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Dirk's Weihnachtsgeschichte 2007

23.12.07
Quelle: Dirk Liedtke

Entführung

Arne kauerte auf dem Boden und weinte still. Dann raffte er sich auf und rannte, nackt wie er war, aus der Wohnung, tippelte die Treppe herunter und verharrte vor der Hausflurtür.

Schließlich trat er auf den nasskalten Gehsteig hinaus. Unbarmherzig stach die Kälte ihm in die Fußsohlen. Er vermochte nicht stehen zu bleiben und ging einfach weiter. Den feinen Nieselregen spürte er kaum. Mit zusammengepressten Lippen strebte er vorwärts der beleuchteten Straße zu. Irgendjemand musste ihm doch etwas zu essen und anzuziehen geben. Unachtsam betrat er den Asphalt und schaute, in einer flachen Pfütze stehen bleibend, erschrocken nach rechts. Grelles Scheinwerferlicht schoss auf ihn zu.

Nils Weihmann fuhr in seinem bis oben hin vollgeladenen Pick Up auf der Schnellstraße durch die Stadt. Für seinesgleichen herrschte der am Heiligen Abend übliche Stress. Seine letzte Fuhre sollte er heute in das neue Viertel mit Eigenheimen am Rande der Stadt bringen. Dort hatten meist junge, gut betuchte Familien gebaut. Da diese Leute vor allem ihre Kleinen recht reichhaltig beschenkten, fiel Nils Fuhre entsprechend aus. Aber da es für dieses Jahr seine letzte war, nahm Nils die Angelegenheit gelassen. Er verließ sich auf sein Navigationsgerät, denn da das zu beliefernde Viertel neu war, kannte er sich nicht aus.

So nannte das Navi ihm die Abfahrt und schickte ihn nach rechts. Jedoch versperrte ein Umleitungsschild den Weg. So folgte Nils widerstrebend der Ausschilderung und fuhr nach links.

Er fuhr durch ein älteres Wohngebiet mit Mehrfamilienhäusern. Hier war Nils im letzten Jahr eingeteilt gewesen. Viel Arbeit hatte er nicht, denn hier lebten eher ältere Leute und ärmere Familien, deren Geschenke nicht so üppig ausfielen. Doch heute war Nils zunehmend genervt, denn das Navi meldete unentwegt, dass er falsch fuhr. Angestrengt hielt er durch Dunkelheit und Nieselregen Ausschau. Wann kam endlich das verdammte Umleitungsschild? Plötzlich tauchte etwas Helles genau vor ihm auf und er trat voll in die Eisen.

Schockiert starrte Nils auf den nackten Jungen, der unbeweglich nur wenige Zentimeter vor dem Pick Up in einer Pfütze stand. Schon war er bei dem Jungen und nahm ihn auf den Arm. „Du holst dir ja den Tod“, rief er kopfschüttelnd aus und barg den Jungen so gut es ging in seinen Wintermantel. „Wo gehörst du denn hin, mein Kleiner?“, fragte Nils den Jungen, dessen Körper steif und kalt in seinen Armen hing. Der Junge zitterte nicht einmal, über diese Stufe der Unterkühlung schien er schon hinaus zu sein. Freilich vermochte er Nils nicht zu antworten. Nils schaute sich ratlos um. In welche dieser vielen Wohnungen gehörte er wohl? Rasch fällte er einen Entschluss: Der Junge gehörte schnurstracks in ein Krankenhaus.

So hievte Nils Arne denn auf den Beifahrersitz des Pick-Up und hüllte ihn sorgsam in seinen Mantel ein. Das nächste Krankenhaus war am selbigen Stadtrand, indem sich das Eigenheimviertel befand. Umleitung hin oder her. Nils wendete und fuhr zurück.

Arne lag unbeweglich in den Mantel gehüllt auf dem Sitz. Nils betrachtete den Jungen besorgt. Er trat ordentlich aufs Gaspedal, doch wenig später musste er erneut scharf bremsen. Ein dunkler PKW stand quer auf der regennassen Fahrbahn. Kaum stand der Pick-Up, sprangen zwei ebenso dunkle Gestalten aus dem PKW. Die eine Gestalt kam links an die Fahrerseite, die andere rechts an die Beifahrertür heran.

Sandra riss die Beifahrertür auf, sah überrascht auf das dort kauernde Bündel, stieg aber resolut ein.

Jürgen hatte die Fahrertür aufgerissen und herrschte Nils Weihmann an: „Warum folgen sie nicht dem Umleitungsschild?“

„Der Junge muss schnell ins Krankenhaus“, rief Nils seinerseits aufgebracht. „Bitte schließen sie die Tür. Er ist total unterkühlt.“

Jürgen blickte verunsichert zu Sandra hinüber. Die hatte Nils bereits auf den Schoss genommen. „Was ist mit ihm?“, fragte sie mitfühlend.

„Keine Ahnung“, antwortete Nils. „Er ist mir völlig nackt fast in den Wagen gelaufen. Er braucht einen Arzt, verdammt.“

„Ich bin Ärztin“, entgegnete Sandra. „Bitte wenden Sie und folgen Sie dem Wagen.“
Sandra spürte Nils skeptischen Seitenblick. Da sie sich professionell um den Kleinen kümmerte, nickte Nils.

„Also los“, rief Jürgen und knallte die Fahrertür zu.
Nils wendete erneut und folgte dem dunklen PKW.
„Hören Sie, wir entfernen uns vom Krankenhaus“, brachte Nils einwendend hervor.

„Es ist nicht mehr weit. Wo wir ihn hinbringen, ist er gut versorgt.“
Nils brummelte nur etwas Unverständliches in seinen Bart.
„Haben Sie vielleicht etwas Warmes zu essen oder zu trinken dabei?“, fragte Sandra, Arne liebevoll den Kopf streichelnd.

„In meiner Thermoskanne ist noch ein Rest Kakao.“
„Geben Sie her.“
Sandra brachte Arne wirklich dazu, Kakao zu trinken.
Der Kleine belebte sich und blinzelte schwach im Fond des Wagens umher. Er sah Sandra matt an. Als er Nils gewahrte, rief er freudig aus: „Papa!“
„Er halluziniert“, sagte Sandra.       

„Armer Junge“, brummte Nils und fuhr, dem PKW folgend, vor ein zweistöckiges Gebäude.

„Parken Sie vor der Tür und tun Sie, was man Ihnen sagt. Ich kümmere mich um den Jungen.“ Sandra stieg, Arne auf dem Arm, behände aus.

„Sie werden die Geschenke nicht an die Lieferadressen bringen“, sagte Jürgen zu Nils, der ebenso ausgestiegen war.

„Aber wie stellen Sie sich das vor?“, fragte Nils verdattert. „Wir haben unsere Vertragsbedingungen.“

„Genau die gehen uns gegen den Strich“, wandte Jürgen scharf ein. „Wir laden aus, alles.“

„Hören Sie mal, Sie machen sich strafbar und ich komme in Teufels Küche.“ Nils suchte Jürgen und die weiteren zwei Männer, die mit dem Ausladen der Geschenke begonnen hatten, zu behindern.

„Gehen Sie aus dem Weg. Seit Jahren zweifeln wir an der Gerechtigkeit Ihrer Verträge. Warum, frage ich Sie, bekommen die, die schon alles haben immer noch mehr?“

„Auch bei uns läuft das Geschäft, Ware gegen Bezahlung. Ich kann schon gar nichts dafür, denn ich bin nur ein kleiner Diensttuender.“

„Dann sagen Sie Bescheid, da wo sie herkommen. Es stimmt doch was nicht, wenn in einem Land einige immer fetter werden und andere an Hunger und Kälte leiden.“

„Ich kann es ansprechen“, sagte Nils die Schultern zuckend. „Nur fürchte ich, die Antwort  wird so oder ähnlich lauten: Ihr Menschen macht auf Erden das Gesetz. Ihr lebt in einer knallharten Leistungsgesellschaft, dass das sogar bis zu uns hin abfärbt. Wir sind hingegen eure Boten, in Angelegenheiten von Geschenken, wie in Schicksalsfragen auch.“

Da hielt Jürgen einen Moment inne. „Trotzdem“, sagte er dann weiterarbeitend. „Manchmal muss man da eingreifen, eben weil wir Menschen sind.“

„Für wen sind die Geschenke bestimmt?“, fragte Nils vorahnungsvoll.

„Dies ist ein Kinderheim für Emigranten- und Waisenkinder. Ich kann Sie jetzt nur bitten, leisten Sie Ihren Beitrag. Verteilen Sie die für die Reichen bestimmten Geschenke an diese armen Würstchen hier.“

Da nickte Nils gedankenschwer und folgte den Männern ins Haus.

Gar viele kleine Wesen unterschiedlichster Hautfarbe wohnten in großen Zimmern und schliefen in für sie zu großen Betten. Nils Weihmann verteilte die Geschenke unter ihnen und bekam treuherzige Kinderblicke dafür. In einigen Zimmern hatten die Kinder Weihnachtslieder einstudiert, die sie mit feurigen Wangen im Chor vortrugen. Gar nicht wenige der Kinder lagen krank auf der Krankenstation. Spätestens hier hatte Nils kein schlechtes Gewissen mehr, die Geschenke unrechtmäßig zu verteilen. Denen, für die die Geschenke bestimmt waren, würden sicher heute Abend die Augen nass werden. Aber sie schliefen in wohlbehüteten Betten und hatten Spielzeug und Anziehsachen genug. Auf der Krankenstation traf Nils Sandra wieder, die jetzt ganz Ärztin, den in einem Bett liegenden und am Tropf hängenden Arne versorgte. Als Nils auch Arne ein Geschenk überbringen wollte, schüttelte Sandra den Kopf. 

„Er will kein Geschenk“, sagte sie, Arne vom Tropf abschließend. „Er will mit Ihnen fahren. Nehmen Sie ihn mit?“

Nils nickte stumm und ließ sich von Sandra Arne in den Arm legen. Sandra reichte Nils auch seinen Mantel wieder und er registrierte erst jetzt, dass er seinen Auftritt im Kinderheim ohne diesen vollzogen hatte. 

Arne sorgsam in Mantel und Arm gehüllt, verließ Nils schweren Schrittes das Heim. Schweigsam bettete er Arne auf den Beifahrersitz und stieg selbst ein. Langsam und bedächtig fuhr er nun durch die Stadt. Als das Navi ihm Stadtausgangs in Richtung Himmelpforten wies, sah er in Arnes Gesicht und wusste um dessen Traum. Arne träumte sich, warm und satt in einer flauschigen Wolke liegend, seiner irdenen Pein für immer entsagt.

 


 
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