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The Pilgrims Progress

28.09.06
Quelle: Klaus Feierabend

Der laufende Berliner Pfarrer Klaus Feierabend hielt am Vorabend des Berlin Marathon in der voll besetzten Blauen Kirche diese Predigt und erhielt dafür viel Applaus:

 

Liebe Freunde, so darf ich euch wieder anreden, hier in der Blauen Kirche, am Abend vor dem Berlin-Marathon! Wer diese Strecke läuft, der kann was erzählen. Ein ganzes Buch der Erinnerungen entsteht nach und nach, wie von selbst. Ich schlage es auf, und die Bilder lassen sich sehen. Auch und gerade wenn du nicht mehr aktiv dabei bist und nur noch deine kleineren Trainingsläufe machst, verdichten sich die bildhaften Eindrücke von damals an den unterschiedlichen Orten.

 

Zum Beispiel Frankfurt, vor langer Zeit: Du warst wegen einer Fußverletzung die letzten drei Wochen „ohne“, sonst aber gut drauf und hoch motiviert. Welcher Schrecken, als nach 10 Kilometern ein Läufer kurz von dir anhielt, anklagend gen Himmel stöhnte und laut zu schreien anfing: „Aus! Aus! Aus!“ Das hatten wir doch schon einmal gehört, bei einer anderen Sportart? Dieser Läufer hier, besser: Stehenbleiber suchte offensichtlich unseren Trost, wollte uns, zumindest mich, zum Stehen bleiben veranlassen. „Weiter“ , dachte ich, „vorbei, nur schnell vorbei“. Nicht vorbereitet sein kann jeder, aber so wie der…!

 

Auch Lauffreundschaften können entstehen, die ein Leben halten müssten, so denkt man einige Stunden lang. In Istanbul, als du die entscheidende Kurve nicht mitkriegtest und im Zug der meist jugendlichen 10-km-Masse dich total fehlleiten ließest, schließlich 5 km zurück ranntest und wild entschlossen warst, diesen Marathon zu Ende zu führen, mit 10 km mehr in den Beinen und wie auch immer sonst. Dann fandest du einen Leidensgenossen, der genauso darauf brannte das Ziel zu erreichen, koste es, was es wolle. Und wie ihr dann den Bosporus rauf und runter ‚machtet’, die Entgegenkommenden heiter bewundernd. „Da könnten wie jetzt auch schon sein, wo die sind“

 

Schließlich waren die Straßen dem Autoverkehr freigegeben und die Taxis fuhren uns beim Linksabbiegen fast die Knie ab. Einmal haute Josef, mein Mitläufer, seine Plastiktasche mit dem Fotoapparat  einem Taxi auf die Kofferhaube, dass es nur so krachte. Den Fotos, die er während unseres gemeinsamen Kurses immer wieder macht, hat es nicht geschadet. Köstlich und unvergessen.

 

Oder bei uns in Berlin-Spandau, Marathon an der Mauer entlang, im Naturschutzgebiet Eiskeller, zweimal hin und zurück. Ich lief hinter einem Dreierpack gleich grün gekleideter stämmiger Athleten, ich schätze mal: Fußballer. Lange Zeit, 20 Kilometer, ich immer dicht hinter ihnen. Dann fielen zwei von ihnen ab, verdampften auf dem Asphalt. Und beim letzten Wendepunkt entkam ich dem Dritten und wurde immer schneller.

 

Bei km 40 aber schaue ich mich mal um, da liegt er hundert Meter hinter mir, was heißt „liegt“, er fliegt. Zweihundert Meter vor dem Stadion Hakenfelde überholt er mich und beendet seinen Lauf eine halbe Schlussrunde vor mir. Später gehe ich zu ihm hin, er lacht und scherzt mit seinen zwei Kumpels, die auch irgendwie wieder lebendig waren. Ich gratuliere ihm zu seiner blendenden Zeit und dem gewonnenen Zweikampf. Da erkennt er in mir den Looser von vorhin, legt sein Gesicht in die Maske der unnahbaren Verachtung, schaut durch mich hindurch und sagt – nichts. Da wusste ich für alle Zeit: Nein, Läufer sind nicht bessere Menschen, dass du nie wieder so einen Quatsch erzählst, Pfarrer!

 

Läufer sind Lernende. Eigentlich sollte das für alle Menschen gelten. Läufer haben – so meine ich – die besondere, in Ihrem Laufenwollen und Laufenkönnen gegründete Chance, sensibel und aufmerksam das Signal zu vernehmen. Die Botschaft, die sie dazu fähig macht, den Gewohnheitstrott zu unterbrechen, Ja, die Unterbrechung selbst als Botschaft zu verstehen. Die Botschaft sagt: Alles ist Zufall. Alles Wichtige. Das Wichtige fällt dir zu, geschenkt.

 

Deshalb ist das kleine Gedicht von Heinz Piontek durch den Heiligen Geist eingegeben, das denke ich, seit ich es kenne:

 

„Zum Laufen hilft nicht schnell sein,

beim Kämpfen nicht stark sein,

in der Kunst nicht Blut + Wasser schwitzen,

im Goldrausch auch kein fieberhaftes Schürfen.

Drum gedulde dich, sieh zu,

bis du die Zeit auf deiner Seite hast.

Denn ist es an der Zeit,

genügt ihr ein Augenblick,

dann überlässt sie dir,

ohne nach deinen Anstrengungen zu fragen,

und auch dir, Schläfer bis in den Mittag

das volle blendende Glück.“

 

Das wird wohl auch dir gelten, Marathonläuferin- und - läufer, bis über den Mittag hinaus, morgen. Ganz ernsthaft möchte ich uns alle „Pilgrims“ nennen. Du bist, ein Pilgrim. Ein Pilger auf meditativem Weg. Für Hape Kerkeling – wer kennt ihn nicht – eine urplötzliche Offenbarung: „Ich bin mal eine Weile weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg“. Dieses Buch kann man lesen, es lohnt sich.

 

Er nennt sich eine pummelige couch potatoe, die mal eben in Badelatschen  - die kanadischen Boots hängen pitschnaß am Rucksack - die Pyrenäen überquert. Das war erst der Anfang seines 800 km langen Pilger-Fußweges nach Santiago de Compostela, zum Grab des Apostels Jakobus. Originalton Hape Kerlkeling „Gestärkt wandere ich weiter und wundere mich nach einer guten halben Stunde über die Leichtigkeit meines Schritts. Irgend etwas fehlt. Ein Geräusch. Das schürfende Klackern meines Pilgerstabes auf dem Asphalt ist verschwunden. Na, prima. Ich habe ihn vorhin stehen lassen. Sofort trabe ich im Eilschritt zurück. Was tue ich hier? Bin ich noch gescheit?“

 

Ich muß euch gestehen, bei meinem letzen Halbmarathon habe ich was Ähnliches gemacht. Ich bin sozusagen zurück gegangen, nachdem der Vorwärtsschritt schon angesagt war. Ich hatte meinen Chip vergessen und versuchte verzweifelt und im letzten Moment, mir am SCC-Stand einen neuen zu besorgen. Das gelang schließlich, weil jemand Mitleid mit mir hatte. Er hätte mir auch eine Glocke umhängen können und wusste wohl sehr genau, was er tat. Nur ich Däumling und Schlafwandler nicht. Statt zu laufen mit meiner korrekten Startnummer und ohne offizielle Zeitnahme, na und?

 

So schlappte ich dem längst enteilten Massenfeld hinterher, im Grunde blieb’s dabei, sogar ein paar tüchtige Powerwalker überholten mich irgendwann. Und das mir, dem ehemals schnellsten Pfarrer Spandaus. – Ich bin mal eine Weile weg.

 

Für uns ist das eine alltägliche Erfahrung. Oder hast du’s noch nie von dieser Seite betrachtet? Als Marathonläufer ein Pilger zu sein, wie auf dem Jakobsweg? Ich möchte jetzt nicht doch zu dick auftragen. Ich weiß durchaus, dass ich damit viele, vielleicht auch etliche unter uns nicht erreichen würde. Die ihren Marathon als rein sportliche Herauforderung sehen, nun ihr Training als objektive Voraussetzung dafür nehmen, nicht mehr und nicht weniger.

 

Aber für mich und andere kann ich es nicht anders sehen: Laufen ist mehr als die Beine im Takt vorwärts zu bewegen. Ich las als Schüler vor 55 Jahren ein englischsprachiges Buch, das war die Aufgabe. Ich wählte ein sehr ungewöhnliches Werk. John Bunyan, puritanischer Laienprediger aus dem 17. Jahrhundert, hatte eine umfangreiche Schrift veröffentlicht, mit dem Titel: „The Pilgrims Progress from this World to that which es to come, delivered under the Similitude of a Dream“ = Des Pilgers Reise von dieser zur zukünftigen Welt, dargestellt unter dem Sinnbild eines Traumes. The Pilgrims Progress, des Pilgers Weg zum Ziel. Ein erster sehr englischer Entwicklungsroman. Es galt den Weg zu finden, den Weg des Heils, nach und nach, wie durch wachsende Ringe. Ein Reifeprozess war nötig in der Kunst der Selbsteinschätzung.

 

Warum erzähle ich das? Weil mir aufgefallen ist, dass wir alternde Läufer und Läuferinnen – vielleicht die Männer mehr als die Frauen – eine fast ungeschützte Schwachstelle haben:

wir schätzen unsere vor uns liegenden Laufchancen falsch ein. Wir rechnen fest mit der Überbietung der Vorjahresleistung. „Wenn alles normal läuft“, so unsere Rede. Eine Weile, ein paar Jährchen kann das gut gehen, wenn alles „Unnormal“ läuft. Dann aber nimmer. Ich habe das bei mir beobachtet und natürlich bei vielen anderen. Wenn ich mal das Sprichwort auf den ‚Kopf stellen darf: „Torheit schützt vor Alter nicht.“

 

Letztens sagte ein über 80jähriger, also greiser Trotzkopf beim Halbmarathon nach 8 Kilometern der ihm auflauernden Reporterin: “Ich liege voll in der Zeit, es geht alles wunderbar“. – Als ob er nichts ahnte von der krass zunehmenden Langsamkeit auf den nächsten 8 Kilometern und ihrer Vervielfachung auf den letzten 5.

 

Die mir zugedachte Zeit treu zu verwalten, in jeder Phase des Laufes zu wissen, wo ich bin und mich einzustellen auf die Bewältigung des noch vor mir liegenden Weges, meine Kräfte innerhalb der zugeteilten Zeit angemessen zu verwirklichen: das ist das Lernziel of the Pilgrims Progress.

 

Meiner wunderbaren Frau F. habe ich dafür ein Denkmal gesetzt, tief in mir. Sie konnte übrigens einstmals tatsächlich und im Sinne des Wortes laufen, unzählige Male mit ihrem Frauenlauftreff in der Kirchengemeinde, neben mir im Wald und auf Feldwegen und auf der Bahn oder bei ihren Avon-Läufen im Tiergarten.

 

Aber sie konnte mehr noch. Sie konnte das Lebens-Lern-Ziel erreichen, schon zu Lebenszeiten. Am Ende wartete sie nur, ich ahnte kaum, worauf. Als alles gut war und die Zeit erfüllt, da lief sie ins Ziel, ohne Hektik, gelassen und befriedet. Willig und frei, freiwillig ging sie durch den Vorhang und über die Schwelle. Ich schaue ihr hinterher, mein Restleben lang. Wie hat sie das gemacht, das möchte ich auch können, für mich selber und den anderen zugute.

 

Ohne sie, meine Frau F. war ich nie hier in der Blauen Kirche, seit 20 Jahren. Niemand hat mein Marathon-Leben so lückenlos begleitet, so zugewendet und so kritisch wie sie. Sie gehört zur mir, ich gehöre ihr. Aber auch euch will ich nahe bleiben, solange das vernünftig und annehmbar ist. Nach zwei Jahrzehnten, darf ich das mal so aussprechen.

 

„Du aber, du wirst morgen laufen können, ohne müde zu werden, wenn du einer einfachen Regel folgst: Laufe mit deinem Atem, laufe ihm nicht davon. Du musst laufen, um heraus zu bekommen, was das heißt.“

 

Wohl bekomm’s. Amen.

 


 
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