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Laufberichte

Marburgfieber

 
Autor: Joe Kelbel

Als 1967 das Marburgfieber zum ersten Mal die Laborangestellten in Marburg traf,  wurde die Stadt in einen Ausnahmezustand versetzt. Heute setzt der Nachtmarathon zum 18ten Mal die Unistadt in Ausnahme. Fast zweitausend Studenten treten beim Halbmarathon an, wühlen,  schwitzen und hoffen auf Unterstützung von ihren grillenden Kommilitoten, sorry –tonen auf den Lahnwiesen. Anmelderekord. Heute brennen die Wiesen, und wenn die Halbmarathonis nach dem Zieleinlauf im Unistadion  liegen, dann laufen knapp 100 Marathonläufer und über zweihundert Staffelläufer noch zweimal die südliche Streckenhälfte durch die Dunkelheit.

Drei Jahre ist es her, seitdem ich das letzte Mal den Nachtmarathon gelaufen bin. Krankenhausaufenthalte  haben mich gehindert. Krankenhausaufenthalte gibt es oft nach  diesem Marathon hier. Die Studikids haben einfach Fieber, brennen für diesen Lauf, der im luftdichten Tal der Lahn schnell zu einem Extremkampf wird. Hier macht der Ultra Club Marburg halt sehr gute Basisarbeit, motiviert viele Erstlinge - und das sogar im Hochsommer!

Anmelde- und Zielbereich befindet sich im Uni-Stadion Jahnstraße, neben der  Jugendherberge. Der Marathon kostet studentische 24 €, HM 14, und die 4er Staffel 32 Euro für alle Staffelläufer.  Vor allem die 4er Staffeln sind sehr beliebt.

Der Start ist jedes Jahr um 19 Uhr auf dem historischen Marktplatz vor dem Rathaus, etwa 750 m den Berg hoch. Vor dem Rathaus die Statue von Sophie von Brabant, der ältesten Tochter der Heiligen Elisabeth, von der ich 2009 in meinem Bericht „Schlaflos in Marburg“ berichtet habe. Sophie hält den vierjährigen Heinrich in ihren Händen, ruft ihn nackisch zum Landgrafen von Hessen aus (1248).  Nein, nicht die Sophie, der kleine Heinrich ist unbekleidet.

Es ist recht eng und sehr heiß hier auf dem Platz, alles fiebert dem Erscheinen des Gockels im Dachgiebel des Rathausturmes entgegen. Der nämlich zeigt die Startzeit an. Der Gockel sitzt oberhalb der Weltkugel, die sich langsam dreht und kommt zu jeder vollen Stunde zum Krähen nach draussen: „TongTada“ ruft das Vieh, einfach so, weil bekloppt, wie alle hier. Besonders aber wie Andreas, der den Gockel mittlerweile samt Flügelschlag perfekt imitiert.

Der Renaissanceturm wurde erst nachträglich angebaut, den Marburgern war das Rathaus vorher zu schlicht gewesen. Deswegen hat die Uhr auch ein doppeltes Ziffernblatt, mit  römischem und zusätlich mit lesbaren Ziffern. Auf der linken Seite der Uhr ein Trompeter, auf der rechten Seite der Tod, der ein Stundenglas umdreht. Unterhalb die Justitia, der man hier in Marburg nicht die Augen verbinden muss, weil wohl die Herren im Rathaus schon alles regeln.

Seit 10 Jahren gibt Oberbürgermeister Egon Vaupel den Startschuss. Na gut, 2009 war es mal Sven Fischer. Egon ist ein bewundernswerter Politiker. Er hat nach seiner Mittlere Reife in der hessische Finanzverwaltung eine steile Karriere hinlegte, während ich  seitdem sehr viel Zeit zum Marathonlaufen habe.

Rechts vom Eckhaus Markt 11 mit seinem Fachwerktürmchen ist die Nikolaistrasse, benannt nach der alten Marburger Familie Nicol. Bei der Adresse Nikolaistrasse 3 steht das Hochzeitshaus, welches dieses Jahr auf der Finishermedaille zu sehen sein soll. In dem Haus mit dem schiefergedeckten Walmdach und den 6 Ecktürmen wurde nie eine Hochzeit geschlossen oder gefeiert, der Name soll nur auf die goldene Zeit (1528) hinweisen, in der der reichste Marburger Bürger Hermann von Schwan das erste steinerne Haus und den Schwanhof  erbaute.

Tatsächlich ist auf der Finishermedaille das Mineralogische Museum. Ich weiß das, ich werde ja finishen. Dass Mineralogische Museum befindet sich im alten Backhaus des Deutschen Ordens, dem letzten Gebäude der Deutschritter, das erhalten geblieben ist. Hinter dem Hochzeitshaus jedenfalls ist das Marathon-WC zu finden. Wobei ich mich frage, wo die Halbmarathonläufer hingehen, wenns die mal drückt.

Neben mir steht ein Typ wie Sachsen Paule mit einem Telefunken-Nordmende-Schaub-Lorenz Handy mit Ratsch-Bum, telefoniert mit einer seiner Kolleginnen und prahlt, wie lang doch so ein Halbmarathon ist.  Das wird mir dann doch etwas zu heiss, der Rathausgockel macht gleich „TongTata“, also schnell zurück auf dem Marktplatz, wo mich ein Typ anquatscht, der gerade wie Friedrich Merz sein Comeback ankündigt: „Es wird heute heiss werden!“  Super! Im Winter hätte er damit Wählerstimmen bekommen, heut gibt ´s keine 5 likes. Wir alle starren auf den Gockel, wie Sheldon voller Angst  auf den Blauhäher, und erwarten, dass Egon was macht.

Es ist wohl noch Zeit, so drehe ich meine Runden, um bekannte Läufer zu finden. Siegrid Hoffmann ist heute Favoritin beim Marathon, sie ist in der Nationalmannschaft des 24 Std Laufes. Ihr Vater Norbert (M75)  ist 100 km Weltmeister in seiner Altersklasse und ist jedes Jahr beim Nachtmarathon dabei. Beide finde ich nicht, sie treten nicht an, Hitzestress.

Beim Halbmarathon ist auch ein Hoffmann Favorit, und zwar der Oliver, der vor zwei Wochen in Hamburg 1:09:31 gelaufen ist. Er tritt tatsächlich an und siegt mit 1:13.  Michel Descombes, der Franzose und „Spasspräsident“ tritt auch nicht an, er ist heute in Irdning (Steiermark) beim 24 Stundenlauf. Seine Bestzeit im Marathon ist übrigens 2:51.

Wer also tritt heute an, außer mir?

Weil der Wochenmarkt mittwochs und samstags stattfindet, wird der Nachtmarathon freitags ausgetragen. So könnte man am Samstag und/oder Sonntag noch einen Mara laufen. Ich entscheide für den  Marathontrail morgen in Wiesbaden. Nodger und Christopher auch, sie werden aber nicht erscheinen.  Rene S. will morgen den 100 TU laufen, wird aber nicht ankommen, der Nachtmarathon wird viele von uns dieses Jahr an die Grenzen bringen.

Wir dürfen heute maximal 6 Stunden laufen.  Das wurde früher nicht so eng gesehen, denn es gab damals viele der alten, ehrenwerten Läufer. Vor  Jahren ist hier Volker Berka einen der letzten seiner über 500 Marathons gelaufen. Danach machte er noch 120 Marathonwanderungen und nun hat der 72jährige auf 10 km Läufe zurückgebaut. Einen schönen Gruß an die Laufgemeinde lässt er bestellen. 

Marco Diehl ist Mitte 40, wiegt 60 kg, also etwa 5 kg weniger als ich, läuft heute den Halbmarathon zusammen mit der riesigen Gruppe der gelben Deutschen Vermögensverwaltung, wird also ausnahmsweise mal nicht den Marathon gewinnen. Er baut aber nicht zurück, beim Trollinger lief er den Marathon entapnnt 2:50 Std.

Zunächst stellt der Moderator Arthur Schmidt dem Oberbürgermeister einige Fragen, dann wendet er sich an mich, erwähnt meinen Namen. Ob Egon Vaupel wegen meines Namens oder meiner 283 Marathons zusammenzuckt, ich weiss es nicht. Wegen eines schweren Herzinfaktes 2013 gibt er den Posten als Oberbürgermeister auf. Es ist heute sein letzter Schuß.  Unser beider Wege trennen sich endlich.  Auf einer Bistrobank stehend fotografiere ich den Start und reihe mich ein, als die Läufer langsamer werden.

Man sprintet unglaublich schnell die Barfüsserstrasse hinunter, an deren Ränder den Gästen der Cafes und Kneipen bei offenem Mund die Nudeln von den Gabeln fallen. Die Barfüssermönche gehörten zu den Franziskanern und hatten hier von 1234 bis 1528 ihr Kloster. Nach dem Abriss des Klosters wurden die Häuser gebaut. Im Haus Nr 35 wohnten die Gebrüder Grimm. Das „Ge“ bei den Brüdern wurde früher sprachlich genutzt, um die Zusammengehörigkeit zu betonen.

Wir „Ge“läufer  nutzen die leicht abschüssige Strecke, um richtig Gas zu geben. Das ist normal hier, wird sich aber später rächen. Wie das halt so ist das beim Nacht(Halb)marathon.

Nach dem Wilhelmsplatz gibt es mehr Raum für Zuschauer, und die gibt es reichlich hier und in der Universitätsstrasse bis zum hässlichen Rudolphsplatz (km 2), dessen Renaturierung wohl noch viele weitere Jahre dauern wird. Ich erinnere mich an Jürgen Kuhlmey, den ich hier mal überholt hatte. Der 77 jährige hat letzte Woche wieder mal den 7. Marathon auf 7 Kontinenten gefinisht. Hiermit Glückwunsch an meinen Laufkameraden beim Costa Brave Extrem vor vielen Jahren.

Unsere Laufstrecke führt nun direkt auf die Elisabethenkirche zu, die mit einem Kranz der untergehenden Sonne gekrönt wird. Finde ich gut. Es geht Richtung Wehrda. Mit „Werder“ bezeichnete man eine erhöhte Lage am Ufer. Aus dem Steinbruch hier stammen nicht nur die Sandsteine für die Elisabethenkirche, sondern auch für den Reichstag in Berlin. Die ersten Staffelläufer übergeben sich und ihre Startnummern.

Geschnitten wurden die Steine für den Reichstag in der Steinmühle, jetzt Jugendherberge in Gisselberg, wo der südliche Wendepunkt unserer Strecke ist. In diese Richtung biegen wir nun ab, laufen rechtslahnisch zunächst durch die kochenden Felder zur Uni. Dort gibt es einen Kiosk (unter Boxenstop stellt man sich was Schnellers vor) und ich klatsche die Läufer ab, die sichtlich gezeichnet von den ersten paar Kilometern sind. Es ist einer der Stimmungshochburgen, wobei die meisten Studentinnen am Ufer der Lahn liegen. Auch das kühle Wasser ist verlockend.

Beim Hirsefeldsteig geht es auf die andere Lahnseite zum nächsten Staffelwechselpunkt. Jede Menge Trubel und jede Menge kühles Nass aus dicken Schläuchen werden aufgeboten. Die nächsten Kilometerchen gehen ruhig am Ufer entlang, bis wir zur großen Wiese kommen. Da sind das Bier und die kühnen Grillkonstruktionen noch kalt, die Studenten aber sehr fiebrig, grüßen mich, als sei ich Boris Becker. Ich werde noch zweimal hier vorbeilaufen. Dann aber wird das Bier warm und die Steaks auf dem Lidlwagen heiss sein. Dann muss ich starkt aufpassen, denn Bierentsorgungswillige kreuzen häufig die Laufstrecke, weswegen sich eine Stirnlampe empfiehlt. Nicht zum Spannen, man sollte den Scheinwerfer bei Wildwechsel schliesslich ausschalten. Es ist meine Lieblingsstrecke hier. Wenn ich bald Student bin, dann werde ich auch hier den ganzen Tag auf der Wiese rumgammeln, grillen, Bier trinken und den verrückten Läufern hinterherschauen. 

In Gisselberg gibt es zwei Attrationen: 1. die 20jährige Bauruine an der Gisselberger Str. Die Eigentümerin hat vor langer Zeit etwas versucht, nicht gefinisht, ist jetzt nicht auffindbar, also alles normal. Zweite Sehenswürdigkeit ist der Fanclub von der Blutbank. Hier nämlich wird Fieber mit Bier bekämpft. Es waren die früheren Kollegen dieses netten Fanclubs, die sich durch das Blut von Versuchsaffen aus Uganda das Marburgvirus einfingen. Heute freuen sie sich, dass sie mich einfangen und zeigen mir das Fotoalbum, als man noch Streckenfotos von Klaus D. machen konnte. Ich sehe auf alten Bildern auch gut aus, muss jetzt aber weiter.   

Beim diesem Marathon werden vor allem für  Langdistanzläufer auch Gels angeboten. In diesem Jahr musste die Orga die Geltüten waschen, legen und fönen, denn die Lieferung erfolgte per Tüten-Klebklumpen und erforderte einige Stunden Arbeit.

Die Hauptarbeit hatte Eugen Leipner, der Chef.  Ihn treffe ich nachher im Ziel. Zunächst  verabschiede ich die Halbmarathonläufer in Richtung Stadion und begebe mich auf die nächsten zwei Runden, die am Hirsefeldsteig anfangen. Der wurde 1913 mit Privatinitiantive erbaut, ehe sich 2010 die Stadt zur Finanzierung der Erneuerung entschloß. Die 28 Meter der freitragenden Brücke sind eine Herausforderung, denn ich habe mich 2012 fürchterlich hingelegt, weil die Bretter zwar rutschfest, aber uneben sind. Was soll´s. Zuvor auf dem alten,  erneuerungsbedürftigen Steg hatte es mich auch gerissen.

Bei der Staffelwechselstelle wird es ruhiger, die Letzten der Staffeln sind schon auf der Endrunde.Es wird dunkel. Fotos gelingen kaum noch, die Steaks auf dem Lidlwagen-Grill sind durch, die Jungs schwarz gekleidet mit Anti-Arbeit-Parole auf den Shirts, sind aber sonst nett,  bieten mir Essen und Getränke an. Doch mein Magen macht Probleme. Es ist zu heiß und ich habe ausnahmsweise zu viel Wasser im Bauch.

Auf der langen Strecke nach Gisselberg vermisse ich dieses Jahr die Glühwürmchen. Erst der  Fanclub in Gisselberg gibt mir wieder Erhellung. Die letzten zwei Runden gehen über die Steinmühle, dem früheren Startort der 50/100 Km von Marburg. Das folgende 10 Meter lange Trailstück ist mittlerweile zu einem statthaften Weg geworden, der mit einer sehr hellen Lichterkette erleuchtet wird. Stirnlampe ist nicht unbedingt erforderlich, aber hilft mir, mich wachzuhalten und Stefanie anzuleuchten. Halb so alt wie ich (kein Kunststück mehr), bekommt sie ihre Kraft von Ihren Kindern, die verschlafen im Ziel warten.

Mit 98 Finishern beim Marathon wird hier den hohen Temperaturen Tribut gezollt. Dieses Jahr war es zwar heiß, aber nicht schwül, deswegen durchaus machbar. Wetterbedingungen waren noch nie einfach, ein Marathon auch nicht. Von Superlativen kann man nur hinsichtlich der Orga reden!

 

Informationen: Nachtmarathon Marburg
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