sind nun geschafft.

Während des Marathons bin ich bisher mit niemandem ins Gespräch gekommen, die vielen Polen wirken eher reserviert, um mich herum scheinen alle konditionelle Probleme zu haben, man geht statt zu laufen. Noch sind es sieben Kilometer, ich rechne mit weiteren 50 bis 55 Minuten bis ins Ziel.

Die 4:45er-Gruppe hat mich beim Halbmarathon überholt, jetzt bei Km 35 nach 4:17 kommen die 5 h-Läufer im Pulk daher. Wen kümmert bzw. interessiert es, dass meine Probleme im linken Fuß nicht abklingen und ich mich wohl an mein schmerzhaftes Handicap gewöhnen muss. Doch die Cheerleader-Gruppe versucht trotz des für Nichtläufer schlechten Wetters Stimmung zu machen. Sie zeigen sich erfreut, als ich sie knipse.

Die Trasse verläuft nun einig Zeit entlang des Streckenabschnitts auf den ersten 5 km, doch ich habe den Eindruck als wäre ich hier auf der Miesliewicka noch nie vorbeigekommen. In der Nähe befindet sich das Legia-Warschau-Fußballstadion.
Die wenigen Musikgruppen und Bands entlang der Strecke schaffen es  meinem Eindruck nur mühsam,  Stimmung zu entfachen. Eine Art Reggae-Kapelle fällt nur wegen einer auf einem Sessel aufgehängten Fahne in den Rastafarben rot-gelb-grün auf, musikalisch bietet sie keinen Jamaica-Ohrenschmaus.

Es geht heute zäh her, beim Doppelpack vorige Woche in Thurmansbang im bayerischen Wald und am nächsten Tag in Linz fühlte ich mich besser. Aber die weitgehend flache Strecke wäre eigentlich wie geschaffen für schnelle Zeiten zu, wenn jemand gut in Form ist.

Der Anstieg auf die most Świętokrzyski ist die letzte Hürde, 40 km sind geschafft. 4:58 h zeigt das Display, sechs Minuten sind abzuziehen. Ich werde für die letzten 2,195 km wohl 15 Minuten brauchen, eine Finisherzeit um 5:10 könnte sich ausgehen. Bei der letzten Labe vor dem Ziel bleibe ich daher nicht mehr stehen, sondern bemühe mich, den Anschluss an die Läufer, die ich auf den letzten Kilometer begleitet habe, zu halten.

Mit 5:16:43 passiere ich das Ziel, die Nettozeit beträgt 5:10: 55. Für viele Leser bestimmt eine Finisherzeit jenseits von Gut und Böse. Für einige ältere Lauffreunde ein kleiner Trost, dass auch andere sich schwertun, unter 5 h zu kommen. Vielleicht insgesamt aber ein Fingerzeig, sich und seine Leistung zu hinterfragen.

Das Wetter hat sich deutlich verbessert. Ich hole meinen Kleiderbeutel aus dem Depot, Wasser und ein Oshee-Isogetränk mit allerlei Mineralstoffen.  Um 14 Uhr 30 sind schon wieder viele Liegestühle frei geworden, ich setze mich in die Sonne und lasse den Marathon nochmals Revue passieren.

Als ich gegen 15 Uhr 30 entlang der Absperrung der langen Gerade des Zieleinlaufes spaziere, kommen die letzten Marathonläufer mit über 6 Stunden ins Ziel. Die Veranstalter sind äußerst tolerant, ich kenne andere Marathons, wo man strikter ist.
Als ich beim Hotel ankomme, fängt es wieder zu regnen an. Gegen 17 Uhr 30 entschließe ich mich, wie geplant die Warschauer Altstadt zu besuchen. Mit einem 90-Minuten Ticket für 7 Zloty mit Umsteigemöglichkeit geht sich das gut aus. Doch der Regen setzt wieder ein, ich suche Zuflucht in einer Kirche.

Mein Fazit:

Die Organisatoren des 3. Orlen-Marathons verdienen ein sehr gut. Für 89 Zloty (rund 22 Euro) ist das Starterpaket reichlich gefüllt – alleine das Asics-Funktionshirt  kostet bei anderen Events mehr als die gesamte Teilnahmegebühr.  Der Service an den Labestationen hat funktioniert, obwohl mancherorts nur mehr Isobecher ausgegeben wurden und kein Wasser mehr da war. Der Marathonkurs hinaus an den Rand der Großstadt hingegen mag  für schnelle Zeiten ausgelegt sein, doch bietet er kaum touristischen Attraktionen. Im Vergleich dazu ist der Kurs des Warschau-Marathons Ende September, der in den letzten Jahren zeitgleich mit dem im Berlin zusammenfiel, weitaus attraktiver. Obwohl das Zuschauerinteresse abgesehen vom Zieleinlauf gering ist, würde ich alles in allem den Orlen Warschau-Marathon weiterempfehlen.

Sieger bei den Herren:
Hayle Lemi Berhanu (ETH): 2:07:57
Robert Chemosin (KEN): 2:08:05
Markos Geneti (ETH): 2:08:11

Damenwertung:
Fatuma Sado (ETH). 2:26:25
Mercy Kibarus (KEN): 2:27:06
Chaltu Waka (ETH):2:29:30

7357 Finisher, der polnische Barfußläufer und Fahnenträger Paweł Mej wird mit 6:15:33 ins Ziel eskortiert.

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