Meine Gedanken sind am letzten September-Wochenende immer in Berlin. Dort lief ich 2002 nicht nur meinen ersten Marathon, sondern zum ersten Mal überhaupt mit Startnummer und Chip. Das war so geplant. Danach bin ich oft den Berlin Marathon gelaufen, so auch 2012, als sich meine Premiere zum 10. Mal jährte. Es war mein letzter Marathon. Das war so nicht geplant. New York stand noch auf meinem Terminplan. Der Marathon sollte 2012 an meinem Geburtstag sein. Wer erinnert sich? Die Veranstaltung wurde wegen Hurrikan Sandy abgesagt. Florenz stand ebenfalls noch auf meiner Liste, dazu hatte ich aber keine Lust mehr. Dann kamen Verletzungen und Krankheit – das war’s dann.
Ach ja, kleine Episode am Rande. In Berlin lief ich 2012 in die Dreharbeiten von Didi Hallervordens Film „Sein letztes Rennen“. Ich hatte die Botschaft natürlich nicht verstanden. Aber lest selber:
Nach einer schlaflosen Nacht und ein paar Bissen vom üppigen Frühstückbuffet in einem First-Class-Hotel am Kurfürstendamm muss ich raus an die frische Luft. Gleich soll ich 42 km laufen. Nur noch 120 Minuten bis zum Start und ich habe keine Ahnung, wie ich es pünktlich schaffen soll. Als ich vor die Tür trete, sehe ich Unmengen Läufer mit buntbedruckten weißen Plastiktüten am langen Arm oder locker geschultert. Alle zieht es in eine Richtung. Ich bin gerettet.
So war das am 29. September 2002, also vor genau 10 Jahren, bei meinem ersten Marathon. In Memoriam habe ich mich nur einen Steinwurf von jenem Hotel eingemietet, das mir seinerzeit zugewiesen wurde, weil die gebuchte Herberge überbelegt war. Längst würde ich den Weg zum Marathonstart mit verbundenen Augen finden. Ich wähle nicht den kürzesten, ich nehme den schönsten und der beginnt am Hauptbahnhof.
Als jemand, der eigentlich keine Enge mag, ziehen mich am letzten September-Wochenende die Massen magisch an. Der Bahnhof quellt über. An keinem anderen Tag werden innerhalb einer Stunde so viele Menschen durch den Glaspalast geschleust, werden so viele Becher Kaffee und so viele Croissants verkauft, wie am Marathontag.
Heute wird nicht regiert. Zumindest nicht im Kanzleramt. Nur die Securities haben Dienst, drinnen brennt kein Licht. Die Läuferschlange ist unüberschaubar. Ab hier Zutritt nur für Läuferinnen und Läufer. Es wird streng kontrolliert. Plastikumhänge werden ausgegeben, denn man sollte seine Klamotten frühzeitig zur Aufbewahrung geben. Alles ist ausgeschildert. Wer lesen kann, hat kein Problem.
Es ist frisch, einstellig würde ich behaupten, zumindest im Schatten. Und unser Weg liegt im Schatten. An der Kongresshalle, auch schwangere Auster genannt, lauern die ersten Fotografen auf ihre Opfer. „Zeig mir Deine Startnummer“, dann macht es klick.
„Ah, marathon4you ist auch am Start. Bist Du der Klaus, Klaus Duwe?“ „Ja!“ „Schön Dich zu sehen.“ „Ich freue mich auf Deinen Bericht.“ „Mach schöne Bilder.“ So oder so ähnlich verlaufen etliche kurze Gespräche, ehe ich mich an der Startlinie unter die Profi-Kollegen mische.
Welch ein Unterschied zu 2002. Unter 32.752 Läuferinnen und Läufern bin auch ich, der Rookie aus der Provinz. Kein Mensch kümmert sich um den einsamen und verunsicherten Runner, keiner kennt mich und ich kenne niemanden. Woher soll von denen auch einen kennen, der zum ersten Mal einen Chip am Laufschuh hat? Eine Stunde vor dem Start gehe ich in dem mir zugewiesenen Block auf und ab, setze mich hin, muss wieder raus aus dem Block, in die Büsche und wieder zurück.
Auf einer Aktionsbühne animieren hübsche Mädels die Läufer zu Aufwärmübungen. Der Ketchup-Song übertönt den ohnehin beträchtlichen Geräuschpegel auf der Straße des 17. Juni. Seit jenem Sonntagmorgen geht mir dieses läppische Lied nicht aus dem Kopf. So, als hätten die das Ding eine Stunde ununterbrochen gespielt und unlöschbar auf meiner Festplatte gespeichert. Irgendwann kommt es mir während eines Laufes immer wieder in den Sinn: „Aserejé ja de jé de jebe tu de jebere, seibiunouva, majavi an de bugui an de buididpí“.
Link zum Ketchup-Song auf youtube
Eine Aktionsbühne gibt es längst nicht mehr in den Startblocks und der Ketchup-Song ist samt seiner attraktiven Interpretinnen in der Versenkung verschwunden. Aber ich habe ihn ja im Kopf … Und langweilig ist es trotzdem nicht. Ein Däne erinnert mich daran, dass wir in Brixen beim Dolomiten Marathon Kontakt hatten, eine Engländerin spricht mich auf den London Marathon an, weil ich offenbar ein Bild von ihr gemacht hatte, ein Italiener fragt mich, ob ich wieder nach Florenz komme.
Die Handbiker starten, die Top-Athleten werden vorgestellt und die Promis auf der Ehrentribüne. Außer dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (der will nur wieder gewählt werden) und Olympiasieger Robert Harting, hat jeder was zu verkaufen: Til Schweiger einen neuen Film und Didi Hallervorden ist gerade dabei, einen zu drehen. Immerhin handelt der von einem Marathonläufer.
Der erste Kilometer ist auch ohne euphorisierende Eröffnungshymne gleich der Hammer. Es scheint, als habe jeder Läufer mindestens zwei Fans auf dem kurzen Stück bis zur Siegessäule am Großen Stern, die rechts und links umlaufen wird. Die Straße zum Charlottenburger Tor ist mehrspurig und nimmt das riesige Läuferfeld problemlos auf. Anders sieht es aus, als wir am Ernst-Reuter-Platz die Straße des 17. Juni verlassen. Jetzt gibt es auch schon mal Körperkontakt, aber die Strategie, die Läuferinnen und Läufer in mehreren Blocks ins Rennen zu schicken bewährt sich. Staus gibt es hier keine mehr.
Hinter dicken, hohen Mauern und Stacheldraht liegt die JVA und das Kriminalgericht Moabit, 1881 erbaut und heute unter Denkmalschutz. Prominenteste Insassen in jüngerer Zeit waren die beiden DDR-Erichs (Honecker und Mielke). Witzig, dass mich in der Läufermaße, noch dazu von der anderen Straßenseite aus, Andrea entdeckt und ich sie. Was ein auffallendes Shirt und ein lautes Organ so alles bewirkt.
Überhaupt nicht witzig fand Helmut Kohl, 16 Jahre unser Bundeskanzler, dass in das Kanzleramt, das er gegen viele Widerstände durchsetzte (immerhin ist es 8mal so groß wie das Weiße Haus in Washington), nach seiner Fertigstellung 2001 Gerhard Schröder von der SPD dort einzog und sich wohl fühlte. Mit der Ruhe ist jetzt dort vorbei, denn gegen die Trommler von Wasabi Daiko sind alle Schallschutzmaßnahmen wirkungslos. Die Schläge gehen durch Mark und Bein. Ein paar Fotos und dann nichts wie weg.
Die gläserne Kuppel des Reichstages glänzt im Sonnenlicht. Vor der Schweizer Botschaft klingt es wie auf der Eiger-Moräne. Ein Alphorn haben die Eidgenossen aber wohlweislich nicht dabei. Mit dem Rieseninstrument würden sie hier keinen Platz finden. Die Straße steigt etwas an, was aber keiner merkt. Es sind ja erst 7 km gelaufen und der Adrenalinspiegel noch auf Höchststand. Kommt der überhaupt mal runter? Am Friedrichstadt Palast geht es schon wieder zu wie in einer Sportarena. Es ist der Wahnsinn.
Der Mann mit Schiebermütze und Laierkasten darf nicht fehlen und ein Foto von ihm auch nicht. Er klopft mir auf die Schulter. Die nächste Gruppe hat Jazz im Repertoire. Auch dort falle ich mit meiner Fototätigkeit auf. „Dass Du dafür Zeit hast?“ fragt der Gitarrist. Auf solche Fragen bin ich mittlerweile gut vorbereitet: „Wer viele Talente hat, darf sich nicht auf eine Sache beschränken.“
Genau bei km 11 biegen wir links in die Karl-Marx-Allee ein. In dem ehemaligen Prachtbau, dessen Fassade ein Relief ziert, auf dem offenbar an sowjetische Heldentaten erinnert wird, residiert heute Europas größter Second-Hand-Laden.
Hier zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz wollten die DDR-Häuptlinge nach dem Motto „Auferstanden aus Ruinen“ in den 1950er Jahren zeigen was sie so alles drauf haben. Die Straße wurde auf bis zu 90 m verbreitert und rechts und links mit monumentalen, sieben- bis neungeschossigen und bis zu 300 Meter langen Blöcken bebaut. In den unteren Geschossen der Arbeiterpaläste gab es Läden und Gaststätten, in den oberen für damalige Verhältnisse recht komfortable Wohnungen. Ausgerechnet hier kam es zu ersten Protesten gegen die Erhöhung von Arbeitsnormen, die schließlich zum Aufstand am 17. Juni 1953 führte, der mithilfe von 20.000 Sowjetsoldaten blutig niedergeschlagen wurde.
Vom Alexanderplatz her grüßt der Fernsehturm, auch so ein Prestigeobjekt aus Zeiten des Kalten Krieges, aber nicht nur. Walter Ulbricht persönlich entschied über den Bau der Anlage, mit der man endlich landesweit senden konnte. Dass der Bau mit 368 m Höhe alles in Deutschland übertreffen sollte, war aber mindestens genauso wichtig. „Imponierkeule“ und „Protzstängel“ nannten die Berliner das zum Wahrzeichen gewordene Bauwerk. Heute ist es einfach nur der Fernsehturm, der wegen seiner Aussichtsterrasse auf 203 m Höhe jährlich über 1 Mio. Touris anzieht.
Alles ist hier monumental, auch der Brunnen am Strausberger Platz (km 12), der in einer großen, ovalen Grünfläche liegt. Kaum haben wir ihn umrundet , gibt es Bauwerke aus jüngerer Zeit zu bestaunen. Mehr Design-Objekt als Industriebau sind das Heizkraftwerk von Vattenfall und die Trias-Towers an der Michaelsbrücke, in denen unter anderem die Berliner Verkehrsbetriebe residieren. Sind das nicht die, die den Marathonis am Marathontag die Freifahrt verweigern, obwohl sie mit den 40.000 Teilnehmern am Wochenende ein ansehnliches zusätzliches Geschäft machen?
Fetzige Musik bringt mich auf andere Gedanken und die am Straßenrand abgestellten Fahrräder sowieso. Aber bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich als ziemlich ausgeschlachtet, oder, falls fahrbereit, als gut gesichert. Also weiter zum Kotti, dem Kottbusser Tor (km 15). Hier wird es meinem Freund Mike gut gefallen. Er hat auch Jubiläum. Seit 25 Jahren lebt er in der Türkei und hier klingt es heute wie in Istanbul. Es scheint, als wollten die Türken den Berlinern mal zeigen, wie man feiert. Das nächste Mal nehme ich mir vor, die Döner-Buden zu zählen. Ich wette, es sind mehr als in der Döner-Straße genannten Palmenallee in Antalya.
Natürlich wollte ich bei meinem ersten Marathon vor 10 Jahren „nur ankommen.“ Fragte mich jemand, welche Zeit ich anstrebe, sagte ich „unter 5 Stunden“ und meinte aber unter 4 ½. Nach einem Drittel der Strecke rechnete ich mir aus, es auch unter 4 Stunden zu schaffen. Das war nämlich mein Traum. Man muss sich das auch vorstellen. Da rennt einer, den man bis dahin mit keinerlei Sport in Verbindung gebracht hat, durch die Stadt, wird dafür bejubelt, beklatscht und angefeuert. Klar, dass der sich einbildet, der Größte zu sein und das auch zeigen will. Lassen wir ihn rennen, ihr erfahrt schon noch, wie es ausgegangen ist.
Jedes Mal denke ich, es seien noch mehr Zuschauer an der Strecke, die Stimmung sei noch besser, als im Jahr zuvor. Es ist einfach der Wahnsinn. Natürlich trägt das phantastische Wetter dazu bei. 16 Grad soll es maximal warm werden und das bei strahlendem Sonnenschein. Zum Niederknien, denkt sich auch der Elektroman und zeigt vollen Einsatz. Die Marathonis und die Zuschauer sind von der Band begeistert.
Neukölln, Hasenheide, km 17: Beim Roland ist nur der Filzhut echt. Seine „Lederne“ ist läuferfreundlich aus Funktionsmaterial und der Bierkrug aus aufgeblasenem Plastik und dazu noch leer. Nur kein überflüssiges Gewicht, heißt die Devise. Nur nicht nachlassen denkt der Trommler auf dem Grünstreifen und auch Blackmail geben ihr Bestes. Und die Zuschauer erst. Bei der Kirche am Südstern sind sie wieder in absoluter Höchstform. Probleme hat nur der Franz. Ihm hat man einen Stuhl gebracht, damit er seine Füße verpflastern kann. Die Zehenschuhe waren wohl doch nicht das Richtige. Ich denke, er läuft barfuß weiter. Es sind aber noch fast 23 km …
Vorbei an der St. Bonifatiuskirche kommen wir in die Yorckstraße, die einst von 45 Eisenbahnbrücken überspannt wurde. Bevor der Denkmalschutz einschritt, waren schon einige Brücken abgerissen, denn nur noch 10 werden für den Bahnbetrieb gebraucht. Inzwischen ist die eine oder andere restauriert, über weitere wird gestritten. Mal sehen, ob es nächstes Jahr Neues gibt.
„Britain is great!“ rufe ich den Fans mit dem Union Jack auf den Hüten zu und bekomme den erhofften Applaus. Eine Läuferin vor mir trägt an ihrem Gürtel gleich 5 Getränkeflaschen mit ansehnlichem Fassungsvermögen mit sich. Hat dem Mädel keiner gesagt, dass fast 6000 Helferinnen und Helfer auch dafür im Einsatz sind, um an 16 Getränke- und Verpflegungsstellen für das Wohl der Marathonis zu sorgen? Dass nicht nur 240.000 Liter Wasser, sondern auch Tee (angewärmt!) und Power-Drinks ausgeschenkt werden? Dass es 200.000 Äpfel und Bananen gibt? Und dazu so viel Gel, dass man den Rest des Läuferjahres damit versorgt ist? Ja, den Nörglern gehen langsam die Argumente aus.
„Mach schöne Bilder“, wurde mir ja vor dem Start angeraten. Ich bemühe mich. Aber das kostet Zeit. Deshalb schaue ich bei der Halbdistanz lieber nicht zur Uhr. Vor 10 Jahren, bei meinem Ersten, tat ich das andauernd. Einen Fotoapparat hatte ich ja nicht dabei. Auf die Idee wäre ich überhaupt nicht gekommen. Außerdem waren die digitalen Dinger noch ziemlich unhandlich und die Akkus hielten nicht lange durch. Es gibt deshalb bis auf zwei Fotos des offiziellen Fotografen keine Bilddokumente von dem historischen Lauf. Meine Frau stand zwar im Ziel mit einem solchen Gerät und begann immer zu knipsen, wenn sie glaubte, mich zu sehen. Als ich dann endlich tatsächlich auftauchte und die Arme hochriss, war der Akku längst leer. Mann, Mann, sind das Zeiten heute. Der Chip fasst 1000 Bilder in hoher Auflösung und mit einem Akku-Wechsel komme ich gut hin.
„Ein Kenianer hat gewonnen!“ weiß mir ein Zuschauer zu berichten. Welcher? Ist er Weltrekord gelaufen? Der Fan ist überfordert. Ich setze meinen Fun-Run durch die Hauptstadt fort und bekomme nicht weniger Applaus, als der Kenianer, der gewonnen hat. Das Mädel da vorne in der Schwarzwälder Tracht mit dem Bollenhut ist garantiert nicht echt. Das ist bestimmt der Daniel, den ich letzte Woche schon beim Baden-Marathon in Karlsruhe vor der Linse hatte. Stimmt, Daumen hoch, er lacht und freut sich auf das Bild.
Der nächste Schnappschuss hätte mir große Freude gemacht. Ein Dackel steht am Straßenrand und schaut den Läufern nach. Ja, er schüttelt mit dem Kopf. Gerade habe ich mich in Position gebracht, da wendet er sich von den Sportlern ab. „Ob er noch einmal in die andere Richtung schaut?“, frage ich sein Frauchen. Sie redet ihm zu. Vergeblich. „Ist halt ein Dackel“, sage ich und laufe weiter. Der Bärtige kennt mit seinem aufgeblasenen Delphin diese Probleme nicht.
Meine liebsten Fans sind ja die Holländer. Man erkennt sie gleich an ihrem Outfit, sie sind immer lustig und mich mögen sie auch, weil sie mich wegen meiner Firmenfarbe für einen der ihren halten. Solange ich davon profitiere, kläre ich den Irrtum auch nicht auf. Auch sehr lustig und noch viel zahlreicher sind allerdings die Dänen. Man sagt, dass in Berlin mehr Dänen am Start sind als beim Marathon in Kopenhagen.
So, jetzt gibt es wieder Historisches. Wir sind am Schöneberger Rathaus (km 24), einst Abgeordnetenhaus und Sitz des Regierenden Bürgermeisters. Es war der 26. Juni 1963, als John F. Kennedy hier seine berühmte Rede hielt und unter dem Jubel der Bevölkerung bekannte: „Ich bin ein Berliner!“ Drei Tage nach seiner Ermordung benannte man den Platz vor dem Rathaus nach dem amerikanischen Präsidenten.
Höllenlärm dann am Innsbrucker Platz, denn unter der S-Bahn-Brücke werden am Marathontag traditionell alte Ölfässer mit Schlagwerkzeugen bearbeitet. Verantwortlich dafür sind die Leute von groove e.V., bei denen man Trommeln in den verschiedensten Arten erlernen kann. Für Nachwuchs ist also gesorgt.
Gleich zu Beginn der Hauptstraße steht rechts ein unscheinbares Haus mit kleinen Balkons und Erkern. Immer wenn Marathon ist, steigt auf dem Balkon im dritten Stock rechts eine lautstarke Girls-Party. Die Brüstung ist mit Streckenschildern der vergangenen Jahre geschmückt, die Lautsprecher kurz vor dem Exitus und die Mädels in Höchstform. Die Mutter scheint auch diesmal außer Haus zu sein, denn auf dem Leintuch ist zu lesen: „Zum 10. Mal dabei!!! Kleine Mama ganz gross“.
Vom Feiern kann ich nicht genug kriegen, die Kilometer würden mir reichen. Aber es sind noch 17 übrig. Und die haben es in sich. In Friedenau (Kirche Zum Guten Hirten, km 25), Südwestkorso, überall wird gefeiert, die Lentzeallee habe ich noch nie so bevölkert gesehen. Und der Wilde Eber (km 28) kommt ja erst. Dort werden die Läufer traditionell empfangen, als wären sie im Ziel. Wahnsinn. Nur die Tanzgirls sind ein bisschen zickig und wollen für ein Foto nicht näher an die Läufer ran. Mensch, die wollen doch nur laufen. Da sind die drei jungen Südamerikanerinnen aber aufgeschlossener. Sie tanzen ausgelassen zu heimatlichen Klängen.
Hatte ich vor 10 Jahren auch Augen für so was? Ich glaube nicht. Der Mann mit dem Hammer holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück und ich kehrte zu meiner ursprünglichen Zeitplanung zurück. Nichts mehr sub 4, vielleicht 4:15.
Ich sehe etliche Kameraden bei Dehnübungen, andere machen ungeniert Gehpausen. Da nützen auch noch so gut gemeinten und lautstarken Anfeuerungen nicht. Auch meine Geheinlagen nach einem Fotostopp oder einer Versorgungsstelle werden länger.
Hohenzollerndamm, km 30, wenig später grüßt „von oben herab“ Vanman Jochen und verspricht den Fans einen tollen Bericht und viele Bilder auf marathon4you. Hoffentlich enttäusche ich sie nicht. Endlich Kurfürstendamm, Berlins etwas verblasster Prachtboulevard. Keine Taxis, keine Busse, keine Autos. Die Straße gehört den Läufern. Wie ich das genieße. An der Gedächtniskirche wird noch immer hinter massiven Verkleidungen saniert und restauriert, und das noch bis Mitte nächstes Jahres. Ich denke, das kriegen die Berliner hin. Einen Flughafen zu bauen ist da schon schwieriger.
Gleich kommt das KaDeWe, eines der nobelsten Kaufhäuser auf dem Kontinent. Vor 10 Jahren war ich fast genau zur gleichen Zeit hier wie heute. Mit dem Unterschied, dass damals das Ziel hier in der Tauentzienstraße war. Heute habe ich noch 7 km zu laufen. 4:21 war meine erste offiziell ermittelte Laufzeit für einen Marathon. Mann, taten mir die Knochen weh. Aber meinen Chip wollte ich trotzdem nicht abgeben. „Den brauche ich jetzt öfters“, sagte ich meiner Frau. Sie traute mir nicht, gab ihn ab und steckte die 25 Euro ein.
Ich machte es aber wahr. Noch im gleichen Jahr wollte ich in Frankfurt laufen, ließ es aber wegen des Sturmes sein. Aber im folgenden Frühjahr konnte ich es nicht abwarten und startete im März in Rom und einen Monat später in Padua. Dabei blieb ich erstmals unter 4 Stunden und meine Frau schenkte mir einen Championchip.
Ich bin so ein Typ, der gerne auf Nummer sicher geht und sich informiert, bevor er eine neue Aufgabe angeht. Auch beim Marathon. Aber so viel ich im Internet auch suchte, ich fand nur Bilder und Berichte von den Siegern. Keiner sagte mir, wie die Strecke ist, auf was man achten muss, was es zu sehen gibt usw. Wie wunderbar der Veranstalter seine Strecke findet und was ein Reporter vom Streckenrand aus beobachtet hat, interessierte mich nicht. Ich wollte wissen, wie es ein Läufer sieht. Okay, sagte ich, wenn es das nicht gibt, dann mache ich das. Denn eines wusste ich genau: Ich bin kein Exote. Was ich suche, suchen andere auch.
Ich kratzte mein Erspartes zusammen und ging mit meinen Vorstellungen und Ideen zu einem Programmierer. Das Ergebnis kennt ihr. Inzwischen ist marathon4you eine Erfolgsgeschichte, die man sich kitschiger nicht ausdenken kann.
Und glaubt mir, die Geschichte geht weiter. Wie dieser Marathon. Noch 4 Kilometer. Über den Potsdamer Platz muss man einfach gelaufen sein. Zuvor gelingt mir noch ein schöner Schnappschuss mit einer Läuferin im Shirt der Bahn (Bahn frei!) neben dem Bahntower. Jetzt fehlt nur noch ein Bild mit einem BMW vor dem Quartier Daimler. Vor dem Krieg war der Potsdamer Platz einer der belebtesten Plätz in Europa, danach Niemandsland mit der Mauer. Heute zählt das nach 1990 auf alten Grundrissen neu bebaute Gebiet wieder zu den Attraktionen der Stadt. Gerade ist ein neues Shopping Center im Bau, das alles andere in den Schatten stellen soll.
Bundesrat, Leipziger Straße, mitten auf der Strecke Fernsehkameras. Nanu, haben die plötzlich ein Herz für Hobbyläufer? Kann nicht sein. Ich schaue nicht genauer hin und laufe weiter. Dort, wo die Feuerwehr eine Dusche aufgebaut hat, lauere ich mit meinem Fotoapparat auf ein Opfer.
Kaum einer tut mir den Gefallen und läuft in den Wasserstrahl. Dann kommt der Mann mit weißem Bart. Unerschrocken lässt er sich abduschen. Aha, kein Wunder – eine Ecke weiter wird er von hilfreichen Händen abgetrocknet. Jetzt erst sehe ich, es ist Didi Hallervorden, der für seinen neuen Film „Sein letztes Rennen“ vor der Kamera steht. In der fiktiven Geschichte spielt Hallervorden einen ehemaligen Marathonläufer, der sich im Altersheim langweilt und anfängt, für den Berlin Marathon zu trainieren, den er gewinnen will. Ende nächsten Jahres soll der Film in die Kinos kommen.
Gleich um die Ecke ist der Gendarmenmarkt mit dem Konzerthaus und dem Schiller-Denkmal zwischen dem Deutschen und dem Französischen Dom. Kenner sagen, es sei einer der schönsten Plätze in Berlin.
Unter den Linden – wegen großer Baustellen ist die Prachtstraße zurzeit gar nicht fotogen. Ich konzentriere mich auf das was vor mir liegt: das Brandenburger Tor. Eine Läuferin seufzt und wischt sich Tränen aus den Augen. Auch hier vermute ich mehr Zuschauer als jemals zuvor. Und das nach 5 Stunden! Die Berliner spinnen. Verrückt, was hier abgeht. Pariser Platz, links das Adlon, Herberge der oberen Zehntausend. Dann läuft man durch das Tor, das wie kein anderes in Deutschland Geschichte schrieb. 1990, wenige Tage vor der deutschen Wiedervereinigung, führte der Berlin Marathon erstmals durch das Brandenburger Tor. 2003 wurde dann die Strecke so geändert, dass Start und Ziel auf der Straße des 17. Juni sind man durch das Brandenburger Tor ins Ziel läuft.
Ich will mal wieder nicht von der Strecke. Ich könnte 100 Bilder machen und die einmalige Atmosphäre genießen. Die offiziellen Fotografen schauen schon böse. Also laufe ich die letzten 200 m ins Ziel und freue mich. Nicht alleine über dieses Finish. Ich freue mich über 10 unvergessliche Jahre mit phantastischen Erlebnissen, vielen, vielen Bekanntschaften, Freunden und Wegbegleitern. Ich freue mich über ein neues Leben, das vor genau 10 Jahren begann. Und ich danke allen, die mich in diesen 10 Jahren begleitet, unterstützt und ermutigt haben. Ich freue mich auf die nächsten 10 Jahre.