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Laufberichte

Mit Blaulicht durch Rom

22.03.09
Autor: Joe Kelbel

Was für ein herrlicher Sonntagmorgen!

Grell leuchtet die Frühlingssonne über dem dunklen Grün der Pinien, dahinter die gewaltige Kulisse des Kolosseums. Die hohlen Fenster der Arena sind erfüllt vom stechenden Blau des makellosen Himmels.

Ich stehe fröstelnd auf dem Balkon und genieße den Ausblick. Ist es die Kühle des Morgens oder die göttliche Erhabenheit dieses Startplatzes, wo jahrhundertelang die Gladiatoren ihren Kampf antraten, der mich zittern lässt? Mein Blick schweift nach links, Richtung Circus Maximus, wo sich bunte Läuferpunkte auf bleichem Grün wie auf einer Ameisenstrasse bewegen. Ich schließen meine Augen, die durch die grell-bunte Blütenpracht der Balkonkästen brutal geweckt werden und ziehe den Duft des starken Kaffees in mich auf.
Leute! Es ist Frühling in Rom! Und der germanische Gladiator läuft wieder Marathon!

Heute morgen brauche ich nicht den Lift. Die gestern gekaufte Knieschiene gibt mir Sicherheit, und so springe ich fröhlich von Stufe zu Stufe und hätte beinahe irgendeine Nationalhymne gepfiffen. Unten angekommen reiße ich die schwere Holztür auf. Ein greller Lichtstrahl nimmt mir die Sicht. „Du ewige Stadt, ich trete an!“

Ich schiebe meinen durch das Mainhochwasser geschwärzten Laufschuh auf die erste Stufe, da haut´s mich brutal vom Sockel: Zehn, fünfzehn lautstarke Italiener mit rosa-weißen Frotteepulswärmern und – stirnbändern ziehen wie die Klasse 7 b der Mädchenschule an meinen germanischen Auge vorbei. Einer verzieht sich sogleich aufgeregt in die nahen Büsche des Palatino, das muß Abahachi sein, dann kann ja Winnetouch  nicht weit sein. Tatsächlich  läuft der, wie von Sinnen mit einen Affenzahn zum McDonalds-Zelt, um sich für ein rotes Kappie anzustellen.

Mit diesem „überwältigenden Eindruck“ entschließe ich mich, eine Marathonreportage über einige der Verrückten hier und heute zu schreiben, doch wie die Überschrift schon sagt, sollte es anders kommen......

Um in den Startblock zu gelangen, muss man im Uhrzeigersinn um das Kolosseum herumgehen. Vor dem Konstantinbogen ist grandiose Feststimmung: Eine Aerobic-Trainerin steht auf der Bühne und gibt den Takt für das Aufwärmprogramm vor. Links daneben Reihen von Spinningfahrräder. Musik, Durcheinander, Rufe, Fotos. Die Pacemaker versammeln sich für ein Gruppenfoto. Klasse, wie sich die bunten Luftballons vor der urigen Kulisse des Kolosseums abheben.

Ab 8 Uhr ist Eingang zu den Startblöcken. Man tut gut daran, sich frühzeitig dorthin zu begeben, denn wie Rindviecher muß man durch lange, mit hohen Zäunen abgesperrte Korridore laufen.

Im Startblock wird es schnell eng. Bunte Kleidungsstücke fliegen wie Blumensträuße über unsere Köpfe. Wortfetzen aus riesigen Lautsprechern und laute Musik machen schnell die Unterhaltung schwierig, da setzt sich die Menge auch schon in Bewegung.

Quälend langssam geht es durch tiefe Schlaglöcher. Das Feld ist so eng, daß man oft ins Leere tritt, da man nicht vorausschauend laufen kann. Panikartig rennen viele schon nach 50 Metern nach rechts, um das anscheinend letzte Grün der Stadt zu bewässern. Stolpern und Flüche jede Sekunde. Selbstdarstellerische Rufe nach links: „MAAMAAA!“ Mehrfach gibt es „Auffahrunfälle“ und Tritte in die Hacken.

Wir stolpern weiter Richtung Circus Maximus, ich treffe Renate, die aber auch wirklich bei jedem Marathon dabei ist. Bei der ersten Getränkestation, bei km 5  bricht der Weltuntergang  aus. Ellbogen und Fäuste bahnen sich den Weg zum allerersten Tisch. Ich bin unglücklicherweise zu nahe dran und kann nicht gegen die quer laufenden Massen angehen, die Station ist zwar mindestens 500 Meter lang, doch hier am ersten Tisch wird es äußerst gefährlich.

Informationen: Maratona di Roma
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Irgendwie überlebe ich, wenn auch klatschnaß, als bei km 6 ein deutscher Hühne über einen querstehenden Handbiker fliegt. Mit gekonnter Judorolle kommt er fast wieder auf die Füße, wenn auch stark blutend (ein mitfühlender Gruß an Dich Riese!)

Mein Knie fängt an zu rebellieren, ich lasse mich zurückfallen und genieße, wie das Läuferfeld sich langssam auflockert. Bei Km 10, ich bin schon mehr als eine Stunde unterwegs, blockiert mitten auf der engen Tiberbrücke wieder ein Handbiker die Strecke. Viele Leute sind schon am Gehen und bei km 15 schließe ich mich nach kurzem innerlichen Kampf den „Walkern“ an.

Bei km 16 frage ich einen Ordner nach der nächsten Metrostation. Das war ein Fehler, denn nun fängt eine gänzlich innovative Marathonstory an:

Der gelbe Ordner ruft per Funk die Sanitäter. Vier dick-vermummte orangenfarbene, übergewichtige  Zivildienstleistende umzingeln mich. Ich brülle laut nach der nächsten Metrostation während unzählige Hände mir stützend unter die Arme greifen. Ich wehre mich mit Händen und schmerzfreiem Bein. Das hochrote Gesicht meines Lateinlehrers erscheint mir vor den weinenden Augen und ich dekliniere buoni, bene oder buona, ach was, ich habe nix! Ich will nur weg hier!

Man trägt mich zurück zu km 15 ins Sanitätszelt und wirft mich auf die Pritsche. Über mir wabert eine dicke Orange mit ner Spritze in der Hand.  Zweimal versuche ich aufzustehen und erst als ich die Spritze fotografiere, gelingt es mir wieder auf die Beine zu kommen. Meine Startnummer und mein Name wird in einem riesigen Formular festgehalten. Das Zelt füllt sich, ich rette mich ans Tageslicht, da steht der Klaus  und schießt Fotos von mir. Oh Mann, ist das peinlich!

Die Chefin ruft mich zurück ins Zelt, ich solle mich setzen. Man reißt mir den Transponder von der Startnummer, ich könnte heulen......Immer wieder wird gesagt, daß der Krankenwagen gleich komme....ich will doch nur weg! Frieden! Bitte!

Mitlerweile sind alle Pritschen belegt, und ich versuche wieder zu flüchten, doch mit der Silberfolie um die Schultern bin ich zu auffällig zwischen all den Orangen! Anderthalb Stunden studiere ich meine Mitleidenden und höre mir deren Krankheitsgeschichten an, auch wenn ich kaum etwas verstehe, so bin ich doch anscheinend der einzige Gesunde hier....

Da kommt endlich ein Krankenwagen aus dem ersten Weltkrieg. Avanti! Avanti! Wir fünf Verletzte werden blitzschnell reingeworfen, die Tür knallt zu. Ich klammere mich irgendwie an eine, an den Fahrzeugboden festgeschraubte Pritsche, als in der ersten Kurve sämtliche Schubladen aus der Kabinenfront mir entgegenschießen. Verbandszeug und Operationsbesteck fliegen durch das Innere. Mit Höchstgeschwindigkeit geht es am Ufer des Tiber hoch und wieder runter. Ich versuche noch letzte Fotos aus den gestreiften Fenstern zu schießen. Hinter uns sind Polizeimotorräder, vor uns fährt ein Streifenwagen.-Vollbremsung.
Da wird uns ein Epilepthiker reingeschoben, es muss etwa km 20 sein. Der arme Mann schreit immer wieder: „Crampo, Crampo“.

Wir schleudern gegen die Kabinenwände, während wir im Höllenspeed, mit Blaulicht durch die Stadt rasen. Es gelingt mir, mich an einem Gitter hochzuziehen, um nach vorne Bilder zu schießen. Da ist die Marathonstrecke.....der Piazza Venezia mit der riesigen Schreibmaschine....Tatüüüüü-Tatüüüüüü-Tatüüüüü- Verrückt; wir waren doch fast wieder am Start....Es geht wieder über den  Tiber.....da sehe ich die Kuppel des Vatikan...was ist jetzt los???? Wohin??? Warum zurück??? Ich will hier raus!!!!

Stau. Links, rechts durch die vier, fünf Reihen Autos...Tatüüüü-Tatüüüü-Tatüüüü.
Der gleiche Weg. Wieder der Piazza Venezia. Vollbremsung. Wir werden rausgezerrt und in ein Zentrallager auf dem Platz gezerrt kaum getragen. Man drückt mich wieder auf eine Pritsche. Es muss etwa km 40 sein und um mich herum sieht es aus, wie nach einer Schlacht: Läufer aus aller Herren Länder liegen zitternd oder apathisch auf den Pritschen.

Ich springe wütend auf die Beine, da werde ich umzingelt. „Ispezione! Examination!“ ich sage. „ Nix Ispezione, Mio alla Casa! Claro?“

Meine Silberfolie hält mich gefangen wie eine Zwangsjacke, da kommt mir die rettende Idee:
Ich zücke meine Kamera und mache Bilder von den Halbtoten um mich rum. Es klickt und blitzt. Im Nu kommt der Chef  angeschoßen. Ich sage ihm: „Mio tuto in ordine, mio solamente alla casa, tu capito? - ich will hier weg!“  Er spricht gut englisch. Wir einigen uns:
Ich lösche die Fotos, und er läßt mich gehen.

Als ich endlich am Ziel ankomme, habe ich meine Bestzeit um 20 Sekunden verpasst.

 

 

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