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Laufberichte

Es kribbelt wieder

 

Ein Tag für die Geschichtsbücher - So beginnt die Pressemitteilung vom Veranstalter SCC Events zum diesjährigen Berlin-Marathon. Ein Frauen-Weltrekord, ein deutscher Rekord, der schnellste Marathon aller Zeiten, ein Seriensieger, Weltrekord bei den Rennrollstuhlfahrerinnen, da drängen sich Superlative auf. Für mich ist der Berlin-Marathon auch: Mein erster Marathon, meine meistgelaufene Marathonstrecke und mein aufregendster, denn bei keinem anderen Lauf kribbelt es bei mir so wie in Berlin.

Zum siebenundzwanzigsten Mal (nach meinem ersten Start hier habe ich keinen Berlin-Marathon ausgelassen) mache ich mich nun schon auf zum Weg zur „MARATHON EXPO“. Längst keine reine Startnummernausgabe mehr wie zu Zeiten des ersten Berlin-Marathon im Berliner Grunewald 1974 mit damals knapp 300 Teilnehmern, sondern eine Laufsportartikel-Messe, seit einigen Jahren in den Hangars des ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof untergebracht. Dieser ist bekannt als Teil der „Berliner Luftbrücke“, über die die Alliierten nach dem zweiten Weltkrieg Berlin während der Blockade durch die Sowjets versorgten. Daran erinnert uns eine kleine Ausstellung, die wir auf dem Weg zur EXPO passieren. In der alten Empfangshalle können wir schon mal auf großen Plakaten die morgen zu laufende Strecke studieren, die ich mit geschlossenen Augen laufen könnte. Dann geht es die Treppe hinunter zum Flugfeld, alte Propellerflugzeuge erinnern als Ausstellungsstücke an die Historie.

 

 

Die EXPO ist perfekt organisiert, schon vor den Hangars heißt es „Läufer rechts“, „Angehörige links“. Wir müssen durch eine Schleuse, unseren Startpass und Lichtbildausweis vorzeigend, und erhalten dann ein Armbändchen, welches uns morgen im Startbereich den Zutritt garantiert. Danach geht es zunächst außen an den Hangars entlang, eine gute Möglichkeit, das gewaltige Flughafen-Bauwerk noch einmal zu bestaunen.

Der Hauptsponsor, ein Automobilhersteller, hat seine Flotte der Führungsfahrzeuge positioniert, natürlich E-Autos. Erst am letzten Hangar dürfen wir in die Hallen. Das ist keine Schikane, sondern wie alles andere beim Berlin Marathon gut durchdacht, denn so werden die Massen durch die Hallen gelenkt: Außen hin, innen zurück. In der ersten Halle bekommen wir unsere Startbeutel mit Startnummern ausgehändigt, Jubilees (dazu gehöre ich) erhalten eine grüne Nummer. In den nächsten Hallen dann die Verkaufsmesse, die ich nicht ohne neue Schuhe verlasse, wie jedes Jahr. OEM, Hamburg-Marathon, Rennsteiglauf und andere Events werben um Teilnehmer für ihre Veranstaltungen 2024.

Zum Abschluss führt mich der Weg zum Jubilee-Club. Hierzu darf sich zählen, wer 10-mal in Berlin gefinisht hat. Am Renntag ist dies zu erkennen an einer Rückennummer, auf der zu sehen ist, wie oft der Läufer schon dabei war. Beim Club gibt es Kaffee und Kuchen, man trifft sich mit neuen oder guten alten Bekannten, wie Michel, dem Franzosen mit seinem markanten blau-weiß-rotem Kostüm. An einer Wand ein Plakat mit allen Namen der Mitglieder, ein beliebtes Fotomotiv, auch ich finde mich verewigt.

 

Ansturm der Massen

 

Am großen Tag reisen viele Teilnehmer wie auch Andreas und ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln an, die Startnummer gilt als Fahrkarte. Schon beim Verlassen der S-Bahn befinden wir uns in einer Menschenmenge, Teil der 47912 Laufverrückten aus 156 Nationen, die sich angemeldet haben.

Wir passieren das Brandenburger Tor und werfen schon mal einen Blick auf die Zielgerade auf der Straße des 17. Juni, bevor es zur Wiese vor dem Reichstagsgebäude geht. Dort passieren wir eine Schleuse, wo wir Armband und Startnummer zeigen müssen, nur Teilnehmer sind auf dem weiträumig abgesperrten Startgelände zugelassen.

 

 

Auch hier ist alles perfekt organisiert, Schilder und Helfer weisen den Weg zu den Startbeutelabgaben, Toiletten und Zugang zum Start. Trotz des Gewusels sehe und treffe ich alte Bekannte, bevor ich mich selbst zur Startaufstellung begebe. Start ist um 9:15, aber nur für die ersten Startblocks. Ich starte erst mit der zweiten Welle um 9:45. Die vierte und letzte gar erst gegen 10:30, da ist Eliud (Kipchoge) schon zwei Drittel der Strecke gelaufen.

Die Wartezeit wird uns vertrieben durch Vorstellung von Freizeitläufern aus vielen Nationen auf großen Displays. Auch Bilder aus den Hubschraubern auf das imposante Teilnehmerfeld oder vom Starttor, welches zum Zeichen der Toleranz in Regenbogenfarben leuchtet, werden gezeigt. Noch ist es recht kühl bei 12 Grad, aber für später wurde perfektes Marathonwetter vorhergesagt: maximal 19 Grad, trocken und wenig Wind. Zum Countdown heißt es Arme hoch – „left, right - left, right“ dirigiert uns der Moderator.

 

Tiergarten, Moabit und Mitte

 

Dann der (zweite) Startschuss und die Reise durch die Berliner Stadtbezirke könnte beginnen. Aber noch immer gilt es zu warten, denn vor mir im Block E stehen noch einige Tausend Läufer, die erst die Startlinie passieren müssen, bevor es für mich auf die Sightseeing-Tour durch Berlin geht. Während der Wartezeit fallen mir zwei kostümierte Läufer im historischen Badedress und mit Schwimmreifen auf. Eigentlich gibt es ja Brücken über die Spree und den Landwehrkanal und regnen soll es auch nicht...

Auf der breiten Straße des 17. Juni, welche an den Arbeiteraufstand 1953 in der ehemaligen DDR erinnert, kann sich das Teilnehmerfeld nach dem Start erst einmal entzerren. Wir durchlaufen den „Tiergarten“ und passieren die „Gold-Else“. So nennen die Berliner die Siegessäule, die ursprünglich auf dem Königsplatz, dem Platz vor dem Reichstagsgebäude, heute Platz der Republik, stand. Weiter geht’s vorbei am Ernst-Reuter-Platz, benannt nach dem Berliner Oberbürgermeister, der 1948 mit dem Appell  „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“ um Hilfe für die blockierte Stadt rief und die Berliner Bevölkerung zum Durchhalten während der Luftbrücke aufrief. 

Auf den nächsten Kilometern durch den Stadtteil Moabit können wir uns nach der Starteuphorie einlaufen, bis wir bei km 7 auf der Spreebrücke von der ersten Drum-Band eingeheizt werden. Im Laufe des Tages erwarten uns noch Dutzende musikalische Darbietungen, so viel wie nirgendwo sonst.

 

 

An der „Bundeswaschmaschine“, so soll der Berliner Volksmund das tatsächlich an eine Waschmaschine erinnernde Bundeskanzleramt bezeichnen, ist wieder eine Mords-Stimmung. Dann kommt die einzig nennenswerte Steigung der Strecke, eine weitere Spreebrücke mit sicher 5 Meter Höhendifferenz. Insgesamt kommen vielleicht 30 Meter zusammen, der Berliner Marathon gilt als einer der flachsten der Welt. Ein Grund– neben dem fantastischen Publikum und der guten Organisation - für die Rekorde, die hier gelaufen werden.

Das darauffolgende Gefälle erlaubt mir ein Blick auf die Massen vor uns und auf den Friedrichsstadtpalast, ein Hauch von Paris, hier schwingt die angebliche längste „Girlreihe“ der Welt ihre Tanzbeine. Heute werden auch Beine geschwungen, Läuferbeine, in einer so langen Reihe, da dürfte jede Theaterbühne neidisch werden.

Ein Schild weist in Richtung „Unter den Linden“, aber bis dahin haben wir noch gut 33 km vor uns. Daher laufen wir in entgegengesetzter Richtung in die Torstraße und sind damit in „Mitte“ angekommen. Kurz nach km 9 die erste Verpflegungsstation (schon bei km 5 gab es die erste Wasserstation), hier können Eigenverpflegung, Wasser, Tee, Iso sowie Bananen und Äpfel aufgenommen werden. Von nun an folgen alle 2,5 Kilometer Wasser- und Verpflegungsstation im Wechsel.

 

Friedrichshain, Neukölln und Kreuzberg

 

Kostüme sind in Berlin häufig zu sehen, aber Frank ist in seiner Königsmontur mit Königsmantel, Krone, Zepter und Kugel schon ein besonderer Blickfang. Nur die Schuhe sind eindeutig nicht nach historischem Vorbild. Am Alexanderpatz grüßt der Fernsehturm, mit 368 m das höchste Gebäude Deutschlands und viele Zuschauer erwarten uns und ihre laufenden Angehörigen hier.

Nach einer längeren Geraden auf der breiten Karl-Marx-Allee, zu DDR-Zeichen Aufmarsch- und Demonstrationsort und der nächsten Getränkestation bei km 12, laufen wir wie auf einer Perlenkette aufgeschnürt in einem großen Kreis um den Straußberger Platz in Friedrichshain herum. Über die Spree geht es weiter zum Moritzplatz und kurz vor dem „Kotti“ (Platz am Kottbusser Tor) gibt es bei km 15 die nächste Verpflegung.

 

 

Eliud müsste nun im Ziel sein, aber niemand ruft vom Straßenrand, dass es einen Weltrekord gebe, wie schon so oft zuvor. Hat er es nicht geschafft? Wie wir später erfahren, hat er zwar zum fünften Mal gewonnen, aber diesmal eben nicht in Weltrekordzeit… muss ja auch nicht. Dafür hat die Äthopierin Tigist Assefa einen Fabel-Weltrekord aufgestellt – nun „besitzt“ der Berlin-Marathon beide Marathon-Weltrekorde!

Vor der imposanten Kirche am Südstern feuern uns bei km 18 griechische Fans an, wie es zuvor schon Schweizer, Dänen und Mexikaner taten. Nächstes Highlight sind die Yorckbrücken, dies sind zahlreiche Eisenbahnbrücken über die Yorckstraße im Gleisvorfeld des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Anhalter Bahnhofes. Inzwischen sind nur wenige der Brücken noch in Funktion, aber viele als Denkmal noch erhalten. Wir sind in Schöneberg angekommen und haben hier den Halbmarathon geschafft.

 

Schöneberg, Wilmersdorf und Charlottenburg

 

Vor dem Rathaus Schöneberg (Sitz des Westberliner Bürgermeister zu Zeiten der Teilung Deutschland), das wir rechts liegen lassen, sprach Kennedy nach dem Mauerbau 1963 die berühmten Worte: „Ich bin ein Berliner“. Nächste Etappe Innsbrucker Platz, km 24. Dort erwartet mich mein Sohn und eine Drumband unter der Autobahnbrücke. Unter der Brücke wirkt die Akustik besonders und der Drumband-Leader flippt förmlich aus, tanzt und springt. Am Ende wird er sicher auch einen Marathon hinter sich haben.

Kurz danach rechts oben, der Kenner weiß es schon, alle anderen hören es: Auf einem Balkon fette Boxen und verrückte Bewohner, die uns tanzend zuwinken, zum Dank winken wir zurück. Wie jedes Jahr …

Die Pacemaker für 4:00 Stunden (aus einem späteren Bock gestartet) ziehen an uns vorbei. Jetzt am Mittag wärmt die Sonne angenehm bei  etwa 19 Grad, immer wieder spenden uns die hohen Gründerzeithäuser oder kleine Wolken angenehmen Schatten.

Noch immer sind die Läufer auf den meist vierspurigen breiten Straßen im Pulk unterwegs und zahlreiche Zuschauer säumen unseren Weg. Nach der nächsten Verpflegung bei km 25 haben wir südwestlichen Wendepunkt der Strecke erreicht und biegen rechts auf eine imposante rote Backsteinkirche zu.

 

 

Dann geben uns die Dudelsackpfeiffer der „Berlin Thistle Pipes&Drums“ ein Ständchen, dieser Motivationsschub trägt uns zum Platz am „Wilden Eber“ bei km 28. Zwar ist außer einer Bronzeplastik kein Eber mehr zu sehen, aber „wild“ sind hier alle. Unter den Läufern ist der „Wilde Eber“ legendär, bei zwei Drittel der Strecke einer der Zuschauer-Hotspots mit Band und Cheer-Leader. So aufgeputscht bewegen wir uns durch die schöne schattige Rheinbabenallee zum Hohenzollerndamm.

Die nächsten Kilometer sind eine mentale Herausforderung, scheinbar endlos geradeaus.  Bei km 30 spüren viele den „Mann mit dem Hammer“ und wechseln ins Gehen. Aber auch hier ein buntes Potpourri an musikalischen Darbietungen. Blasorchester, rockige Musik, Saxophon-Solisten und Drumbands vertreiben uns die Zeit bis zum Fehrbelliner Platz (km 32) in Wilmersdorf, dem nächsten Zuschauer-Hotspot.

Dann erreichen wie die ehemalige Westberliner Flaniermeile, den Kurfürstendamm, oder wie der Berliner sagt, „Ku-Damm“. Heute nehmen wir weniger die edlen Shops wahr, sondern freuen uns über die Schatten spendenden Straßenbäume und die auch hier zahlreichen anfeuernden Passanten.

 

Charlottenburg, Mitte und Brandenburger Tor

 

An der markanten Ruine der im zweiten Weltkrieg zerstörten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche haben wir 35 km geschafft, können uns kurz hinter dem Wittenbergplatz mit seinem ebenso markanten U-Bahn-Stationsgebäude verpflegen. Weiter geht es am Nollendorf-Platz vorbei, auch hier Spektakel, es wird einfach keine Ruhe gegeben. Nur wenige Hundert Meter weiter schon wieder ein Hot-Spot, Potsdamer/Ecke-Bülow, bei nun km 37 wird das Finale eingeläutet.

Nicht mehr weit ist es bis zum Potsdamer Platz in der „neuen Mitte“ von Berlin. Schon von weitem sehen wir die imposanten Dach-Silhouetten. Das Areal um Potsdamer und Leipziger Platz wurde nach der Wende weitgehend alten Straßenzügen folgend neu aufgebaut, während der Teilung war es nur Brachland vor und auf dem Mauerstreifen. Heute wird es von Touristen gerne besucht und davon feuern uns auch viele an.

 

 

Wir passieren das Bundesratsgebäude, Sitz der Ländervertretung, aber nur wenige haben jetzt noch ein Auge dafür. Kurz nach km 40 folgt die letzte Verpflegungsstelle. Wie an allen Versorgungspunkten stehen große Müllcontainer bereit, ein daran angebrachtes Schild mit aufgemaltem Zielkreuz fordert den Spieltrieb ins uns auf: „Return Cups here“.

Ich treffe und laufe weiter Richtung Gendarmenmarkt, einer der zentralen Plätze in der alten Stadtmitte mit dem Deutschen und Französischen Dom und dem Konzerthaus. Trotz einer Baustelle auf dem Platz ein beeindruckender Anblick. Wenig später läutet das km 41-Schild den letzten Kilometer ein und dann geht es von Cheerleadern angefeuert auf die Zielgerade „Unter den Linden“. Spätestens hier geht (fast) keiner mehr.

 

Nach dem Marathon ist vor dem Marathon

 

Vor, am und hinter dem Brandenburger Tor (km 42) ist die Stimmung ohrenbetäubend, wir werden förmlich in Ziel geschrien. Auch beim 27igsten Mal keineswegs Routine für mich. Im Ziel nur nicht stehenbleiben heißt es, des Kreislaufes wegen und weil viele nachrücken, insgesamt 43.010! Auch hier perfekte Organisation: Medaillen, Schutzfolien, Getränke, After-Run-Verpflegungsbeutel erhalten wir nach und nach im Zielgelände.

 

 

Nach Abholung meines Kleiderbeutels schaue ich noch eine Weile beim Jubilee-Club-Stand zu. Hier erfolgt die Ehrung der neu aufgenommenen Mitglieder, die heute Ihren 10. Berlin-Marathon erfolgreich absolviert haben. Sicher an die 100 Läufer sind es dieses Jahr und sie müssen daher in einer langen Schlange auf die Ehrung warten, aber was macht das schon nach 10 Jahren und 421,95 Kilometern? Dann wird es Zeit, sich auf der Reichstagswiese auszuruhen.

Nächstes Jahr wird Jubiläum gefeiert, Ehrensache, dass ich bei der 50. Ausgabe dabei bin.

 


 
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